Die Orthodoxe Geisteswissenschaftliche Tichon-Universität in Moskau – ihr Weg im Verlauf eines Vierteljahrhunderts

aus OWEP 2/2019  •  von Pjotr Malkow

Dr. Pjotr Malkow ist Dozent an der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen Tichon-Universität und leitet dort den Lehrstuhl für Theologie.

Zusammenfassung

Nach jahrzehntelanger Unterdrückung hat die Russische Orthodoxe Kirche in den letzten dreißig Jahren eine Wiedergeburt erlebt. Um auch in Zukunft im gesellschaftlichen Leben Russlands präsent zu sein, bedarf es hochgebildeter Experten im Bereich der Theologie und verwandter Wissenschaftszweige. Die im folgenden Beitrag vorgestellte Hochschule spielt dabei eine wesentliche Rolle.

I.

Zu den führenden Einrichtungen der heutigen theologischen Bildung in Russland gehört zweifellos die Orthodoxe Geisteswissenschaftliche Tichon-Universität. Im Vergleich mit den führenden Universitäten Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und anderer europäischer Staaten, in denen die Lehre theologischer Disziplinen auf eine lange Tradition zurückblicken kann, ist sie noch sehr jung, denn sie existiert im russischen Bildungsraum, vom Tag ihrer Gründung an gerechnet, kaum mehr als 25 Jahre. Diese höhere Lehranstalt, die zunächst nur ein kleines konfessionelles, mit dem Segen des Patriarchen Alexi II. geschaffenes Theologisches Institut war, wurde jedoch ziemlich bald zu einer Maßstäbe setzenden russischen Universität mit hoher Autorität. Heute ist sie eine nichtstaatliche höhere Lehranstalt, die gleichwohl über eine staatliche Akkreditierung verfügt und den Absolventen staatlich anerkannte Diplome verleiht; sie zählt neun Fakultäten und 41 Lehrstühle. Hier studieren mehr als 2.000 Studenten und arbeiten über 600 Dozenten. In den vergangenen 25 Jahren entließ die Universität mehr als 7.500 Spezialisten, die eine der folgenden Fakultäten beendeten: Theologie, Philologie, Pädagogik, Geschichte, Soziologie, Informatik, angewandte Mathematik, Weiterbildung, kirchliche Kunst und Kirchengesang. Als tief gläubige orthodoxe Menschen sind die Absolventen der Universität zugleich in unterschiedlichen wissenschaftlichen Gebieten professionell orientiert; in der Praxis wenden sie ihr Wissen in den verschiedenartigen Sphären des russischen kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens an.

Die Tichon-Universität entstand im Laufe der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und wurde von einigen Moskauer Geistlichen gegründet. Sie alle waren geistliche Schüler und Gleichgesinnte des bekannten, bereits verstorbenen Lehrmeisters der gläubigen Moskauer Intelligenz, des Erzpriesters Wsewolod Spiller. Zu den Gründern der Tichon-Universität zählten die Erzpriester Wladimir Worobjow, Gleb Kaleda, Walentin Asmus, Alexander Saltykow und Nikolai Sokolow. 1992 wurde Erzpriester Wladimir Worobjow zum Direktor des Tichon-Institutes gewählt; er steht bis heute der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen Tichon-Universität vor.

Die Benennung des Institutes nach dem heiligen Tichon, Patriarch von Moskau und ganz Russland, geschah alles andere als zufällig. Gerade er war es, der in dem schrecklichen revolutionären Jahrzehnt an der Spitze der russischen Kirche stand und sie in den Jahren des Bürgerkrieges und der ersten bolschewistischen Verfolgungen des orthodoxen Glaubens – von 1917 bis 1925 – führte. Er erwies sich im Bewusstsein der russischen Gläubigen des 20. Jahrhunderts als ein echtes geistliches Haupt der Gemeinschaft der Heiligen, die bis zum Tod für Christus gelitten haben und die heute in der russischen Kirche als Gemeinschaft der Neomärtyrer und der russischen Bekenner verehrt werden. Unter diesen von der Kirche kanonisierten Neomärtyrern befindet sich auch der Großvater des Rektors der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen Tichon-Universität Wladimir Worobjow, der wie sein Enkel Vater Wladimir hieß. Zeitgenosse des heiligen Tichon, wurde er dreimal verhaftet, durchlief Gefängnisse, Lager und die Verbannung und starb 1940 in der Gefangenschaft.

II.

Anfangs verfügte das Theologische Institut praktisch über keinerlei der für seine Existenz notwendigen materiellen Ressourcen: Es gab weder Geld noch Räumlichkeiten für den Unterricht. Wie Erzpriester Wladimir Worobjow ehrlich eingesteht, schien das zu dieser Zeit alles „verrückt und abenteuerlich“. Bisweilen führte man die verschiedenartigen Vorlesungen und Seminare des Instituts an einem Tag an verschiedenen Enden Moskaus durch: Dann verbrachten die Dozenten und Studenten mit den Wegen jeweils einige Stunden, wenn sie von einem Gebäude zum anderen fuhren. In jener Zeit stellten die Moskauer Staatliche Universität, das Erste Städtische Krankenhaus, verschiedene Lehrorganisationen in Moskau sowie Moskauer Kirchengemeinden dem Tichon-Institut unentgeltlich Räumlichkeiten für die Lehrveranstaltungen zur Verfügung.

Die Gehälter der Dozenten waren in jenen Jahren absolut symbolisch; an Stipendien für die Studenten war überhaupt nicht zu denken. In den ersten fünf Jahren, in denen das Institut existierte, arbeiteten die Dozenten praktisch umsonst – abends, nach Beendigung ihrer Hauptarbeit. Im Theologischen Institut gab es kein Wohnheim, deshalb waren viele auswärtige Studenten, die kein Dach über dem Kopf hatten, dazu gezwungen, in Moskauer Bahnhöfen zu übernachten. Jedoch war das Verlangen der Dozenten, zu lehren, und das der Studenten, zu lernen, so groß, dass niemand all diese Schwierigkeiten beachtete.

In Verbindung mit der im Theologischen Institut verkündeten Lehre und dem Lehrprozess waren ursprünglich überaus hohe humanistische Standards vorgegeben und wurden originäre Bildungsmethoden eingeführt, denn die Mehrheit der Dozenten des damals jungen Theologischen Instituts waren nebenamtlich auch Dozenten an einer ganzen Reihe anderer Moskauer Hochschulen; sie verfügten über große Erfahrung in der Lehrtätigkeit und über eine hohe professionelle Qualifizierung. Und auch viele der damals in das Orthodoxe Theologische Institut eingetretenen Studenten besaßen häufig schon eine erste höhere Bildung. Daher gingen sie ernsthaft und verantwortungsbewusst an die Lehre heran, sie betätigten sich schöpferisch ebenso wie systematisch. So formierte sich nach und nach eine einheitliche wissenschaftliche Tichon-Schule und mit ihr eine institutionelle theologische Tradition.

Als eine der wichtigsten geistlichen und praktischen Aufgaben des Theologischen Institutes galt die Vorbereitung der Kandidaten zur Weihe für das geistliche Amt: Viele von denen, die in diesen Jahren das Institut beendet hatten, wurden Priester und Diakone. Nicht weniger wichtig aber war auch das oberste Bildungsziel: die Lehre und die Vorbereitung von vielfältig gebildeten geisteswissenschaftlichen Spezialisten sowie die Herausbildung einer neuen – wahrhaft orthodoxen – russischen Intelligenz.

III.

Im Laufe der folgenden Jahre wuchs das Theologische Institut stetig und entwickelte sich weiter. Allmählich traten die früheren materiellen Probleme in den Hintergrund. So gelang es dem Theologischen Institut, zwei kleinere Gebäude zu erhalten, die auf dem Hof der Moskauer Kathedrale des Heiligen Nikolai in Kusnezy gelegen waren. Gerade dort, unweit der Kathedrale, befand sich nach den Worten von Erzpriester Worobjow die „Wiege“ der Universität, „wo man die ersten Seiten ihrer Geschichte schrieb“.

Am Theologischen Institut traten Mäzene auf, großzügige Wohltäter. Das waren die Vertreter des sich in dieser Zeit herausbildenden russischen Business. So befand sich das Tichon-Institut im Jahre 1997 auf der soliden Grundlage überaus bedeutsamer materieller Hilfen, vor allem seitens der Investorengruppe „ATON“ mit ihrem Leiter Jewgeni Jurjew. Ende der neunziger und Anfang der 2000er Jahre entstanden dann im Theologischen Institut neue Fakultäten, wurden neue Projekte realisiert und die Ausrichtung der pädagogischen und wissenschaftlichen Tätigkeit festgelegt. So wurde hier aktiv an der Erforschung der Verfolgungsgeschichte der russischen Kirche im 20. Jahrhundert gearbeitet; durch die Arbeiten der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Institutes mit Professor Nikolai Jemeljanow an der Spitze wurde eine umfassende Informationsbasis von Daten „derer, die für Christus gelitten haben“, geschaffen. Bis heute sind 36.000 Namen und Beschreibungen schrecklicher Schicksale von Personen erfasst, die in der Sowjetepoche für Christi Namen gelitten haben.

Im Frühjahr 2004 wurde das bisherige Theologische Institut, das zu dieser Zeit den Status einer nichtstaatlichen höheren Bildungsanstalt hatte, auf Beschluss des russischen Ministeriums für Bildung und Wissenschaft in die Orthodoxe Geisteswissenschaftliche Tichon-Universität umgewandelt. In jener Zeit war es besonders wichtig, dass sich eine internationale Zusammenarbeit der Universität mit ausländischen höheren Lehranstalten und wissenschaftlichen Zentren entwickelte, zum Beispiel mit der Humboldt-Universität (Berlin, Deutschland), der Universität Belgrad (Serbien), dem Institut für Ostchristliche Forschung (Nijmegen, Niederlande), dem Institut für Orthodoxe Forschungen (Cambridge, Großbritannien) und vielen anderen.

Im Jahre 2004 wurde der Tichon-Universität das ehemalige Moskauer Eparchialhaus übergeben – ein historisches Gebäude, in dem in den Jahren 1917-1918 die Sitzungen des Moskauer Konzils der Russischen Orthodoxen Kirche durchgeführt wurden, bekannt unter anderem auch dadurch, dass gerade während seiner Tätigkeit das unter Peter I. abgeschaffte russische Patriarchat wiederhergestellt wurde. Das der Universität übergebene Gebäude befand sich in einem desaströsen Zustand. Seine komplizierte und teure Restaurierung nahm mehr als ein Jahrzehnt in Anspruch und war erst 2015 abgeschlossen. Seit dieser Zeit dient das Eparchialhaus als Hauptverwaltungs- und Vorlesungsgebäude der Tichon-Universität. Seit 2007 verfügt die Universität auch über ein Studentenwohnheim.

IV.

Welches sind nun die wichtigsten grundlegenden Arbeitsergebnisse der Tichon-Universität in dem seit ihrer Gründung vergangenen Vierteljahrhundert? Auf diese Frage antwortet Erzpriester Wladimir Worobjow: Gerade dank der Mühe der Dozenten und überhaupt aller Mitarbeiter der Universität „konnte die orthodoxe Theologie heute in den Bildungs- und Wissenschaftsraum Russlands Einzug halten, und die geistliche Bildung verließ das Ghetto, in dem sie in den Jahren der Sowjetmacht eingeschlossen war ...“ Was hat Erzpriester Wladimir hier im Blick? Tatsächlich war einer der wichtigsten Erfolge und Siege des Rektors und einer Reihe von Mitarbeitern der Tichon-Universität die Vorbereitung und Festigung eines gesamtrussischen Standards für theologische Bildung. Und noch etwas: Dank dieser Bemühungen eröffnet sich heute für die russischen Gelehrten endlich die Möglichkeit zum Abfassen von Dissertationen und zum Erhalt des Doktorgrades auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Theologie. Und das war in Russland noch vor ganz kurzer Zeit absolut unmöglich.

Bekanntlich stellt die Theologie im Westen eine vollwertige Wissenschaft dar, sie genießt das Ansehen als unverzichtbares Gebiet wissenschaftlichen humanistischen Wissens; in den höheren Lehranstalten Europas werden praktisch überall theologische und allseits anerkannte akademische Grade verliehen. Was jedoch für die westliche Wissenschaft als natürlich und allgemein akzeptiert erscheint, blieb – im Laufe vieler Jahrzehnte – in Russland unmöglich. Russland war vor der Revolution einer der Vorreiter der theologischen Wissenschaft in Europa. Aber alles veränderte sich mit der Revolution. Denn in dem Moment, da die Oktoberrevolution gesiegt hatte, wurde der Atheismus zur allein zulässigen Ideologie. Erzpriester Worobjow bemerkt dazu: „Die Revolution von 1917 hat alles umgedreht, trennte die Kirche vom Staat, die Schule von der Kirche und bekräftigte faktisch die atheistische Weltanschauung als eine staatliche. Anfangs waren alle geistlichen Schulen geschlossen, alle Theologen verhaftet oder ins Ausland verjagt, der Religionsunterricht und alle religiösen Disziplinen gesetzlich verboten, alle Klöster und fast alle Kirchen geschlossen. Später wurde die obligatorische Lehre des ‚wissenschaftlichen Atheismus‘ eingeführt. Einige Generationen russischer Menschen wuchsen ohne den Glauben an Gott auf, in eine geistige Welt, die das Seelenlose unsinnig vergöttert, als hätte die Materie sich selbst erschaffen, ohne Anfang, ohne Ende, ewig, unverständlich wie ein Leben, das sich selbst gebiert, und ein Verstand, der sich selbst erschafft. In der materialistischen Lehre gibt es keinen Platz für die Vorstellung vom Guten und Bösen. Sie wurden als relativ definiert und folglich als unverbindlich.“

So hinterließ die atheistische Ideologie in den Jahren nach der Revolution ihre starken Wurzeln im Verstand einer großen Zahl heimischer Gelehrter, Kulturfunktionäre, Ministerialbeamter – all jener, von denen auch die sowjetische geisteswissenschaftliche Bildung abhing und dann, schon nach dem Zerfall der Sowjetunion, die russische Bildung. Im neuen Russland änderte sich selbstverständlich das Leben, und die Kirche nahm allmählich in der Gesellschaft immer mehr den ihr zustehenden Platz ein; leider aber blieb das Bewusstsein jener, von denen direkt die Möglichkeit abhing, der Theologie einen Zugang zur wissenschaftlichen Sphäre und zur Bildung auf die frühere Art zu verschaffen, äußerst atheistisch – man war absolut nicht bereit, sich mit einer beliebigen anderen Ideenposition zu befrieden. Gerade deshalb blieb in der russischen Wissenschaft und Bildung des letzten Jahrzehnts auch ein Blick auf die Theologie als einer „Lügenwissenschaft“ vorherrschend, die in ihrem Kern der einzig zulässigen Ideologie widerspricht – der atheistischen.

Aber es fanden sich in der russischen Wissenschaft und Bildung auch jene, die in einen entschlossenen Kampf für das Recht der Theologie eintraten, sich eine Wissenschaft nennen zu dürfen. Ein besonderes Verdienst in diesem Prozess kommt dem Rektor der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen Tichon-Universität, Erzpriester Wladimir Worobjow, zu. Heute zeigt in Russland der für die Theologie akzeptierte Bildungsstandard bereits seine Wirkung – man verteidigt theologische wissenschaftliche Arbeiten. Selbst Erzpriester Wladimir hebt die Bedeutung dieses errungenen Sieges für die russische Gesellschaft und für die traditionelle heimische Wissenschaft und Kultur hervor, wenn er sagt: „Gerade die theologische Bildung, der es gelang, das Bürgerrecht mit dem Namen ‚Theologie‘ zurückzuholen, kann zu einer Brücke werden, die uns mit unserer ruhmreichen Vergangenheit verbindet. Durch die theologische Bildung in unseren russischen Hochschulen bekommt auch das nationale Leben eine religiöse Kultur, es erhält geistliche Werte, feste Grundlagen für die Familie, die Gesellschaft und die Nation. Die Möglichkeit zum freiwilligen Studium der Theologie öffnet den Weg zu einer religiösen Weltanschauung. Wir gewinnen die Hoffnung auf eine geistige Gesundung der jüngeren Generation, deren geistliches Fundament auf einer Verbindung aus unserer Geschichte und Kultur beruhen wird.“

Aber auch wenn man alles das zusammennimmt, bleibt als hauptsächlich grundlegendes Ergebnis der Tätigkeit der Orthodoxen Geisteswissenschaftlichen Tichon-Universität nicht ihr wissenschaftlicher Erfolg, nicht ihr wesentlicher Beitrag zum russlandweiten Bildungsprozess und nicht einmal die tätige Teilnahme an der „Legalisierung“ der Theologie als einer vollwertigen humanistischen Wissenschaft. Hauptergebnis der Universitätstätigkeit sind nach Überzeugung von Erzpriester Wladimir Worobjow die Absolventen – talentierte, tief gläubige und gut ausgebildete Menschen, die bereit sind, der Kirche und der Gesellschaft auf den unterschiedlichsten Gebieten des Lebens zu dienen, im Rang von Priestern, in staatlichen Ämtern, in den Massenmedien, in wissenschaftlichen Zentren, in der pädagogischen Arbeit. Mit ihnen wirkt die Russische Orthodoxe Kirche gerade heute auf das Leben der russischen Gesellschaft ein, indem sie ihr eine moralische Richtung und eine Hoffnung auf Entwicklung und Bewegung in die Zukunft zeigt.

Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.