Religionsunterricht in Estland

aus OWEP 2/2019  •  von Silja Härm

Mag. theol. Silja Härm ist Doktorandin im Bereich Religionspädagogik an der Fakultät für Theologie und Religionswissenschaft der Universität Tartu.

Zusammenfassung

Das estnische Modell des Religionsunterrichts ist in Europa einzigartig, da es sich im Hinblick auf die Unterrichtsziele um ein nicht-konfessionelles Unterrichtsfach handelt, das gleichzeitig als Wahlfach angeboten wird. Der Unterricht findet an relativ wenigen Schulen statt, zumeist in der Sekundarstufe II; jedoch kann man davon ausgehen, dass der Weg in Richtung eines regulären Unterrichtsfaches einschließlich der Ausbildung professioneller Lehrer bereits eingeschlagen ist.

Historischer Hintergrund

Estland war in der Vergangenheit ein überwiegend evangelisches Land, das stark vom Erbe der deutschsprachigen Oberschicht beeinflusst wurde. Seit der Einführung des Christentums im 13. Jahrhundert bis zur Gründung der unabhängigen Republik Estland im Jahr 1918 dominierte diese das wirtschaftliche, kulturelle und politische Leben. Erste kirchliche und städtische Schulen wurden im Mittelalter gegründet, der Aufbau eines Schulwesens für die Landbevölkerung begann während der lutherischen schwedischen Herrschaft (1561-1721). Die Grundlagen des modernen Schulsystems wurden im 19. Jahrhundert gelegt, als Estland ein Teil des Russischen Reiches war.

Nach der Unabhängigkeit Estlands 1918 entwickelte sich der Religionsunterricht an öffentlichen Schulen zu einem heiß diskutierten Thema. Ursprünglich aufgrund der antiklerikalen Haltung einflussreicher linker Kreise abgeschafft, wurde er 1923 sowohl in Grund- als auch in Sekundarschulen als Wahlfach wieder eingeführt. Dieser freiwillige Religionsunterricht wurde von der großen Mehrheit der Schüler besucht. In diese Zeit fällt auch eine grundlegende Erneuerung des Unterrichts mit dem Ziel, auf eine reine Faktenweitergabe zu verzichten und den Unterricht nach pädagogischen Prinzipien zu gestalten.

Während der sowjetischen Besatzung (1940-1941 und, nach der zwischenzeitlichen Besetzung durch Nazi-Deutschland, 1944-1991) wurde die Religion aus dem öffentlichen Leben fast vollständig verdrängt. Sonntagsschulen und die Jugendarbeit wurden verboten. Der Einfluss der von den sowjetischen Behörden geförderten atheistischen Ideologie ist einer der Faktoren, die die religiöse Situation in Estland bis heute prägen.

Wiedereinführung nach 1989

Als Folge der Demokratisierung in der Sowjetunion wurde der Religionsunterricht 1989 wieder eingeführt und nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Estlands 1991 weiter ausgedehnt. Zu dieser Zeit war Estland jedoch bereits zu einem stark säkularisierten Land geworden. Laut der Volkszählung im Jahr 2011 bezeichneten sich nur etwa 29 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu einer Religionsgemeinschaft gehörig; die Zahl aktiver Gemeindemitglieder war noch weitaus niedriger. Besonders gering ausgeprägt ist die Religiosität bei den ethnischen Esten, die historisch gesehen überwiegend evangelisch-lutherischen Bekenntnisses waren. Die zahlenmäßig größte Religionsgemeinschaft in Estland bilden heute die orthodoxen Christen (d. h. das Mehrheitsbekenntnis der russischen Bewohner Estlands, die hauptsächlich in der Sowjetzeit eingewandert sind, ca. 30 Prozent der Gesamtbevölkerung).

Trotz dieser tiefgreifenden Veränderungen plädierten in den 1990er Jahren viele Befürworter des Religionsunterrichtes für eine Rückkehr zum Vorkriegsmodell – andererseits gab es viele Stimmen, die einen kompletten Ausschluss des Schulfaches aus den Lehrplänen forderten. Als Ergebnis der kontroversen Debatten wurde der Religionsunterricht als nicht-konfessionelles Wahlfach eingeführt; auch waren Inhalt und Ziele wie bei anderen Wahlfächern nicht durch das gesamtstaatliche Curriculum vorgegeben, vielmehr waren Schulen völlig frei bei der Gestaltung des Lehrplans für den Religionsunterricht. Letztlich wurde dann doch ein auf das Christentum zentrierter Lehrplan erarbeitet, der den in Estland vor dem Zweiten Weltkrieg verwendeten Lehrplänen ähnlich war. Erste Lehrbücher für den Religionsunterricht und Handbücher für Lehrer wurden aus dem Finnischen, das dem Estnischen eng verwandt ist, übersetzt. Ebenso erhielten die ersten Religionslehrer ihre Ausbildung in Finnland, das im Gegensatz zu Estland eine ununterbrochene Tradition des Religionsunterrichtes und viele Kirchenmitglieder hat.

Neuorientierung des Religionsunterrichtes

Allerdings wurde sehr schnell deutlich, dass ein neuer Ansatz für den Religionsunterricht erforderlich war, der den spezifischen Kontext des postsowjetischen Estlands berücksichtigen musste. Die Neuausrichtung geht weitgehend auf Prof. Dr. Pille Valk zurück, die zwischen 1995 und 2009 den Lehrstuhl für Religionspädagogik an der Universität Tartu innehatte. In ihrer Arbeit entwickelte sie ein kontextuelles Modell für den Religionsunterricht, das unter anderem die historisch-kulturellen Zusammenhänge, die religiöse Landschaft, rechtliche Rahmenbedingungen, lokale Bildungstraditionen und die Praxis anderer Länder mit einbezog. Valk betonte außerdem, dass der Religionsunterricht sich mit den Fragen und Problemen der Schüler selbst befassen müsste.

Die allgemeine Schulpflicht in Estland setzt sich aus dem Grundschulbereich (Schuljahre 1 bis 9) und der Sekundarstufe II (Schuljahre 10 bis 12) zusammen. 2010 wurden für beide Stufen neue nationale Lehrpläne verabschiedet. Als Ergebnis der zwanzig Jahre währenden Debatten wurde schließlich beschlossen, auch Lehrpläne für den Religionsunterricht als Wahlfach in den Bildungsplan aufzunehmen. Die Lehrpläne basierten auf Pille Valks Ideen und betonten das allgemeine Wissen über verschiedene Weltreligionen, dialogische Fähigkeiten und Toleranz. Der Grundschullehrplan umfasst drei Kurse: „Bräuche, Geschichten und Werte“, „Werte und Entscheidungen“ und „Eine Welt, verschiedene Religionen“. Für die Sekundarstufe II werden zwei Kurse beschrieben, die als „Mensch und Religion“ und „Die religiöse Landschaft Estlands“ bezeichnet werden.

Der Religionsunterricht wird in den Lehrplänen als ein Unterrichtsfach definiert, das auf den Grundsätzen der Religions- und Meinungsfreiheit basiert und Folgendes enthalten soll:
* Wissen über verschiedene Religionen und religiöse Bewegungen vermitteln; * religiöse Ausdrucksformen in der Kultur und im Leben von Mensch und Gesellschaft lehren; * Diskussion über existentielle Fragen.

Erwähnenswert ist sicher, dass das Modell des estnischen Religionsunterrichtes in Europa einzigartig ist, da es sich im Hinblick auf die Lernziele um ein nicht-konfessionelles Unterrichtsfach handelt, das gleichzeitig als Wahlfach angeboten wird.

Gemäß dem estnischen Bildungsinformationssystem wurde Religionsunterricht im Jahr 2018 an 12 Prozent der allgemein bildenden Schulen unterrichtet, darunter an 24 Prozent der Sekundar(Ober-)schulen. Aufgrund des Status als Wahlfach unterscheiden sich die Anzahl der Kurse, die Unterrichtsziele und der Inhalt des Religionsunterrichtes in den verschiedenen Schulen erheblich. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass der Erstellung von Lehrbüchern bisher nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet worden ist; außerdem hat sich die Umsetzung des neuen nationalen Lehrplans als teilweise nicht praktikabel erwiesen. All das hat zur Folge, dass die Lehrerinnen und Lehrer teilweise selbst den Lehrplan für ihren Unterricht zusammenstellen müssen. Sie tragen damit eine große Verantwortung für die Qualität des Religionsunterrichtes.

Zur Bedeutung der Lehrerausbildung

Vor diesem Hintergrund spielt die Ausbildung von Religionslehrern eine entscheidende Rolle. Sie wird derzeit ausschließlich von der Theologischen Fakultät der Universität Tartu angeboten (früher wurden auch an einigen theologischen Seminaren der evangelischen Kirche Religionslehrer ausgebildet). Die Ausbildungsvoraussetzungen sind dabei jedoch immer noch sehr unterschiedlich – einige haben einen Abschluss in Theologie oder Religionspädagogik, andere haben in anderen Fächern unterrichtet und dann im Rahmen von Nachqualifizierungskursen eine zusätzliche religionspädagogische Qualifikation erworben haben. Wieder andere haben überhaupt keine theologische oder religionspädagogische Ausbildung absolviert.

Laut einer kürzlich durchgeführten Studie legen die meisten Religionslehrer der Sekundarstufe II großen Wert darauf, Wissen über grundlegende Überzeugungen und Praktiken der Weltreligionen zu vermitteln. In der Regel achten jedoch nur jene Lehrer, die eine Ausbildung in Religionspädagogik absolviert haben, auch auf die Förderung der religiösen Entwicklung der Schüler.

Religionsunterricht an Privatschulen

Etwas anders stellt sich die Situation in den Privatschulen dar. Ihr Anteil in Estland liegt bei 9 Prozent (darunter neun christliche Schulen, also katholische, evangelische und orthodoxe). Drei der Schulen wurden erst Ende 2013 gegründet. Religionsunterricht wird in allen von ihnen unterrichtet und ist in einigen Fällen zwar nominell konfessionell ausgerichtet, scheint jedoch de facto lediglich aus der Vermittlung von einführendem Wissen über die Bibel, über christliche Traditionen und so genannte christliche Werte zu bestehen. Außerdem wird mehr Wert als üblich auf die Zusammenarbeit mit den Eltern, die Schaffung einer sicheren Lernumgebung und die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse der Schüler gelegt. Ansonsten sind die christlichen Privatschulen den säkularen staatlichen Schulen sehr ähnlich. Insbesondere müssen sie sich an die nationalen Bildungspläne halten, außer es handelt sich um Wahlfächer oder wenn ein großer Teil der Schüler nicht-christlich ist. Dies gilt auch, wenn viele Lehrer keiner Kirche angehören.

Die Position der evangelisch-lutherischen Kirche

Die lutherische Kirche als größte protestantische Kirche in Estland fördert die Ausweitung des Religionsunterrichts in den Schulen. Die Kirchenleitung argumentiert häufig, mangelnde religiöse Bildung in der Gesellschaft trage zu Problemen wie Intoleranz und Popularität pseudowissenschaftlicher und esoterischer Überzeugungen bei. Gleichzeitig bleibt ein großer Teil der Öffentlichkeit gegenüber der Religionslehre misstrauisch. Nicht selten wird der Verdacht erhoben, hinter der Forcierung des Religionsunterrichtes stehe der Versuch einer religiösen Indoktrinierung.

Ausblick

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Lage des Religionsunterrichtes in Estland in den vergangenen Jahrzehnten erheblich verbessert hat, insbesondere in Bezug auf die Entwicklung von Lehrplänen und die Lehrerausbildung. So wurden neue Unterrichtsmaterialien erstellt und die ersten zwei Lehrbücher veröffentlicht, die auf dem neuen Lehrplan basieren. Es bleibt jedoch noch viel zu tun, sowohl um mehr öffentliche Unterstützung für den Religionsunterricht zu erhalten als auch um seine Qualität zu verbessern.

Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.