Makedonien – ein historischer Überblick

aus OWEP 1/2015  •  von Nada Boškovska

Prof. Dr. Nada Boškovska ist ordentliche Professorin für Osteuropäische Geschichte am Historischen Seminar der Universität Zürich.

Zusammenfassung

Die Republik Makedonien ist einer der Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Erstmals entstand 1991 ein unabhängiges Makedonien, denn zuvor war dieses Gebiet immer Bestandteil anderer Staatsgebilde gewesen: im Mittelalter abwechslungsweise des Byzantinischen, Bulgarischen und Serbischen Reiches, dann über 500 Jahre lang des Osmanischen. Das kurze 20. Jahrhundert war von der Zugehörigkeit zu Jugoslawien geprägt. Seit 1991 kämpft das Land außenpolitisch um einen anerkannten Platz auf der internationalen Bühne, innenpolitisch mit interethnischen Spannungen und wirtschaftlichen Problemen.


Es handelt sich bei diesem Beitrag um eine erweiterte Fassung des Textes von Nada Boškovska: Makedonien im 20. Jahrhundert. In: Religion und Gesellschaft in Ost und West 40 (2012), H. 4, S. 16-18.

Geografische und politische Grundlagen

Wer in Makedonien kurz nach 1900 zur Welt kam, begann sein Leben als Untertan des Osmanischen Reichs, kam von 1913 bis 1915 zum Königreich Serbien, anschließend zu Bulgarien und fand sich Ende 1918 im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen wieder. Im Zweiten Weltkrieg kam er wieder unter bulgarische Herrschaft, um nach 1945 sein Leben im sozialistischen Jugoslawien fortzusetzen. Langlebige konnten, ohne ihr Dorf je verlassen zu haben, die letzten Jahre in einem siebten Staat, der 1991 unabhängig gewordenen Republik Makedonien, verbringen. Das war ein rasanter Wechsel, vor allem im Vergleich zum halben Jahrtausend davor, in dem Makedonien konstant zum Osmanischen Reich gehört hatte.

Die Sozialistische Republik Makedonien war der südlichste Teil Jugoslawiens. Als dieses Land 1991 zerfiel, erklärte sie sich unabhängig, womit der erste makedonische Staat entstand – 25.713 km² groß und von rund zwei Millionen Menschen bewohnt. Damit bewegt sich das Land in ähnlichen Dimensionen wie Slowenien. Während jedoch dieses eine hohe ethnische und religiöse Homogenität aufweist, ist Makedonien diesbezüglich sehr vielfältig. Die Volkszählung von 20021 weist rund 1,3 Millionen Makedonier (64 Prozent), 509.000 Albaner (25 Prozent), 78.000 Türken (3,8 Prozent), 54.000 Roma (2,7 Prozent) und zahlreiche andere kleinere Minderheiten aus. Die religiöse Zugehörigkeit verläuft in etwa parallel dazu. 65 Prozent der Bevölkerung bekennen sich zur orthodoxen Kirche. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um die Makedonier, von denen nur ein sehr kleiner Teil anderen Religionen angehört, sowie die rund 36.000 Serben. 33 Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Den größten Anteil haben die Albaner, die sich in Makedonien fast durchwegs zum Islam bekennen. Muslime sind außerdem die Türken, die Mehrheit der Roma, die rund 17.000 Bosniaken und ein kleiner Teil der Makedonier.2

Die Republik Makedonien ist ein Teil des geografischen Makedonien, über dessen Grenzen unter den Geografen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitgehend Konsens bestand: Sie bezeichneten als Makedonien das Gebiet, das im Norden vom Šar-Gebirge, im Süden von Olymp und Pindus, im Osten von den Rhodopen und im Westen vom Ohrid-See begrenzt wird. Insgesamt handelt es sich um ein Territorium von etwa 63.000 km2, auf dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund zwei Millionen Menschen gelebt haben dürften.3 Diese geografische Region gehörte im Mittelalter abwechslungsweise zu Byzanz, zum Bulgarischen und zum Serbischen Reich – ein Umstand, der im 19. und 20. Jahrhundert von den Nationalstaaten Griechenland, Bulgarien und Serbien ins Feld geführt wurde, um den Anspruch auf Makedonien zu legitimieren.4

Entwicklungen bis zum Ende der Osmanenzeit

Sehr viel länger als diese Reiche herrschten jedoch die Osmanen über Makedonien, das sie ab den 1370er Jahren eroberten und erst wieder in den Balkankriegen von 1912/13 verloren. Kein anderes Gebiet in Europa stand länger unter osmanischer Herrschaft. Sie hat dem Gebiet entsprechend stark ihren Stempel aufgedrückt. Ein Teil der Bevölkerung trat zum Islam über. Das wurde nicht durch Zwang erreicht, sondern durch Anreize. Wer Muslim wurde, musste keine Kopfsteuer zahlen und wechselte von der diskriminierten zur privilegierten Bevölkerungsgruppe. Wie in allen Gebieten des Balkans, die unter direkte osmanische Herrschaft kamen, ging die einheimische christliche Bevölkerung ihrer Elite verlustig: Diese kam entweder in den Eroberungskriegen um, floh oder konvertierte zum Islam, um ihren Status zu wahren. Das hatte zur Folge, dass die christliche Bevölkerung hauptsächlich aus slawischen Bauern bestand, während vor allem Muslime sowie jüdische, griechische und armenische Händler und Handwerker die Städte bevölkerten.

In Ermangelung einer politischen und gebildeten Führungsschicht war es die Kirche, der weit über den religiösen Bereich hinaus eine Führungsrolle zufiel. Das wurde durch das Millet-System befördert: Im Osmanischen Reich wurde den Religionsgemeinschaften der Status eines so genannten Millet zuerkannt, der beinhaltete, dass die Gemeinschaften sehr viele Angelegenheiten, auch juristische, selbst regeln konnten, soweit keine Muslime oder der Staat betroffen waren. Orthodoxe Untertanen des Sultans unterstanden der Jurisdiktion des Patriarchen in Konstantinopel, unabhängig davon, wo im Reich sie lebten und welcher Ethnie sie angehörten.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verlor das Osmanische Reich seine Besitzungen auf dem Balkan sukzessive und es entstanden die kleinen Nationalstaaten Serbien, Griechenland, Montenegro, Bulgarien und Rumänien, während Bosnien und Herzegowina an Österreich-Ungarn fiel. Unter direkter osmanischer Herrschaft verblieben nach 1878 nur noch Albanien, Makedonien und Thrakien. Vor allem auf das strategisch wichtige und vergleichsweise große Makedonien hatten die Nachbarländer ein begehrliches Auge geworfen. Die Ansprüche Griechenlands, Bulgariens und Serbiens überschnitten sich allerdings stark, zumal alle drei Länder darauf verweisen konnten, dass Makedonien im Mittelalter Bestandteil des entsprechenden Reiches gewesen war. Deswegen wurde als weiteres Argument die ethnische Zugehörigkeit der Bevölkerung ins Feld geführt.

Makedoniens Völkergemisch

Wie sah es diesbezüglich um 1900 aus? Ausländische Diplomaten, Journalisten und Abenteuerreisende, die Makedonien in der Endphase des Osmanischen Reiches besuchten, waren immer wieder von der Vielfalt der „Rassen“ beeindruckt, der sie dort begegneten. Die kulinarischen Begriffe salade macédoine (Gemüsesalat) oder macedonia di frutta (Fruchtsalat) sind Resultate dieses Eindrucks. Woraus diese macedonia bestand, insbesondere auch welcher Anteil daran wie groß war, wurde damals leidenschaftlich diskutiert, auf dem Balkan wie anderswo. Wenn man die Auseinandersetzung über die Zahlen außer Acht lässt, so herrschte weitgehend Konsens darüber, dass im osmanischen Makedonien Türken, Albaner, Juden, Walachen, Griechen, Roma und andere kleinere Volksgruppen lebten. Die Differenzen betrafen die größte Bevölkerungsgruppe, die christlichen Slawen, welche je nach Standpunkt als Bulgaren, Serben, Slawen, makedonische Slawen oder Makedonier bezeichnet wurden. Der deutsche Geograf Theobald Fischer hatte einen pragmatischen, aber nicht konsensfähigen Vorschlag: Es sei schwer zu entscheiden, ob die Slawen Makedoniens Serben oder Bulgaren seien, deshalb solle man sie „heute am besten als Makedonen“ bezeichnen.5

Blick auf die Altstadt von Skopje: Erinnerungen an die Zeit der Osmanen (Foto: Tim Graewert)

Um die nationale Zugehörigkeit dieser Menschen entbrannte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts ein erbitterter Kampf. Ein nationales Bewusstsein war den meisten von ihnen noch fremd. Für ihre Selbstidentifikation, aber auch für die Zuordnung aus Sicht des osmanischen Staates war in erster Linie maßgeblich, dass sie Christen waren; an zweiter Stelle folgte die Zugehörigkeit zum griechischen Patriarchat oder bulgarischen Exarchat. Davon abhängig wurde der slawische Christ Makedoniens als „Grieche“ oder „Bulgare“ gesehen und bezeichnete sich in der Regel auch selbst so. Es handelte sich dabei zunächst einmal um eine kirchliche Kategorie im Sinne des Millets, nicht um eine ethnische. In gleicher Weise galten alle Muslime als „Türken“, ob sie nun ethnisch tatsächlich Türken waren oder Slawen, Albaner, Tataren oder Tscherkessen. Die benachbarten Staaten erklärten, um ihre territorialen Ansprüche zu stützen, die slawischen christlichen Untertanen der Pforte jeweils zu Serben, Griechen oder Bulgaren und versuchten mit einigem propagandistischem Aufwand, die derart vereinnahmte Bevölkerung wie auch die europäische Öffentlichkeit davon zu überzeugen. Freischärlergruppen aus den drei Staaten, die ins osmanische Makedonien einfielen, halfen mit Gewalt nach, die „richtige“ Einstellung zu finden.

Aufteilung Makedoniens nach den Balkankriegen

Im Ersten Balkankrieg von 1912 vertrieben Montenegro, Serbien, Bulgarien und Griechenland mit vereinten Kräften die Osmanen fast gänzlich von der Balkanhalbinsel. Nach einem weiteren Krieg, nunmehr zwischen den Bündnispartnern um die eroberten Gebiete, wurde im Vertrag von Bukarest am 10. August 1913 die Aufteilung Makedoniens besiegelt. Etwa die Hälfte (das so genannte Ägäisch-Makedonien) fiel an Griechenland, rund 40 Prozent (Vardar-Makedonien) an Serbien und ein kleines Stück (Pirin-Makedonien) ging an Bulgarien; die damaligen Grenzen sind im Wesentlichen die gleichen wie heute. In der Folge hatten die drei Staaten freie Hand, in den ihnen zugefallenen Teilen ihr nationales Programm umzusetzen und zu versuchen, aus der dort ansässigen slawischen Bevölkerung Griechen, Serben oder Bulgaren zu formen. In Griechenland und Bulgarien wird seitdem im Wesentlichen durchgehend eine strikte Assimilierungspolitik verfolgt, die keine makedonische Minderheit anerkennt.

Einen anderen Verlauf nahm die Entwicklung in jenem Teil, der an Serbien fiel und aus dem die heutige Republik Makedonien entstanden ist. Im Folgenden ist nur noch dieses Gebiet gemeint, wenn von Makedonien die Rede ist. Als Teil Serbiens ging Makedonien 1918 in das neu entstandene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen ein, das 1929 in Königreich Jugoslawien umbenannt wurde. Die Politik gegenüber Makedonien wurde von serbischen Politikern bestimmt, welche ein serbisches nationales Programm umzusetzen versuchten.6 Makedonien, das nunmehr als „Südserbien“ bezeichnet werden musste, wurde mit serbischen Beamten und Lehrern überzogen. Durch einen entsprechenden Unterricht sollte die Jugend eine „korrekte“ nationale Gesinnung entwickeln. Serbische Kolonisten wurden angesiedelt, um das serbische „Element“ zu stärken. Darüber hinaus waren in den 1920er Jahren 35.000 Mann Sicherheitskräfte damit beauftragt, in Makedonien für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Grund dafür waren die Aktivitäten der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), die von Bulgarien aus aktiv war und durch Einfälle und Anschläge eine Destabilisierung des jugoslawischen Staates und eine neue Lösung für Makedonien erreichen wollte. Schon bei den Pariser Friedensverträgen im Anschluss an den Ersten Weltkrieg hatten sich makedonische Organisationen für eine Autonomie eingesetzt, allerdings vergeblich. Danach waren immer noch verschiedene Szenarien über eine alternative Zukunft in Umlauf. Ein Teil der großen makedonischen Diaspora in Bulgarien7 war für einen Anschluss an Bulgarien. Andere wünschten ein unabhängiges Makedonien als Protektorat des Völkerbundes oder Englands und Frankreichs.

Was in Makedonien selbst darüber gedacht wurde, ist schwer festzustellen, da sich wegen der Repression niemand offen äußern konnte. Hermann Wendel, ein deutscher Sozialist, der Makedonien 1920 bereiste, berichtet z. B. von einem jungen Mann aus Bitola, der „ein autonomes Makedonien mit Landesregierung und Landesparlament zu Skoplje im Gefüge eines südslawischen Bundesstaates“ forderte.8 Auch Studenten aus Ohrid, die in Graz und Wien studierten, träumten von einem autonomen Makedonien, wie der Generalstab der Armee wusste. Davon war auch ein serbischer nationalistischer Gymnasiallehrer in Prilep überzeugt, der 1926 dem Innenministerium hinterbrachte, dass die jungen Studenten aus Makedonien (sic!) in Wien, Graz, Berlin, Paris und Montpellier über ein autonomes Makedonien, über die Theorie der makedonischen Nationalität und über eine eigene makedonische Sprache diskutierten: „In letzter Zeit spürt man sowohl hier als auch in diesen Studentengrüppchen im Ausland eine lebhafte Freude, die aus der Hoffnung kommt, dass eine baldige Möglichkeit für die Abspaltung eines eigenständigen Makedonien besteht und dass das Makedonische Komitee in dieser Frage erfolgreich sein wird.“9

Für die serbischen Machthaber kam eine Autonomie nicht in Frage. 1924 erklärte Außenminister Momčilo Ninčić dem britischen Botschafter, dieses Gebiet sei die Wiege des Serbentums. „Südserbien“ war gemäß der Belgrader Ideologie ein zurückgewonnenes Kerngebiet Serbiens, die dortigen Brüder endlich aus türkischer Knechtschaft befreit und mit dem Norden wiedervereint. In der Praxis wurde Makedonien aber wie Feindesland behandelt, der Bevölkerung schlugen Misstrauen und Verachtung entgegen. Politische oder kulturelle Vereinigungen auf regionaler Basis wurden nicht geduldet, es durfte sich nichts formieren, was einen makedonischen Anstrich hatte. Die Folge war, dass sich an den Schaltstellen der Macht niemand für die Interessen Makedoniens einsetzen konnte. Dabei war der Handlungsbedarf enorm. Das Gebiet war in jeder Beziehung unterentwickelt und hatte zudem als Schauplatz der Balkankriege und des Ersten Weltkriegs große Zerstörungen erlitten. Die Analphabetenrate war 1921 mit 84 Prozent die höchste im Land, Verkehrsinfrastruktur und Gesundheitswesen waren nur in Ansätzen vorhanden. Erst kurz vor dem Zweiten Weltkrieg wurden wirtschaftliche Fördermaßnahmen ernsthaft ins Auge gefasst, meistens aber nicht umgesetzt, denn sobald nicht mehr nur geredet wurde, sondern die staatlichen Mittel konkret zugeteilt wurden, konnten sich Regionen mit größerem politischem Einfluss durchsetzen.

Die fortgesetzt stiefmütterliche Behandlung durch Belgrad und der Assimilierungszwang waren Faktoren, die dazu beitrugen, dass eine makedonische Identität zunehmend an Boden gewann und sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre, als die Repression nachließ, vermehrt auch äußern konnte. Mittlerweile war eine junge Elite herangewachsen, die, da sie sich dem Serbentum weitgehend verweigerte, am politischen Leben nicht partizipieren konnte und nun zunehmend die alte Idee einer Autonomie für Makedonien aufnahm. Die politischen Umwälzungen in Europa seit 1938 und insbesondere die Revision von Grenzen vor und nach Beginn des Zweiten Weltkriegs ließen es erstmals seit den Friedenskonferenzen nach 1918 als realistisch erscheinen, dass sich auch in Makedonien etwas am Status quo ändern könnte. Während die einen erwarteten, dass Deutschland und Italien Makedonien von der serbischen Herrschaft befreien würden, setzten die Kommunisten ihre Hoffnungen auf die Sowjetunion. Jugoslawien, das im April 1941 kapitulierte, trauerte kaum jemand nach. Die Hoffnungen auf „Befreiung“ wurden allerdings enttäuscht. Während des Krieges wurde der größte Teil des jugoslawischen Makedonien von Bulgarien besetzt, das umgehend ein Bulgarisierungsprogramm einleitete. Der westliche Teil wurde dem von Italien kontrollierten Großalbanien zugeschlagen.

Makedonien als Teilrepublik innerhalb Jugoslawiens

Unmittelbar nach dem Krieg sah es zunächst so aus, als könnte sich der Wunsch nach Autonomie und Wiedervereinigung der drei makedonischen Teile im Rahmen einer Balkanföderation erfüllen. Mit dem Bruch zwischen Tito und Stalin 1948 wurde dieser ohnehin schwer umzusetzende Plan jedoch vollends Makulatur. Allerdings eröffneten sich für Vardar-Makedonien neue Perspektiven, denn Jugoslawien wurde nach dem Krieg neu als föderalistischer Staat konzipiert, um seinem multiethnischen Charakter Rechnung zu tragen. Makedonien erhielt den Status einer Republik mit allen dazugehörigen Institutionen wie Verfassung, Regierung, Parlament, Gerichtsbarkeit, einem eigenen Bildungswesen, wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen usw. Im November 1944 wurde die Standardisierung der makedonischen Sprache in Angriff genommen und war im Mai 1945 vollendet. Erstmals war es möglich, sich zur makedonischen Nation zu bekennen und die eigene Sprache frei in allen Lebensbereichen zu verwenden. Die Quasistaatlichkeit der Republik ermöglichte eine Förderung des nation-building, inklusive einer eigenen Geschichtsschreibung, die diesem Ziel zuarbeitete. Damit wurde eine Entwicklung zuende geführt, die ihre frühen Vertreter im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts hatte,10 sich in der Zwischenkriegszeit in weitere Kreise verbreitete und nach dem Krieg, auch aufgrund der nun unter sozialistischen Vorzeichen stark geförderten Alphabetisierung, die Massen erreichte. Dabei handelte es sich um einen klassischen Nationswerdungsprozess, wie ihn etwa Miroslav Hroch mittels seines Drei-Phasen-Modells beschrieben hat.11

Teil dieses Prozesses war die Abspaltung von der Serbischen Orthodoxen Kirche, der die orthodoxen Gläubigen Vardar-Makedoniens seit 1919 unterstanden. Der Wunsch nach einer eigenen Kirche war schon in der Zwischenkriegszeit vorhanden und wurde während des Zweiten Weltkriegs und danach wieder vorgetragen, stieß aber auf Ablehnung seitens des serbischen Klerus, der zwar Autonomie, aber keine Unabhängigkeit gewährte, obwohl er von den jugoslawischen wie den serbischen Behörden dazu gedrängt wurde. Im Juli 1967 erfolgte die einseitige Erklärung der Autokephalie durch die makedonische Kirche. Bis heute wurde dieser Akt weder von der serbischen noch von den anderen orthodoxen Kirchen anerkannt, obwohl es in der Geschichte der Orthodoxie immer wieder einseitige Abspaltungen gegeben hat, die jeweils nach einer gewissen Zeit des Grolls akzeptiert wurden. Die Gründe für die Nichtanerkennung sind somit in erster Linie politischer Natur.

Die sozialistische Phase brachte Makedonien in mancher Hinsicht einen großen Entwicklungsschub. Es wurde in Bildung, Gesundheitswesen und Infrastruktur investiert und eine Industrie aufgebaut, wobei die Republik von Ausgleichszahlungen des jugoslawischen Entwicklungsfonds profitieren konnte. Sie blieb allerdings eine der ärmsten Regionen Jugoslawiens und der Abstand zu den reicheren Republiken des Nordens wurde nicht kleiner, sondern größer. Makedonien war zudem wie im ersten Jugoslawien ein politisches Leichtgewicht. In den hohen Rängen von Partei- und Staatsführung sowie in Titos innerem Kreis waren keine Makedonier zu finden. Das Zusammenleben zwischen den Ethnien war zwar friedlich, aber angespannt – es handelte sich um ein Nebeneinander, bei dem sich insbesondere Makedonier und Albaner kaum mischten und gegenseitige Ressentiments pflegten.

Insgesamt sah sich Makedonien angesichts der eigenen Schwäche, der von den Nachbarstaaten negierten Nationsbildung und der multiethnischen Zusammensetzung in Jugoslawien gut aufgehoben und war eine loyale Republik, die zusammen mit Bosnien und Herzegowina bis zuletzt versuchte, den Zerfall des Landes zu verhindern. Als dies nicht möglich war, schlug es mit einem Referendum am 8. November 1991 notgedrungen ebenfalls den Weg in die Unabhängigkeit ein.

Makedonien als unabhängiger Staat

Für die erste Phase war es von entscheidender Bedeutung, dass das Land im Präsidenten Kiro Gligorov einen umsichtigen und sehr erfahrenen, auf inneren und äußeren Ausgleich bedachten „Landesvater“ fand, der von breitesten Kreisen der Bevölkerung als solcher empfunden wurde und auch das Vertrauen der Minderheiten genoss. Nachdem sich die Republik ohne militärische Zwischenfälle aus Jugoslawien hatte lösen können, schien sie auf einem guten Weg zu sein. Sie hatte allerdings von Anfang an mit drei Problemfeldern zu kämpfen, die mehr als zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch aktuell sind.

Erwartbar waren aufgrund der ökonomischen Schwäche erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten, die durch die Transformation und die gegen Jugoslawien verhängten Sanktionen an Schärfe gewannen. Auch mit ethnischen Spannungen war angesichts der Zusammensetzung der Bevölkerung und der Situation im Kosovo zu rechnen. Was das Land aber ziemlich unvorbereitet traf, war die massive Feindschaft Griechenlands, das einen Staat namens Makedonien unter allen Umständen verhindern wollte. Ein griechischer Politiker erklärte im Januar 1992 sogar, der Gebrauch des Namens Makedonien sei ein casus belli, also ein Kriegsgrund, und forderte „eine aktive Vernichtungspolitik gegen diesen Zwergstaat“.12

Infolge seiner Mitgliedschaft in EU und NATO verfügt Griechenland über erhebliche Druckmittel und sabotiert seit 1991 Makedoniens internationale Beziehungen in jeder erdenklichen Weise. Um nur die wichtigsten Fälle zu nennen: Bis 1993 konnte es die internationale Anerkennung verhindern, wodurch Makedonien von Finanzorganisationen wie der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds keine Finanzhilfe erhalten konnte. 2008 verhinderte Griechenland den Beitritt zur NATO, wozu es gemäß eines Urteils des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag vom 5. Dezember 2011 kein Recht hatte. Das Verdikt wird aber nichts daran ändern, dass an eine EU-Mitgliedschaft Makedoniens unter diesen Umständen nicht zu denken ist.

Bulgarien hat seinerzeit als erster Staat Makedonien anerkannt und damit ein versöhnliches Zeichen gesetzt. Gleichzeitig weigert es sich, eine makedonische Nation und Sprache anzuerkennen; es betrachtet Makedonien faktisch als einen zweiten bulgarischen Staat.

Die wirtschaftlichen Probleme und die ausweglose außenpolitische Lage verschärften von Anfang an die ethnischen Spannungen im Innern. Zwar führte Makedonien in der Tradition des sozialistischen Jugoslawien einen im internationalen Vergleich sehr guten Minderheitenschutz ein und beteiligte die albanische Minderheit stets an der Regierung, jedoch waren die makedonischen Albaner in vielen Bereichen von Staat, Bildung und Kultur untervertreten. Insbesondere forderten sie aber, nicht als Minderheit betrachtet und behandelt zu werden, sondern als zweites Staatsvolk. Seit den Zusammenstößen zwischen einer albanischer Guerilla und makedonischen Sicherheitskräften im Jahr 2001, die unter internationaler Vermittlung mit dem so genannten Rahmenabkommen von Ohrid13 beendet werden konnten, werden die Forderungen der Albaner allmählich umgesetzt. Der Streit mit Griechenland um den Staatsnamen erschwert auch die Beziehungen zwischen Mehrheits- und Minderheitsbevölkerung. 14 Für die Makedonier ist der Name von existenzieller Bedeutung, weil er untrennbar mit ihrer Nation verknüpft ist. Die anderen Volksgruppen, insbesondere die größte, die Albaner, hängen nicht daran und sind unzufrieden, dass die Regierung keine Konzessionen in dieser Frage macht, was die außenpolitische Lage und damit auch die wirtschaftlichen Chancen des Landes verbessern würde.

Griechenlands jahrzehntelange Veto- und Bulgariens Negierungspolitik sowie die Gleichgültigkeit der internationalen Gemeinschaft gegenüber diesem kleinen und unbedeutenden Land haben dazu geführt, dass die in die Ecke gedrängten Makedonier ihre Nation ebenfalls in prestigereichen historischen Tiefen zu verorten versuchen, bei den antiken Makedonen, die zwar keine Griechen waren, aber auch nicht die Vorfahren der heutigen slawischen Makedonier sind. Seit einigen Jahren lassen die Behörden die Städte, insbesondere die Hauptstadt, mit Alexander- und Philipp-Statuen vollstellen und pseudoantike Gebäude errichten.15 Das und vieles andere wäre dem Land erspart geblieben, hätte es nach 1991 unbehelligt seinen Weg gehen können.


Fußnoten:


  1. Sie kann auf der Homepage des statistischen Amtes Makedoniens in Makedonisch und Englisch heruntergeladen werden: http://www.stat.gov.mk/PrikaziPublikacija.aspx?id=54&rbr=222 (letzter Zugriff: 07.12.2018). ↩︎

  2. Zu den Eckdaten vgl. auch die Länderinformationen in diesem Heft auf S. 67 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Vgl. z. B. Leonhard Schultze Jena: Makedonien. Landschafts- und Kulturbilder. Jena 1927, S. 1-4. ↩︎

  4. „Makedonien“ bezeichnet also einerseits einen geografischen Raum, andererseits ein politisches Gebilde, das mit ersterem nicht deckungsgleich ist. Hinzu tritt die Problematik des offiziellen Staatsnamens, auf den die Autorin weiter unten eingeht. – Im deutschen Sprachraum wird neben „Makedonien“ häufig auch „Mazedonien“ verwendet, was auf die unterschiedliche Aussprache des Buchstabens „c“ in der lateinischen Namensform „Macedonia“ zurückzuführen ist (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  5. Theobald Fischer: Die südeuropäische (Balkan-) Halbinsel. In: Länderkunde von Europa. Hrsg. unter fachmännischer Mitwirkung von Alfred Kirchhoff. Leipzig 1893, S. 63 -198, hier S. 151. ↩︎

  6. Vgl. allgemein zur Zwischenkriegszeit Nada Boškovska: Das jugoslawische Makedonien 1918-1941. Eine Randregion zwischen Repression und Integration. Wien (u. a.) 2009. ↩︎

  7. 100.000-300.000 Flüchtlinge und Übersiedler aus Vardar- und Ägäisch-Makedonien. ↩︎

  8. Hermann Wendel: Kreuz und quer durch den slawischen Süden. Von Marburg bis Monastir – Von Belgrad bis Buccari – Krainer Tage. Frankfurt (Main) 1922, S. 101 f. ↩︎

  9. Državen arhiv na Republika Makedonija, 1.1038.8.21/1. Vl. Nešković, Prilep, 18.12.1926. ↩︎

  10. 1875 erschien das „Wörterbuch der drei Sprachen“ von Georgi Pulevski. ↩︎

  11. Miroslav Hroch: Nationales Bewußtsein zwischen Nationalismustheorie und der Realität der nationalen Bewegungen. In: Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 31. Oktober bis 3. November 1991. Hrsg. v. Eva Schmidt-Hartmann. München 1994, S. 39-52. ↩︎

  12. In der Tageszeitung „Eleytherotypia“ vom 19.01.1992, zit. nach Dimitris Tsakiris: Griechenland und die Makedonische Frage. In: Eggert Hardten (u. a.) (Hrsg.): Der Balkan in Europa. Frankfurt (Main) 1996, S. 41-62, hier S. 50. ↩︎

  13. Vgl. dazu die Ausführungen im folgenden Beitrag von Tim Graewert, unten S.19 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  14. Auf Druck Griechenlands ist die Republik Makedonien unter der Bezeichnung „Former Yugoslav Republic of Macedonia“ (FYROM) Mitglied der Vereinten Nationen und anderer internationaler Organisationen geworden; vgl. dazu auch Graewert (wie Anm. 13), S. 22. ↩︎

  15. Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Ulf Brunnbauer in diesem Heft. ↩︎