Blickwinkel verändern oder einmal hin und zurück …

aus OWEP 4/2016  •  von Marcin Wiatr

Dr. Marcin Wiatr (geb. 1975) stammt aus Gleiwitz (Gliwice), studierte Germanistik, deutsche Geschichte, Erziehungs- und Übersetzungswissenschaften an den Universitäten Oppeln, Kiel und Krakau. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Georg-Eckert-Instituts (Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig), wo er zu bildungspolitischen Prozessen und Minderheitenfragen in ostmitteleuropäischen Grenzregionen forscht.

Zusammenfassung

Jede Migrationsgeschichte ist äußerst individuell, vielschichtig und auch von manchen Spannungen nicht frei. Aber jeder Aufbruch in die Fremde verändert auch den Blickwinkel. Fast jeder Auswanderer kennt dabei das Dilemma: Weg für immer oder geht es irgendwann doch zurück? Wer Polen, insbesondere Oberschlesien, verlässt und nach Deutschland übersiedelt, kommt hier meist an, denn hier begegnet er Vertrautem. Selten entscheidet man sich dann für eine Rückkehr – es sei denn, man möchte seine Chancen nutzen, vom neuen Standort aus für seine Heimat etwas bewegen und dabei so manchen Blickwinkel verändern …

Immer wenn ich an meine noch relativ „junge“ Migrationsgeschichte denke, komme ich immer wieder auf Lev Nussimbaum zurück. Ich spüre, dass mich mit diesem deutschsprachigen Schriftsteller etwas verbindet. Die Breitengrade, unter denen wir das Licht der Welt erblickten, liegen zwar geografisch wie zeitlich weit voneinander entfernt. Ich bin 1975 im oberschlesischen Gleiwitz, dem seit 1945 polnischen Gliwice, geboren. Und dennoch kommt mir Lev irgendwie wie ein Seelenverwandter vor; ein Mensch des Ostens, der einfach nicht der 1905 in Baku geborene Jude sein wollte, sondern zwischen 1922 und 1936 ein bewegtes Leben als orientalischer Prinz in Berlin namens Essad Bey führte. Unter diesem Pseudonym machte er literarische Weltkarriere.1

Was verbindet mich mit Lev Nussimbaum?

Was also verbindet uns? Lev war ein wohlbehütetes Kind des wohlhabenden georgisch-jüdischen Öl-Industriellen Abraham Nussimbaum. Als Jugendlicher flüchtete er in die deutsche Kolonie Helenendorf (heute Göygöl in Aserbaidschan), nachdem 1920 die Bolschewiken Baku erobert und seine Heimat in Schutt und Asche gelegt hatten. Von dort ging es auf abenteuerlichen Wegen über Tiflis und das am Schwarzen Meer gelegene Batumi nach Istanbul, wenig später über Rom und Paris nach Berlin.

Ein solches Schicksal musste ich glücklicherweise nicht erleiden. Im Herbst 2009 habe ich meine Familie in ein Auto gepackt und bequem und guten Mutes über die Autobahn an Breslau (Wrocław) und Berlin vorbei nach Braunschweig gefahren, wo wir seitdem leben. Vertrieben hat mich niemand, es war mein – unser – gemeinsamer Entschluss, um neue berufliche Wege einzuschlagen. Wir sind nicht geflüchtet, wir wollten weg. Heute bin ich im Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung tätig.

Ist das, was uns verbindet, vielleicht das Östliche, das auf Lev Nussimbaum zeitlebens eine starke Anziehungskraft ausübte und dem er mit höchster Intensität verfiel? Auch ich bin dem Osten nicht abgeneigt, ganz im Gegenteil. Es zieht mich immer wieder dorthin, nach Oberschlesien, in die Beskiden und die Hohe Tatra. Und dennoch vermute ich, dass zwischen Lev und mir ein anderes geistiges Bindeglied besteht.

Die Oberschlesier, meinte der 1930 in Gleiwitz geborene Schriftsteller Horst Bienek, hat es schon immer nach Westen hingezogen. Die Arbeit dort war leichter und wurde besser bezahlt. Die Luft und Flüsse waren dort sauberer als in dieser dreckigen und verseuchten Industrieregion, wo man die Luft mit Händen greifen konnte, so verrußt war sie.

Was mich mit Essad Bey verbindet, ist also eher ein mulmiges Gefühl. Es ist die Sehnsucht nach Vertrautem in der Fremde. Und sie leitete sich vom Bewusstsein des Verlustes her. Meine Sehnsucht nach dem Westen verband sich mit einer früheren Zwangsmigration … in den Osten. Ein Schicksal, das abertausende Oberschlesier nach dem Zweiten Weltkrieg ereilt hatte. Es ist eine Geschichte, von der ich zwar erst spät erfuhr, die mich aber nie wirklich losließ und wohl auch den Weg nach Braunschweig wies, nicht zuletzt um an einem weltweit einmaligen Institut tätig zu sein, das selbstredend über Schulbücher den Blickwinkel verändern will.

Ein Rückblick

Ich weiß noch, wie in Sosnitza, einem Gleiwitzer Wohnviertel für Bergarbeiter, wo ich geboren und aufgewachsen bin, jeder, der einen Großvater hatte und sich seiner rühmte, von uns argwöhnisch und mit kaum verhohlenem Neid beäugt wurde. Über Opas, wie wir unsere Großväter nannten, schwiegen wir lieber – denn entweder kämpften sie einst in der Wehrmacht oder sie waren aus unerklärlichen Gründen einfach nicht mehr da. In der Schule stellte sich ziemlich rasch heraus, dass ich eines der wenigen hiesigen Kinder war, die wenigstens einen Großvater hatten. In jener Zeit konnte ich mir dieses Phänomen nicht erklären. Natürlich war der grausame Krieg, der Millionen Menschenleben auslöschte, für eine Erklärung naheliegend. Doch hier handelte es sich um ein besonders großes Ausmaß dieses rätselhaften Phänomens „verwaister“ Enkelkinder. Damals verband uns, die wir Mitte der 1980er Jahre heranwuchsen, ein unausgesprochener Pakt einer gemeinsamen Erfahrung, über die man sich schweigend hinwegsetzte. Die Frage, „Wo ist Opa?“, die uns aber insgeheim umtrieb, blieb lange unbeantwortet.

Erst viel später, es war schon nach der Wende von 1989, fiel das Wort „Deportation“. Die Deportation zehntausender Oberschlesier zur Zwangsarbeit in der UdSSR nach 1945 ist eine der größten Tragödien, die diese Region im 20. Jahrhundert heimgesucht haben. Und davon gab es wahrlich viele. Ende Januar 1945, nachdem die Rote Armee in Oberschlesien eingefallen war, begannen NKWD-Einheiten damit, das Gebiet hinter der Front „von sowjetfeindlichen Elementen“ zu säubern. Verdächtige Personen wurden verhaftet, wobei dafür allein schon der Grund hinreichte, tatsächlich oder auch nur angeblich deutscher Herkunft zu sein. Die Inhaftierten mussten nicht einmal etwas in politischer Hinsicht verbrochen haben, denn man handelte nach einer einschlägigen sowjetischen Richtlinie. Diese sah vor, Reichsdeutsche im Alter von 17 bis 50 Jahren zur Zwangsarbeit einzuweisen. Dabei erfolgten die einzelnen Verschleppungsaktionen sowohl in dem Teil Oberschlesiens, der von 1922 bis 1939 zu Polen gehörte, als auch – und zwar im weit größeren Ausmaß – in jenem, der vor dem Krieg innerhalb der Reichsgrenzen lag. So wie mein Heimatort Sosnitza, der selbst in den 1970er Jahren, obwohl fast im Herzen Polens gelegen, noch eine Art deutsche Kolonie Helenendorf aus der Erfahrungswelt von Essad Bey war.

Die Verhaftungen dauerten bis Mai 1945 an. In die Fänge des NKWD gerieten dabei auch ehemalige schlesische Aufständische, die in den Jahren 1919–1921 für ein polnisches Oberschlesien stritten, sowie deren als Deutsche angesehene Nachkommen. Sie wurden zunächst in Übergangslager gebracht, unter anderem in Beuthen, Gleiwitz und Laband, und später mehrere Wochen lang ins Innere der Sowjetunion verfrachtet, meist unter erbärmlichen Bedingungen. Diese Reise sollte erst ein Vorort der Hölle sein, die etwa 60.000 deportierte Oberschlesier erwartete. Sie trafen in Arbeitslagern ein, die sich im Donezker Kohlerevier oder in den Sowjetrepubliken Belarus und Kasachstan befanden. Zurückgekehrt war höchstens jeder Zehnte. Jeder Fünfte davon verstarb bald danach …

Schmerzhafte Wunden und großes Schweigen

Diese Tragödie hat bei der oberschlesischen Bevölkerung schmerzhafte Wunden hinterlassen. Die Erinnerung daran wurde in den betroffenen Familien trotz der seitens der kommunistischen Machthaber auferlegten Schweigepflicht gepflegt. Aber uns Halbwüchsigen, denen in der Schule diese Geschichte nicht vermittelt werden durfte, sollte sie auch von den Eltern lange noch vorenthalten bleiben. Bis 1989 kam das Thema „Deportation“ auch nicht in den Medien, der Presse oder wissenschaftlichen Publikationen vor. So konnte diese Erfahrung jahrzehntelang keinen Eingang ins kollektive Gedächtnis finden. Aber auch heute ist es damit nicht zum Besten bestellt. Geschichtsschulbücher liefern dafür nur eines der vielen Beispiele. Wenn überhaupt, wird darin meist über den „Infrastruktur- und Industrieraub“ berichtet. In einem Lehrwerk von Jan Wróbel („Odnaleźć przeszłość“, 2003) lesen wir dazu: „In den besetzten Gebieten beschlagnahmte und raubte die Rote Armee Kunstwerke und ganze Technologielinien deutscher Fabriken. Davon waren auch etliche Polen zugesprochene Städte betroffen, aus denen Russen zum Beispiel Kabel, Dampflokomotiven, Maschinen und sogar Straßenbahnen und ganze Fahrleitungen fortschleppten.“

Darüber, dass die Sowjets außer den Kabeln, Fahrleitungen oder ganzen Industrieanlagen auch Menschen aus Oberschlesien fortschleppten, die dann wie Arbeitssklaven in sowjetischen Bergwerken eingesetzt wurden, wird kein Wort verloren.

Ebenso wenig hat die polnische Literatur dieses Thema aufgegriffen. Dies geschah weder in der Nachkriegszeit (was durchaus noch einleuchtet) noch nach der demokratischen Wende von 1989/90. In dieser tragischen Episode entdeckte man offensichtlich kein menschliches Schicksal, das es wert gewesen wäre, um erzählt zu werden. Und dies, obwohl Gustaw Herling-Grudzińskis großer Roman „Welt ohne Erbarmen“, zwischen 1949 und 1950 verfasst und in Polen erst 1988 veröffentlicht, als aktuelle Schullektüre ein beeindruckendes Zeugnis davon ablegt, wie es in sowjetischen Gulags zuging. Aber das Buch geht auf das polnische Schicksal ein. Das oberschlesische dagegen wartet immer noch auf einen Schulbuchautor oder Schriftsteller, der es aus den Tiefen der familiären Überlieferung hervorkramen und dem kollektiven Gedächtnis vermitteln, ja näherbringen würde. In gewissem Sinne hat vor wenigen Jahren die prominente polnische Reporterin Małgorzata Szejnert genau das getan. In ihrem 2007 erschienenen Buch „Czarny ogród“, das in Polen große Wellen schlug und seit 2015 unter dem Titel „Der schwarze Garten“ auch auf Deutsch zu lesen ist, erzählt die Autorin Schicksale einiger oberschlesischer Familien aus den Arbeitersiedlungen Gieschewald (Giszowiec) und Nickischschacht (Nikiszowiec). Zur Deportation hiesiger Einwohner ins sowjetische Russland lesen wir: „Die pure Angst, die Sibirien, Ural oder Kasachstan auslösen, ist in aller Munde. Es heißt, entlang der Eisenbahnen kann man kleine Zettel finden, auf denen Namen stehen. Man hat sie durch kleine Sparten in den Viehwaggons hinausgeworfen. Männer, die erst vor Kurzem vom Krieg zurückkehrten, verschwinden auf einmal, ohne jegliche Nachricht.“

Entfremdung

Diese Ereignisse haben im familiären Gedächtnis der Betroffenen dennoch überdauert. Der Zusammenbruch des Kommunismus machte es möglich, das von zehntausenden Oberschlesiern und deren Familien erlittene Unrecht endlich auch öffentlich anzusprechen. Aber aus meiner Grundschulklasse und von all den Fußballfreundschaften blieb kaum noch jemand übrig, der diese öffentliche „Genugtuung“ vor Ort erleben konnte. Die meisten übersiedelten noch in den ausgehenden 1980er Jahren von Sosnitza nach Westdeutschland. Bis heute lässt mich der Gedanke nicht los, dass es nicht in erster Linie die Diskriminierungspolitik des kommunistischen Regimes gegenüber Oberschlesiern oder der Traum von einem besseren Leben in der Bundesrepublik waren, die so viele Einheimische noch Jahrzehnte nach Kriegsende zur Auswanderung bewegten. Obwohl auch das kaum zu unterschätzen ist.

Ausschlaggebend für die Entscheidung der späteren Generationen junger Oberschlesier, also der Eltern vieler meiner Freunde, die beinahe von einem Tag auf den anderen aus der Landschaft meiner Sosnitzer Kindheit verschwanden, war gleichwohl doch die unterschlagene Deportation ihrer Verwandten nach Osten. Ebenso eine Rolle spielte dabei das Ausmaß der öffentlich zur Schau gestellten Verlogenheit. Ich bin mir sogar ziemlich sicher, dass die Verschleppung der Großväter meiner oberschlesischen Altersgenossen ihre eigene Beziehung zu einer Gemeinschaft aus den Angeln hob, die diese Tragödie nicht verhindert, sondern daraus nicht selten gar materielle Vorteile für sich herausgeschlagen hatte. Das alles vermittelte das Gefühl einer totalen Vereinsamung und warf einen langen Schatten auf das Verhältnis der einheimischen Bevölkerung nicht nur zum kommunistischen Regime selbst, sondern vielmehr zum Polentum. Es überschattete auch diesen Anteil der oberschlesisch-polnischen Kultur, die ja auch für Deutsche in Oberschlesien kein fremdes Element ihres eigenen Alltags war.

Tragisch für diese Menschen war ebenso die Tatsache, dass selbst Deutsche sich Jahrzehnte lang nicht dafür einsetzten, um die Erinnerung an die Deportation der Oberschlesier in die Sowjetunion wachzuhalten. Die westdeutschen Landmannschaftsverbände, die aus dem tragischen Schicksal der Vertriebenen aus Schlesien, Ostpreußen oder Pommern beinahe ihre alleinige Existenzberechtigung ableiteten, weigerten sich, die UdSSR wegen des Schicksals, das oberschlesische Sklavenarbeiter im Donbass, auf Kamtschatka oder im Kaukasus ereilt hatte, zur Rechenschaft zu ziehen. Auch gegenüber dem heutigen Russland bleiben sie in dieser Frage deutlich zurückhaltend. Außerdem erfuhr die breitere Öffentlichkeit in Deutschland erst vor wenigen Jahren von den Zwangsdeportationen oder – etwas weiter gefasst – von dem Gebaren kommunistischer Regimes gegenüber Deutschen, die nach 1945 in Ostmitteleuropa verblieben waren.

Dass es so kam, ist dem Literaturnobelpreis für Herta Müller (2009) geschuldet. Die aus dem rumänischen Banat stammende Schriftstellerin lebt seit 1987 in Berlin. In ihren Büchern wimmelt es von erniedrigenden Verhören oder anderen einfallsreichen und erschreckenden Praktiken des rumänischen Geheimdienstes Securitate. In ihrem 2014 erschienenen Buch „Mein Vaterland war ein Apfelkern“ erzählt sie über die Verschleppung ihrer Mutter und anderer Deutscher aus dem Heimatdorf zur Zwangsarbeit in die UdSSR. Sie berichtet darüber, wie diese Erfahrung sie als Kind prägte: „Heute weiß ich, sie war verhärtet und kaputt, sie hatte die fünf Jahre russisches Arbeitslager knapp überlebt, es war noch nicht lange her, als ich geboren wurde. Es waren so viele dort um sie herum verhungert und erfroren, sie hatte mehr Glück als diese Toten, kam verelendet zurück, … Sie sprach nicht übers Lager, und wenn, dann die immer gleichen, kryptischen Sätze, in denen sie selber nicht vorkam. Sie sagte: ‚Wind ist kälter als Schnee, Durst quält stärker als Hunger.‘ Sie zwang ihr Leben in eine gnadenlose Normalität und zu dieser gehörte ihrerseits das Prügeln und meinerseits das Abstumpfen und Vertauschen von Würde und Erniedrigung.“

Aber heute, 25 Jahre nach dem Mauerfall, fristet die Geschichte der Deportation ein Schattendasein, vor allem in den Köpfen der Historiker oder Schulbuchautoren. Zwar wurde erst jüngst ein deutsch-polnisches Forschungsprojekt mit der Publikation „Internierungen – Deportationen – Produktivität“ realisiert. Darin gehen wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für Nationales Gedenken in Kattowitz (Katowice) gemeinsam mit ihren Kollegen vom Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg der Frage nach, unter welchen Umständen die Deportation der Oberschlesier zur Sklavenarbeit in der Sowjetunion in den Jahren 1945–1956 erfolgte und wie die Bedingungen in den einzelnen Arbeitslagern waren. Aber das Projekt, so bemerkens- und begrüßenswert es auch ist, stellt eine Ausnahme dar, die nur die geltende Regel bestätigt. Denn um die Popularisierung dieses Wissens ist es ziemlich schlecht bestellt.

In Polen wird die regionalgeschichtliche Erinnerung neu justiert und sie erfährt zunehmendes Interesse. Im Februar 2015 wurde ein Zentrum für Dokumentation der Deportation der Oberschlesier in die UdSSR eröffnet. Das Zentrum ist in Radzionkau angesiedelt, also dem Ort, der einst dicht an der Grenze der polnischen Woiwodschaft Schlesien zum Deutschen Reich lag. Hier kam es 1945 zu Massenverhaftungen und Deportationen in den sowjetischen Osten. Damit ist ein wichtiges und notwendiges Signal für die polnische Erinnerungspolitik gesetzt. Aber genauso wichtig erscheint vielmehr eine öffentliche Debatte darüber, inwieweit regionalhistorische Erfahrungen polnischer Bürger – darunter vieler heutiger Menschen in Oberschlesien – bei Aktivitäten berücksichtigt werden, denen eine breitere Perspektive und längerfristige Tragweite bescheinigt wird. Dazu zählt zweifellos die Bildungspolitik.

Frage der Glaubwürdigkeit

Kurzum: In welchem Umfang sollte die oberschlesische Regionalgeschichte in polnische Geschichtsschulbücher Eingang finden? Es ist zwar nicht so, dass nach 1989 in dieser Hinsicht gar nichts geschehen wäre. Die regionalgeschichtliche Besonderheit spiegelt sich in polnischen Lehrwerken ansatzweise wider. Aber in den einschlägigen Narrativen dominiert meist eine nationalstaatliche Perspektive, die transnationale Verbindungen der Region verdeckt und den Blick auf bestimmte regionale Gegebenheiten oder Phänomene außerordentlich verengt. So werden Wesensmerkmale, die sich aus diversen kulturhistorischen Erfahrungen speisen, in der polnischen Schule weiterhin als etwas Fremdes behandelt. In Polen gibt es eigentlich kaum ein Schulbuch, welches Oberschlesien angemessen berücksichtigen würde. Dabei sind gerade die Phänomene frappierend, über die Schulbücher schweigen. Denn diese Bildungsmedien sind – neben tagespolitischer Publizistik – wohl der mit Abstand genaueste Seismograf für den Stellenwert historischer Themen. Was Schulbücher thematisieren oder was nicht und wie sie thematisieren, zeigt an, wie ein Thema gesamtgesellschaftlich gewertet und beurteilt werden soll.

Noch einmal also die Frage: In welchem Umfang sollte die Regionalgeschichte in Schulbüchern berücksichtigt werden? Dies wäre nicht zuletzt ein Prüfstein, um unter Beweis zu stellen, dass historische Reflexion und aktuelle Ansätze, solche Dramen wie die Deportation der Oberschlesier zur Zwangsarbeit Anfang 1945 wachzurufen, wirklich authentisch sind und nicht bald wieder verschwinden, nachdem ein weiteres Museum oder Dokumentationszentrum feierlich eröffnet worden ist. Diese Frage bleibt weiterhin offen. Gleichwohl ist es sinnvoll, sie gerade aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Oberschlesier in die Sowjetunion zu stellen. Bei Regionen mit hoher historischer Komplexität sind Schulbücher besonders herausgefordert. Dennoch ist es an der Zeit, sich dieser Herausforderung zu stellen.

Vielleicht wird es aber die polnische Literatur sein, die als erste diese Hürde nimmt und den Blickwinkel verändert? Das Literarische bringt es schließlich noch am ehesten zustande, mit der Vergangenheit ins Reine zu kommen und sich dem eigentlichen Sinn menschlichen Schicksals angst- und vorurteilsfrei zuzuwenden. Lev Nussimbaum hätte diese Geschichte sicher mit großem Können literarisch in Szene gesetzt.

Wenn es soweit ist, führt mein Weg vom Braunschweiger Schulbuchinstitut vielleicht wieder einmal nach Oberschlesien zurück. Nicht ohne Grund habe ich bei meiner 2014 erfolgten Einbürgerung den polnischen Vor- und Nachnamen nicht eindeutschen lassen. Für mich als Oberschlesier wäre es dabei ein Leichtes gewesen. Das will schon was heißen.

Auch deshalb werden meine beiden Söhne zweisprachig erzogen. Sie sprechen beide Sprachen perfekt, und auch die oberschlesische Mundart ist ihnen vertraut. Dabei ist Jakob (10) noch in Gleiwitz, Philipp (3) bereits in Braunschweig geboren. Für mich werden sie immer zwischen den beiden Städten meiner Biografie einen europäischen Bogen schlagen. Ob sie nun als Deutsche, Oberschlesier, Polen oder überzeugte Europäer aufwachsen, kann ich zwar ein wenig beeinflussen. Aber ich will es lieber als eine „offene“ Option betrachten. Gerade als Oberschlesier weiß ich, dass es besser ist, eine solche Entscheidung jedem selbst zu überlassen. Irgendwann kann aus Jakob (wieder) Jakub, aus Philipp Filip werden. Dass die Vornamen meiner Kinder im Deutschen wie im Polnischen so ähnlich klingen, war kein Zufall. Manchmal lässt eben auch die Namensgebung beide Alternativen offen. Hauptsache, sie handeln in ihren Entscheidungen immer als freie Menschen. Und es gibt ein Wort, mit dem ich diesen meinen Wunsch in Verbindung bringen kann: Europa. Ja, es ist das vereinte Europa ohne nationale Binnengrenzen. Ich kann nur hoffen, dass meine Söhne es in Zukunft so zu schätzen lernen, wie ich es tun durfte.


Fußnote:


  1. Zu diesem in Deutschland kaum bekannten Schriftsteller vgl. z. B. Burkhard Müller-Ullrich: Der Orientalist. (Beitrag vom 20.07.2008 im Deutschlandfunk, abrufbar unter http://www.deutschlandfunk.de/der-orientalist.700.de.html?dram:article_id=83688↩︎