Blick zurück und Blick nach vorn

Anmerkungen zur „Bilanz ohne Illusion“
aus OWEP 3/2019  •  von Christof Dahm

Dr. Christof Dahm ist der Redakteur vom Dienst der Zeitschrift OST-West. Europäische Perspektiven.

Zusammenfassung

Aus den Zeugnissen lassen sich trotz aller Verschiedenheit einige gemeinsame Grundstrukturen herauslesen, so z. B. das Staunen darüber, dass die Veränderungen fast durchgehend gewaltlos erfolgten, oder die Unsicherheit hinsichtlich der künftigen Entwicklung Europas. Die folgenden Anmerkungen beanspruchen keinerlei Deutungshoheit, sondern möchten lediglich Anstöße zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik geben.

Wenn man die vorhergehenden Texte Revue passieren lässt, fällt es nicht leicht, Schwerpunkte zu finden. Dennoch lassen sich einige Gemeinsamkeiten trotz aller Unterschiede herausziehen.

Grundsätzlich ähneln sich die Beiträge in der Bewertung der Veränderungen, die seit 1989 und zum Teil auch schon vorher eingetreten sind. Umbruch und Wandel brachten auf jeden Fall sehr viel Neues, Gutes und Positives, hinter das man nicht mehr zurückgehen möchte (z. B. Albani, Roschka, Tolmik). Genannt werden Demokratisierung, Pressefreiheit und Reisefreiheit und überhaupt die neuen Möglichkeiten zur Entfaltung der Persönlichkeit. Zugleich klingt an, dass die Veränderungen auch negative Entwicklungen nach sich zogen: Zum einen geht es um die Folgen eines ungezügelten Kapitalismus („Marktwirtschaft ohne Attribute“), aber auch Prostitution und Korruption werden genannt (Kavková). Schwerwiegender sind jedoch die Hinweise auf den Verfall der auf christlichen Traditionen aufbauenden Werte in vielen Gesellschaften (Koncz, Skiba). Damit verbunden ist der grundsätzliche Vorwurf, der Westen ignoriere bis heute das, was im Osten auch an Positivem vorhanden war, etwa die größere Solidarität unter den Menschen oder der bewusstere Umgang mit knappen Ressourcen (Segert).

Deutlich wird, wenn man die Zuordnung der Beiträge nach Ländern betrachtet, dass sich die Situation in der Ukraine (Beigelzimer, Kulke, Sigow) und in Serbien – stellvertretend für das auseinandergebrochene Jugoslawien – von den anderen Beispielen erheblich unterscheidet. Die ukrainischen Texte lassen den Stolz auf das seit der Unabhängigkeit Erreichte erkennen, auch die Genugtuung über die Erfolge in der „Orangenen Revolution“ und der „Revolution der Würde“. Ebenso klingt aber auch der Unmut darüber an, dass man sich angesichts des Kriegs im Donbass und der schon fast verdrängten Okkupation der Krim durch Russland vom Westen im Stich gelassen fühlt. Verhehlen lässt sich auch nicht eine gewisse Resignation im Blick auf die innenpolitische Entwicklung des Landes. Der Beitrag aus Serbien erinnert an die paradoxe Situation, dass 1989 in Berlin und anderswo Mauern und Zäune gefallen sind, zwischen den Nachfolgestaaten Jugoslawien hingegen neue Mauern und Grenzen entstanden sind, sowohl physisch als auch in den Köpfen der Menschen (Mihailović).

Mit dem Stichwort „neue Mauern“ (oder Blockaden) lassen sich einige Bemerkungen zusammenfassen, die sich besonders auf die Entwicklungen der letzten Jahre beziehen. Die Euphorie der Wendezeit ist verflogen, die Staaten des ehemaligen Ostblocks sind in der Realität des 21. Jahrhunderts angekommen. Die Mitgliedschaft in der Europäischen Union hat, wie vielfach anklingt, zwar materiellen Fortschritt gebracht, konnte und kann jedoch – was eigentlich selbstverständlich ist – nicht alle Probleme lösen. Die Texte aus Polen und Ungarn stehen stellvertretend für ein verbreitetes Unbehagen, das sich auch in Veränderungen innerhalb der Gesellschaft niederschlägt und die Politik gerade dieser Länder prägt: Einerseits ist eine Rückkehr zu vermeintlichen oder tatsächlichen traditionellen Werten zu beobachten mit der Folge der Ausgrenzung derer, die nicht dazu gehören (Ozimek, Polanowski), andererseits sehen viele Menschen angesichts der immer stärker werdenden Säkularisierungstendenzen in ganz Europa gerade in der Besinnung auf die christliche Tradition einen oder sogar den einzigen Weg für eine gedeihliche Zukunft Europas (Koncz, Schiffbeck, Skiba, Soós).

Damit eng verbunden ist ein weiterer Aspekt: Nicht nur zwischen den Ländern, die den Umbruch erfahren haben, und dem „alten Europa“ vertiefen sich die Gräben in den letzten Jahren, vielmehr gilt dies auch innerhalb dieser Länder. Wieder sind es besonders die Beiträge aus Ungarn und Polen, aber auch aus dem Bereich der ehemaligen DDR, in denen von „Spaltung bis in die Familien hinein“ die Rede ist. Angesichts hoher Zustimmungswerte für populistische Strömungen auf der einen Seite und teilweiser Verklärung der „guten alten Zeit“ auf der anderen Seite macht sich Ratlosigkeit breit, die in Formulierungen wie „Generation dazwischen“ (Roschka) oder „wirkliche Einheit erst in der nachfolgenden Generation“ (Gorges-Diehl) ihren Niederschlag findet. Ähnlich pessimistisch – oder besser: realistisch – sind Aussagen, in denen auf die Zeit hingewiesen wird, bis dass der Ostteil Europas die Folgen der kommunistischen Regime überwunden haben wird: 40 Jahre (Koncz) oder noch länger, vielleicht 70, also die Zeit der Existenz der Sowjetunion. Entsprechend lange muss man warten, bis der „homo sovieticus“ verschwunden ist (Sigow).

Dennoch bleibt festzuhalten: Bei einer Gesamtbilanz der letzten 30 Jahre überwiegt unter dem Strich nicht der Verlust, sondern der Gewinn. Immer wieder klingt an, wie wichtig es ist, sich an die Ereignisse der Umbruchszeit zu erinnern und den damaligen fast grenzenlosen Optimismus wieder aufleben zu lassen. Man sollte sich viel öfter daran erinnern, was in der „Wendezeit“ trotz aller Risiken möglich war (Kavková, Stelmaszyk) – und dass es im Nachhinein immer noch wie ein Wunder erscheint, dass Mauern und Grenzen fast über Nacht verschwunden sind und das sowjetische System wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen ist. All das beinhaltet auch eine klare Botschaft an das „alte Europa“, diese Leistung nicht klein zu reden, sondern sie auch und gerade heute angemessen zu würdigen. Es ist durchaus legitim, hier an das Wirken des Heiligen Geistes für Europa, auf das Papst Johannes Paul II. bereits 1979 in Warschau eindringlich hingewiesen hat, zu erinnern – auch er hat Anteil daran, dass der „Traum von 1989“ (Křižek, Mikluscák, Uzolina) wahr geworden ist. An dieser Stelle sei eine persönliche Bemerkung des Verfassers gestattet, der 1985 fast drei Monate in Polen verbracht hat: Der „Geist des Wandels“ war, obwohl das Land unter Kriegsrecht stand, schon damals zu spüren, man hoffte auf eine Zukunft Polens durch eine „Rückkehr nach Europa“. Mit diesem Appell enden auch viele Beiträge – Zukunft hat allein das „Friedensprojekt Europa“, aber daran muss weiter hart gearbeitet werden.