Jan Hus und die Tschechen

aus OWEP 1/2000  •  von Ferdinand Seibt

Prof. Dr. Ferdinand Seibt ist Vorsitzender des Collegium Carolinum (Forschungsstelle für die böhmischen Länder, München) und Mitglied der deutsch-tschechischen und deutsch-slowakischen Historikerkommission.

Am 6. Juli 1415 wurde Jan Hus, seines Priesteramtes entkleidet, aus der Kirche verstoßen und von dem zu Konstanz tagenden XVI. Allgemeinen Konzil der weltlichen Macht übergeben. Der Pfalzgraf bei Rhein waltete seines schreckliches Amtes. Jan Hus erlitt den Feuertod, eine Hinrichtungsweise, zu deren Vollzug im Auftrag der Kirche sich die römisch-deutschen Kaiser als Schutzvögte der Christenheit seit Friedrich II. ausdrücklich verpflichtet hatten. Zwei Wochen danach traf bei den Konzilsvätern eine Urkunde ein, an der 452 Siegel hingen. Der Adel von Böhmen und Mähren sagte dem Allgemeinen Konzil seine Fehde an, weil er sich zum Schutz von Jan Hus und dem guten Ruf des Landes verpflichtet fühlte. Das Konstanzer Konzil ist dennoch vom böhmischen Adel niemals militärisch attackiert worden. Der römisch-deutsche König und künftige Kaiser Sigismund aber ist seither des Wortbruchs angeklagt worden, denn er hatte dem Prager Prediger und Professor Jan Hus einen Geleitbrief nach Konstanz ausgestellt. Bei ihm beklagen sich die Stände aus Böhmen und Mähren auch schon vor dem Prozessende, das alles sei gegen die Ehre der tschechischen Zunge.

Die böhmischen Freunde und Anhänger Hussens wurden allesamt der Häresie angeklagt und kirchlich verfolgt, in einzelnen Prozessen noch über die Mitte des 15. Jahrhunderts, vornehmlich in Deutschland. Sie wurden von der Kirche bekämpft, als sie sich vier Jahre nach Hussens Tod in Böhmen erhoben und dank ihres revolutionären Elans und mit Hilfe einer neuen militärischen Taktik, die das Fußvolk und die neuen Pulvergeschütze einzusetzen wusste, auch in fünf Feldzügen nicht zu besiegen waren. Vier davon waren vom Papst offiziell als Kreuzzüge ausgerufen worden. Erst ein Kompromiss auf dem nächsten Allgemeinen Konzil von Basel beruhigte die Christenheit in Mitteleuropa. Mit diesem Kompromiss von 1436 lebten fortan in Böhmen die Anhänger der alten Kirche und die Anhänger Hussens nebeneinander, der Konfessionalismus im lateinischen Europa hatte seinen Anfang genommen. Die Päpste haben diesen Kompromiss allerdings niemals anerkannt.

Die meisten adeligen Herren in Böhmen, weit weniger in Mähren, kaum einer in Schlesien, das damals ebenfalls böhmisch war, hielten fest am Andenken Hussens als eines aufrechten und unbescholtenen Mannes, der zu Unrecht und zur Schande der tschechischen Zunge in Konstanz verurteilt worden war, ohne überführt und ohne geständig zu sein, inconvictus et non confessus. Viele Gläubige, Priester und Magister, die Notabeln der drei Prager Städte, der vielen böhmischen Kleinstädte und der im Anliegen der neuen religiösen Bewegung neugegründeten Stadt Tabor, sahen in ihm einen Märtyrer der Bewegung. Zwar erhoben ihn nur die Konservativeren unter ihnen auch buchstäblich zur Ehre der Altäre in Liturgie und Bild, die beide von den radikalen Neuerern abgelehnt wurden. Aber es bleibt kein Zweifel, dass Jan Hus in aller Augen als unschuldiges Opfer des Konzilsgerichts galt, der standhaft die Wahrheit verteidigt hatte. Worin die Wahrheit bestand, darin wurden die Reformer, bald Rebellen und schließlich Revolutionäre im ausgesprochenen Sinn, untereinander nicht recht einig. Aber im Stillen wirkte die Tatsache, dass Hussens Schicksal wie eine imitatio Christi vor aller Augen stand, dessen Prozess bekanntlich ebenso den Eindruck der Unschuld hinterlasssen hatte - und dessen Nachfolge alle bekannten: die böhmischen, vier Jahre nach Hussens Tod gewaltsam aufgestandenen Kirchenreformer ebenso wie die Kreuzfahrer, die eher marodierend als kämpfend nach Böhmen zogen und für gewöhnlich vor den Hussitenheeren die Flucht ergriffen.

Jan Hus und die deutschen Reformatoren

Auf seinem Weg nach Konstanz im Herbst 1414 hatte Hus seinerzeit von Waldsassen über Nürnberg durch Franken und Schwaben freundliche Aufnahme und aufmerksame Zuhörer gefunden. Nach seinem Tod gab es auch in Deutschland Sympathisanten, gar Anhänger, und noch im späteren Verlauf des Jahrhunderts "deutsche Hussiten". Meist wurden sie nur durch kirchliche Gerichtsverfahren bekannt. Angesehene Gelehrte wie Wessel Gansfoort oder Jakob Vener äußerten sich mit Anteilnahme. Als sich Martin Luther, fast genau hundert Jahre nach Hussens Tod, auf der berühmten Leipziger Disputation von Johannes Eck in die Enge gedrängt sah, übertrat er mit dem berühmten Satz: "Auch Konzilien können irren!" die Grenzen der Rechtgläubigkeit. Der Satz war zugunsten Hussens gesprochen. Und fortan blieb, durch Luther und die gesamte breite Entwicklung des Luthertums, Hus nirgendwo, auch nicht in Böhmen, ein so umfassendes und ehrenvolles Andenken gesichert, wie eben gerade in Deutschland. In Deutschland wurden Hussens Schriften um die Mitte des 16. Jahrhunderts gedruckt, in heute noch benützten Ausgaben. In Deutschland ging er in die neue Selbstdarstellung der protestantischen Kirchengeschichte ein. In Deutschland galt bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Varianten oder dem Sinne nach Luthers Satz: "...dass wir alle Hussiten gewesen sind, ohne es zu wissen".

In Böhmen und Mähren, in Schlesien und in den Lausitzen, die damals als Königreich Böhmen miteinander den größten Territorialblock im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation bildeten, bei Tschechen wie bei Deutschen, die diese vier Ländern bewohnten, war das Andenken Hussens zwiespältig. Hier wurde, nach dem Tod des böhmischen Königs bei Ausbruch der Revolution und angesichts der Unfähigkeit seines legitimen Nachfolgers Sigismund, eben diesen Thron zu erobern, in einer mehr oder minder stabilen Adelsrepublik fünfzehn Jahre die böhmische Integrität trotz konfessioneller Instabilität verteidigt und behauptet. Das tschechische Mähren, das deutsche Schlesien und die mehr oder minder deutschsprachigen Lausitzen blieben katholisch, zum Teil sogar dezidiert und als besondere Stütze der alten Kirche. Auch die böhmischen Hussiten hatten nicht das ganze Land in ihren Händen. Der überwiegend von Deutschen besiedelte nördliche Elbebogen zählte nicht dazu, auch nicht das westböhmische Egerland, das ohnehin als Reichsland manchen Sonderweg ging, aber auch nicht die vornehmlich tschechischen bedeutenden Grenzstädte im Süden Pilsen und Budweis.

Andererseits gab es auch deutsche Hussiten im Land, vornehmlich auf dem religiös arrangierten "linken" Flügel der Bewegung. Es gab augenscheinlich Kontakte zu den deutschen Waldensern, die als Kolonisten gekommen waren, und das zweisprachig bewohnte Saaz (Žatec) sandte Emissäre aus, um in Deutschland für die Bewegung zu werben. Das zeigt, dass der "Hussitismus" nicht nur eine Sache der Tschechen war. Der tschechische "Eiserne Bischof" Jan von Olmütz stand ebenso dagegen wie der deutsche Prager Erzbischof Konrad dafür. Er kam aus Westfalen nach Böhmen und lebte bis zu seinem Tod 1431 unter stiller Duldung der politischen Kräfte und lange auch in vorsichtiger Abwägung der päpstlichen Diplomatie im Lande, nachdem er sich 1421 zu den Vier Prager Artikeln bekannt hatte, dem hussitischen Rahmenprogramm. Der historische „Hussitismus“ war also nicht einfach eine Sache der Tschechen.

Nicht gleichermaßen wichtig, aber doch der Erinnerung wert bleibt dabei, dass die Hussiten selber sich niemals so nennen oder so genannt werden wollten. War doch diese Bezeichnung eine inquisitionsübliche Nomenklatur der Anhänger eines Verketzerten. Aber immerhin steckt auch darin der Mangel klarer Identifikation. Die Sache Hussens genoss bei der politischen und meinungsbildenden Elite im Lande wohl weit mehr Anerkennung als das Anliegen der Revolution, die sich nur unter anderem auf ihn und sein Martyrium berief, während sie auf ihrem rechten Flügel so etwas verfolgte wie eine böhmische Nationalkirche, tschechisch betont, auf ihrem linken Flügel aber eher den Idealen der christlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zugetan war. Dort hatten auch die deutschen Hussiten ihren Platz.

Die Geschichte Hussens überstand die Hussitenzeit bei weitem und leichthin, wie andere oft eher formal als sachlich umstrittene Prozesse der Weltgeschichte. Sie war nicht die Ursache der hussitischen Revolution, aber ein mutmaßlich unersetzlicher Bestandteil, und sie wurde umgekehrt durch den spektakulären Verlauf der Kämpfe mit den schier unüberwindlichen Böhmen wiederum der Weltgeschichte eingeprägt. Nach den "Basler (Prager) Kompaktaten" von 1436 in Böhmen in der Überzahl, in Mähren, Schlesien und den Lausitzen aber gar nicht oder kaum vertreten, bestand eine Kirchengemeinschaft aus den "gemäßigten" Hussiten, mit Kelchkommunion und armen Kirchengemeinden, die Hus als ihren obersten Schutzpatron verehrten. Päpstlich nicht anerkannt, aber die apostolische Sukzession ihrer Priester beachtend, ist sie 1919 von neuem begründet worden. Sie vertritt heute in Prag am klarsten das religiöse Bekenntnis zu Jan Hus.

In biblischem Fundamentalismus den Reformideen Hussens vielleicht näher, entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Gemeinschaft der Böhmischen und Mährischen Brüder, die Brüderunion, die Hussens Andenken durch ihre Begründung der protestantischen Weltmission seit dem 17. Jahrhundert in alle Welt trug. Währenddem fand Hus in seinem Heimatland, von 1526 bis 1918 von Habsburgern regiert, keine uneingeschränkte Verehrung, auch nicht unter dem Vorzeichen der böhmischen Toleranz. Als Thomas Müntzer 1521 als Prediger in der Prager Altstadt "Hussens Posaunen" erklingen lassen wollte, wies ihn der Rat als Aufrührer aus der Stadt. Immerhin kam mit dem Luthertum auch ein neuer Impuls zugunsten Hussens ins Land, so dass Zacharias Theobald, ein deutschböhmischer Lutheraner, in seiner Hussitengeschichte um 1610 von der hussitischen Morgendämmerung reden konnte, der das lutherische Tageslicht folgte. Das populäre Bild von Luther als dem Schwan, der auf die Gans Jan Hus - eine sprachlich ungerechtfertigte Anspielung auf seinen Namen - gefolgt sei, um das Werk zu vollenden, scheint bei Deutschen wie bei Tschechen verbreitet gewesen zu sein. Politisch virulent wurde Hussens Gedächtnis in der böhmischen Revolution von 1618, die gemeinhin als "Ständeaufstand" verkannt und verkleinert wird.

"Hussus redivivus" schrieben damals die böhmischen Rebellen nach Deutschland und ersuchten damit um Solidarität, und sächsische Theologen berieten ihren Kurfürsten auch wirklich in diesem Sinn. Die deutschen protestantischen Fürsten griffen allerdings erst dann zum Schwert, als sie mit dem Schicksal des Kurfürsten von der Pfalz, den die Böhmen anstelle des Habsburgers Ferdinand II. 1619 zum König gewählt hatten, im strengen habsburgischen Strafgericht die fürstliche Freiheit in Deutschland und damit auch ihre Angelegenheiten bedroht sahen. So entstand der 30-jährige Krieg. Der Versuch, über den Namen von Jan Hus mit dem "böhmischen Ohrlöffel" die Deutschen für ihre Sache zu gewinnen, war fehlgeschlagen. Allerdings war diese Ständerevolution, sehr ähnlich den beinahe gleichzeitigen Ereignissen in England und den vorangegangenen in den Niederlanden, keine tschechische Sache. Unter den 27 Delinquenten, welche die Habsburger nachher auf dem Altstädter Ring in Prag hinrichten ließen, waren mindestens zehn Deutsche, wenn wir einmal moderne Kriterien nationaler Zugehörigkeit anlegen. Es ging um Ständefreiheit, um Adelsrechte, um dieselbe Vorstufe des Parlamentarismus, die man in der englischen Geschichte so hoch preist. Nur dass sie in Mitteleuropa für 30 Jahre lang die Kriegsfurie losließen, mit und ohne Hus in Böhmen, für oder gegen Luther in Deutschland, mitunter auch mit oder gegen Calvin.

Damals mussten rund 150.000 die böhmischen Länder verlassen, und als Emigranten trugen sie noch einmal den Namen Hussens in die Welt, vornehmlich die verehrungswürdigste Gestalt unter ihnen, unter anderem vergeblich um konfessionelle Versöhnung bemüht, Jan Amos Comenius. Es ging also nicht nur um Hus und die Hussiten, bis dahin schon zu einem Begriff in der unklaren Erinnerung zusammengewachsen, in jener habsburgischen Reaktion auf die Ständerevolution von 1618, die man hier vielleicht noch mit der größten Berechtigung als "Gegenreformation" bezeichnen kann. Es ging um eine Verbindung von absoluter Herrschermacht und katholischer Religion, die gemeinsam mit dem neuen Baustil, dem Barock, Europa fortan in eine kulturelle Nord- und eine Südhälfte spaltete. Aber die Verbindung von Ständefreiheit, Revolution und der böhmischen Sache setzte sich fest. Sie war dabei auch imstande, konfessionelle Grenzen zu überspringen. Der bedeutende tschechische Jesuit Bohuslav Balbín zählte auch Hus zu den großen Männern seiner böhmischen Heimat, und wenn auch Bücherverbrennung und strenge Zensur sein Andenken zu unterdrücken suchten, lebte es dennoch fort, im Krypto-Protestantismus ebenso wie in den heimlichen Büchersendungen aus Deutschland, die etwa von den Franckeschen Stiftungen in Halle ausgingen. Hus blieb bei den Tschechen in Erinnerung.

Aufklärung und Bürgertum

Von neuem lebendig wurde er dann freilich erst mit dem Aufstieg eines böhmischen Bildungsbürgertums. Man muss sich vor Augen halten, dass die böhmischen Länder, wie weite Teile Deutschlands auch, durch den 30-jährigen Krieg nicht nur auf dem flachen Lande in Grund und Boden geschädigt wurden, sondern dass auch das böhmische Bürgertum gleich welcher Zunge, angeschlagen bereits durch die Hussitenkriege und in seiner wirtschaftlichen Aktivität beeinträchtigt und geschädigt, zweihundert Jahre später im 30-jährigen Krieg von neuem Verwüstung und Zerstörung ertragen musste, ähnlich wie in Deutschland die weitaus größeren, potenteren Zentren der bürgerlichen Wirtschaft, des Wohlstands und auch der Bildung. Nicht nur Magdeburg wurde damals verbrannt - dieses Ereignis ist nur ein besonders erschütterndes Exempel. Hundert Jahre dauerte es im Großen und Ganzen, bis sich Mitteleuropa von den Kriegswirren erholte, auch bis die gewaltigen Bevölkerungsverluste wieder aufgeholt waren, in Stadt und Land, in Bayern wie in Westfalen. So entwickelte sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts von neuem eine hoffnungsvolle Grundlage für bürgerliche Existenz auch in den zahlreichen kleinen und in der einzigen großen Stadt des böhmischen Königreichs, wenn wir das noch immer böhmische, aber von Deutschen bewohnte Breslau außer Acht lassen, in Prag nämlich, zu jener Zeit etwa zur Hälfte deutsch mit einem großen jüdischen Bevölkerungsanteil. Das katholische Olmütz und das erst allmählich aufsteigende Brünn folgten der Prager Entwicklung mit Abstand.

Die "aufgeklärten" Reformen Maria Theresias und die radikaleren ihres Sohnes Joseph hatten für eine Zeit Österreich an die Spitze aufgeklärter Politik auf dem Kontinent gebracht, und das war ein wichtiger Impuls auch für die Bildung eines aufgeklärten Bürgertums unter französischem und deutschem Einfluss. Dabei kam die Geschichte nun wieder zu Ehren, mit größerer Bewegungsfreiheit, seit 1781 Kaiser Joseph II. in Österreich wie in Böhmen die konfessionelle Toleranz verkündet hatte. Das war auch ein neuer Impuls für Deutsche und Tschechen zur Erinnerung an den unglücklichen Delinquenten von Konstanz. Dabei mischten sich bereits neue Farben in den Rückblick. "Die alten treuen Tschechen" begannen, wenn auch noch auf gebildetem Niveau und deshalb in deutscher Sprache, ihre eigene Geschichte zu suchen und dabei auch von Unrecht und Unterdrückung zu sprechen, und wer vermochte Unrecht gegenüber der tschechischen Nation besser zu exemplifizieren, als eben der Prager Reformer Jan Hus! Schon die adeligen Klagen vor dem Konzil von 1415 hatten von der verletzten Ehre der böhmischen Zunge gesprochen, und diese Begrifflichkeit ging allmählich über in den Begriff der Nation. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als man sich bemühte, über Lexika und Grammatiken die tschechische Sprache wieder neu zu formen, was Goethe seinerzeit ebenso freudig begrüßte wie Herder, der eine große Zukunft für alle Slawen vorausgesagt hatte, verdrängte allmählich ein tschechisches Geschichtsbewusstsein das übernationale böhmische. Es begann eine stille Separation der beiden Sprachen und ihrer Nationen in Böhmen und Mähren, von denen die Deutschen rund ein Drittel ausmachten, gewachsen in den letzten Jahrhunderten, und zugleich auch ein Stück weiter fortgeschritten im bürgerlichen Unternehmertum, in der Agrartechnik, schließlich auch im Handel und Bankgewerbe.

Die tschechische Nation folgte diesem Weg bekanntlich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem grandiosen Aufschwung auf allen "bürgerlichen" Lebensgebieten, der gleichzeitig aus mehreren Gründen begleitet war von einem Niedergang der politischen wie der wirtschaftlichen Rolle des böhmischen Adels. Und zur tschechischen Geschichte gehörte bald unbedingt die Erinnerung an Hus und die Hussiten.

Das schuf nicht nur versteckte Loyalitätsprobleme, wenn man Jan Hus für einen modernen Tschechen hielt, der unter kaiserlichem Befehl verbrannt worden war, wenn auch Hus selbst eben kein modernes nationales Selbstbewusstsein besaß und Kaiser Sigismund kein Habsburger war. Das schuf vor allem religiöse Konflikte, denn 95% der tschechischen Bevölkerung waren römisch-katholisch getauft und erzogen, und hier war Hus nicht der passende Heilige. Die Gegenreformation hatte an seiner Stelle, wie man mutmaßte, absichtlich, um die Erinnerung an ihn zu verdrängen, 1728 den von König Wenzel ermordeten Prager Generalvikar Jan Nepomuk zur Ehre der Altäre erhoben, und nicht nur dort, sondern über allen europäischen Brücken stand dieser Heilige in wenigen Jahrzehnten, ein internationales Symbol katholischer Glaubenskraft. Jan von Nepomuk war Deutscher. Jan von Hussinetz war Tscheche, aber der nationale Gegensatz trat zunächst noch zurück vor dem liberalen Interesse an dem Konstanzer Bekenner.

In der Interpretation seines Prozesses, wie ihn die Geschichtswissenschaft mit tschechischen wie deutschen Helfern allmählich entrollte, lief seine Forderung darauf hinaus, aus der Bibel widerlegt zu werden und nur für die Wahrheit einzutreten. Das war der Ausweg aus konfessionellen wie loyalen Zwängen: Jan Hus als der Apostel der Wahrheit fand noch einmal internationale Zustimmung - von Konstanz, wo man das erste Dampfschiff auf dem Bodensee nach ihm benannte, bis nach Tabor, der alten Hussitenstadt, wo man sein Andenken zu jeder Zeit hochhielt.

Jan Hus – ein tschechischer Nationalheiliger?

Nur wich der liberale Akzent seit der Mitte des 19. Jahrhunderts doch dem nationalen. Franz Palacky, der große Hussitenforscher, war Protestant. Jan Sedlák, der große Hus-Biograph an der Schwelle des Ersten Weltkrieges, war katholischer Priester. Die schwierige Aufgabe des tschechischen Katholizismus im Streit um Jan Hus lag in seinen Händen: Es gab dafür keinen Ausweg, Hus hatte dem Konzil widersprochen und namentlich in Fragen der Ekklesiologie geirrt, allerdings nicht im Hinblick auf die Remanenz.

Aber das nationale Bekenntnis zu ihm ließ sich nicht unterdrücken. 1916 wurde das monumentale Hus-Denkmal von Ladislav Šalonn auf dem Altstädter Ring in Prag enthüllt, eines der städtebaulichen Zentren des tschechischen Selbstbewusstseins, da, wo Zeit und Raum einander begegnen und noch heute Geschichte anschaulich machen. Die Gruppendarstellung des gewaltigen Bronzeblocks im Stil von Rodin zeigt Hus nicht als konfessionellen Apostel, sondern als Protomartyrer für die Wahrheit. "Liebet Euch, gönnt jedem die Wahrheit. Halte die Wahrheit bis zum Tode!" Ein Hus-Zitat auf dem Denkmal, das die nationale Solidarität mit einem Überlegenheitsanspruch verbindet. Der Griff nach der Wahrheit, der überlegenen Wahrheit, ist immer ein wichtiger Schritt in einer jeden Revolution. Damit bricht sie die konventionelle Legitimität.

So zählt auch die Erinnerung an Jan Hus zu den Motiven der unblutigen Revolution, aus der im Oktober 1918 die neue tschechoslowakische Republik entstand. Und ihr Wappenspruch hieß dementsprechend: "Die Wahrheit siegt!" Ein vermeintliches Hus-Zitat. Kaum jemand dachte daran, dass das eigentlich ein Bibelzitat ist und vollständig heißt: "Die Wahrheit Gottes siegt!"

Ein Hus-Feiertag in der Ersten Tschechoslowakischen Republik führte dann fast zum Bruch mit dem Vatikan. Wieviel innere Konflikte für den tschechischen Katholizismus mit dem Streit um Jan Hus einhergingen, ist diplomatischen Akten zu entnehmen. Die größte Kirchenaustrittsbewegung Europas außerhalb der Sowjetunion mag vielleicht davon ein Zeugnis geben, das man aber nicht zur Kenntnis nehmen sollte, ohne dabei die Gewissenskonflikte mit abzuwägen, die in jenen Jahrzehnten der Auseinandersetzung zwischen Kirche und Nation als kollektivem Bekenntnis und Orientierungswert nicht nur die Tschechen heimsuchten, sondern auch uns Deutsche.

Hus als Symbol des Standhaften gegen jede Form von Unterdrückung - nach nur zwanzig Jahren stand die tschechische Gesellschaft schon wieder vor dem gleichen Problem. Und wie sehr und wie eng dem nationalsozialistischen Terror nach kaum drei Jahren der kommunistische folgte, und wie der eine dem anderen förmlich in die Hände gespielt hatte, das beschäftigt gerade die neuesten Untersuchungen. So war Jan Hus denn auch bald zu einer Symbolfigur für die tschechischen Dissidenten geworden. Nicht, dass diese Dissidenten sonderlich religiös gewesen wären. Der mutige und oft verzweifelte Kirchenkampf in der Tschechoslowakei ging andere Wege. Aber gerade er hat sich natürlich nicht auf Jan Hus berufen.

1993 hat ein internationales Symposion zum ersten Mal in der Geschichte Tschechen und Deutsche, Hussiten, Protestanten und Katholiken auf einem Symposion in Bayreuth vereinigt, inspiriert von Kardinal Willebrands, in Anwesenheit von Kardinal Cassidy und dem einst für die Ökumene zuständigen protestantischen Bischof Engelhardt, beschickt von fast allen Gelehrten, die in den Nachkriegsjahrzehnten über Hus geforscht und publiziert hatten. 1998 erschien das entsprechende deutsche Sammelwerk1, dem zwei Jahre zuvor ein kürzeres in tschechischer Sprache vorausgegangen war. In nächster Zeit soll die Frage Hussens noch einmal in Rom erörtert werden. Sie ist gewiss von Belang für die irdische wie für die kirchliche Gerechtigkeit, sie ist aber von besonderer Bedeutung für das Ansehen des tschechischen Katholizismus in seiner Gegenwart. Eine erneute Prüfung des Hus-Prozesses von ehedem scheint mir persönlich allerdings nicht zu einer Negation des historischen Befundes geeignet und imstande. Viel näher liegt es wohl, in Jan Hus einen Heiligen der Ökumene zu erkennen, unter voller Anerkennung seiner Subjektivität bei historischer Erläuterung der Katastrophe unter den gegebenen Umständen. Vielleicht ist das die entscheidende Frage auch für die gespaltene Erinnerung an Jan Hus bei den tschechischen Katholiken.


Fußnote:


  1. Ferdinand Seibt (Hg.), Jan Hus – Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. Vorträge des internationalen Symposions in Bayreuth vom 22. bis 26. September 1993. München: Oldenbourg, 1998. ↩︎