Die polnisch-ukrainischen Beziehungen

Resultate eines Jahrzehnts unabhängiger Koexistenz
aus OWEP 2/2001  •  von Taras Wosnjak

Taras Wosnjak ist Politologe, Philosoph, Kulturwissenschaftler und Chefredakteur der unabhängigen Kulturzeitschrift „Ji“ in Lwiw.

Die 90er Jahre lassen sich als Übergangsetappe zur Schaffung einer neuen europäischen Ordnung betrachten. Der erste praktische Schritt in diese Richtung war ohne Zweifel die Erweiterung des NATO-Sicherheitsschirms auf Polen, Tschechien und Ungarn. Praktisch alle Länder Mittel- und Osteuropas gerieten unter den politischen Einfluss der Allianz im Rahmen der „Partnerschaft für den Frieden“. Unter diesem Dach vollzieht sich die EU-Erweiterung in mehreren Etappen: eine erste mit Polen, Tschechien, Ungarn, Zypern, Estland und Slowenien, und eine zweite, zu der voraussichtlich Bulgarien, Rumänien, Lettland, Litauen, die Slowakei und andere gehören werden. Doch wird es einmal auch eine dritte Gruppe geben, in der die Ukraine vertreten sein wird?

Als Resultat dieser Entwicklungen kann die Ukraine sich sehr bald zwischen drei Staatengruppen befinden: den 19 Mitgliedern der NATO bzw. 26 Mitgliedern der EU; der Russischen Föderation zusammen mit Weißrussland und vielleicht anderen Staaten der GUS; den Ländern, die nicht Mitglieder von NATO und EU sind, aber dorthin streben. Nach Abschluss der ersten und zweiten Runde der Erweiterung von NATO und EU wird in Europa praktisch ein militärisch, politisch und wirtschaftlich mächtiger Kern gebildet werden, der eng mit den USA verbunden sein und sich an seiner Peripherie an ihnen orientieren wird.

Grundziele ukrainischer Außenpolitik

Ausgehend von dieser Lage hat die Ukraine eine Strategie ihrer Außenpolitik ausgearbeitet, deren Grundziele von Experten wie folgt beschrieben werden:

  1. „Die Herstellung von Bedingungen, unter denen die Ukraine sich um den Zustand ihrer Sicherheit keine Sorgen machen muss und sich völlig auf die Lösung der inneren Probleme konzentrieren kann“; und
  2. „Die Herstellung und Entwicklung partnerschaftlicher Beziehungen mit Russland“.

Für weniger wichtig hält die Mehrheit der Experten folgende Ziele:
3. "Vertiefung der partnerschaftlichen Beziehungen mit den Ländern Mittelosteuropas und des Baltikums";
4. "Funktion eines Transportkorridors von Nord nach Süd und von Ost nach West";
5. "Die Schaffung eines allgemeinen Sicherheitssystems, das den Krieg als Mittel zur Lösung internationaler Konflikte ausschließt";
6. "Die Schaffung der Voraussetzungen für einen zukünftigen NATO-Beitritt der Ukraine";
7. "Die Vertiefung der partnerschaftlichen Beziehungen mit den GUS-Staaten";
8. "Das Erlangen von großzügiger Hilfe und Investitionen aus westlichen Ländern";
9. "Die Initiierung einer weiteren Abrüstung, ein völliges und endgültiges Verbot von Nuklearversuchen";
10. "Die Anerkennung und Bestätigung der Ukraine als regionale Führungsmacht der Länder Mittelosteuropas".

Ich stelle hier bewusst die Aufteilung dieser Ziele so dar, wie sie nicht vom Außenministerium vorgenommen wurde, sondern von Experten, da unter den Bedingungen des "Video-Skandals" die Position des Präsidentenapparats sich fast jede Woche ändert.1 Daher ist die prorussische und antiamerikanische Wende von Präsident Leonid Kutschma keineswegs ein strategischer Schritt der Ukraine, sondern der taktische Versuch des Präsidenten an der Macht zu bleiben.

Das Problem der ukrainisch-polnischen Beziehungen lässt sich nicht isoliert von der Zusammenarbeit, der Kooperation oder in einer weiten Zukunft vielleicht auch vom Beitritt der Ukraine zu NATO und EU betrachten, und deswegen müssen diese zunächst unter dem Aspekt der allgemeinen Probleme oder Perspektiven der EU gesehen werden. Zunächst ist anzumerken, dass die EU in bedeutendem Maße nicht so sehr Realität als vielmehr Aufgabe ist: Die Antworten auf viele Fragen, die mit der europäischen Integration zusammenhängen, kennen auch die Mitglieder der Union selbst nicht. Dazu gehören etwa die Fragen, wie weit die Integration gehen kann, wie bei der Integration die Identität erhalten werden oder bis zu welchen Grenzen die Interessen der EU reichen können.

Im Unterschied zu den mittelosteuropäischen Staaten, die sich sofort und eindeutig auf ihren mitteleuropäischen Status festgelegt und sich deutlich auf einen Beitritt in alle europäischen Strukturen und in die NATO hin orientiert haben, kann sich die Ukraine bislang nicht eindeutig entscheiden. Erst 1996 hat das offizielle Kiew erstmals konkret seine Position zu den Prozessen der europäischen Integration festgelegt: Als strategisches Ziel der Ukraine wurde die Integration in die europäischen und euroatlantischen Strukturen mit der Priorität eines Beitritts zur Europäischen Union benannt. Erst in der letzten Zeit, kurz vor dem "Video-Skandal", begann man konkret von einer Integration der Ukraine "mit" der EU zu sprechen (in dem Maße, in dem das in der nächsten Zeit möglich ist), was bei weitem nicht das Gleiche ist wie die Integration der Ukraine "in" die EU. Die Regierung der Ukraine hat sogar einen Sieben-Jahres-Integrationsplan verabschiedet, in dem Maßnahmen vorgesehen sind, die Gesetzgebungen der Ukraine und der EU miteinander in Einklang zu bringen.

Die Entscheidung sich zur EU hin zu bewegen, hat die Ukraine zunächst ihren unmittelbaren Nachbarn näher gebracht, nämlich Polen, Ungarn, der Tschechischen Republik und der Slowakei. Zugleich ist die eindeutig europäische Orientierung der ukrainischen Eliten, wie auch der Bevölkerung insgesamt, ein weiteres wichtiges positives Element.2 Doch sind momentan die politischen und diplomatischen Ressourcen bei der Annäherung der Ukraine an Europa fast völlig erschöpft, und fast alle Überzeugungen sind schon verkündet. Jetzt geht es um die Wirtschaft und konkrete Umgestaltungen, und hier gibt es noch nicht viele Errungenschaften. Der Ukraine ist vieles von dem nicht gelungen, was Polen, der Tschechischen Republik und Ungarn gelungen ist. In der ganzen Zeit der Unabhängigkeit erhielt die Ukraine 3,8 Milliarden US-Dollar an direkten ausländischen Investitionen, was nicht zu vergleichen ist mit der um das 10fache größeren Summe, die in andere, erheblich kleinere Länder Mitteleuropas investiert wurden.

Gleichzeitig weiß noch niemand, welchen Status die Ukraine in dieser allgemeinen europäischen Struktur haben könnte. Wenigstens in der nächsten Zeit könnte eine solche Kooperation im besten Fall zu so etwas wie einer besonderen Partnerschaft werden, auch wenn das etwas fast Elitäres ist, eher eine Deklaration als eine Wirklichkeit. Vielleicht sollte die Ukraine in der ersten Etappe wenigstens ihre Bewegung zur EU hin mit den übrigen Staaten Mitteleuropas synchronisieren. Vom Niveau dieser Synchronisierung hängt die Form der neuen ukrainisch-polnischen Beziehungen auf allen Ebenen ab. Nach dem Beitritt dieser Staaten zur NATO und bald auch zur EU müssen diese Beziehungen dann schon im Kontext der Beziehungen zwischen der NATO und der Ukraine sowie der EU und der Ukraine gesehen werden und nicht nur als Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine. Heute erscheinen sowohl die Ukraine als auch Polen trotz aller Hindernisse in diesen Fragen souveräner, während später die neuen Mitglieder der EU gezwungen sein werden einen Teil ihrer Souveränität an diese Strukturen zu delegieren und in diesem Fall ihre Politik und Modelle von Kooperationen mit der Ukraine mit diesen Strukturen in Einklang zu bringen.

Polen und Ukraine: 5 Etappen

Polen ist ohne Zweifel ein Nachbar von großer Priorität für die Ukraine. Das gilt ebenso historisch wie auch geopolitisch.3 In den letzten zehn Jahren der realen Unabhängigkeit von Polen und der Ukraine hat es meiner Meinung nach mehrere Etappen von zwischenstaatlichen Beziehungen gegeben, die von den Aufgaben ausgingen, die sich beide Staaten in jeder Etappe gestellt hatten.

Die erste Etappe war charakterisiert durch eine gewisse Spontaneität und vielleicht sogar Romantik. Polen hat als erster Staat die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt. Die Staaten und Völker haben um Verzeihung gebeten für die Missverständnisse, die es in den Jahrhunderten des Zusammenlebens genügend gegeben hat. Zugleich bestand die Illusion, dass es in Zentraleuropa möglich sein könnte einen selbstgenügsamen und ganzheitlichen geopolitischen Raum zu schaffen. In der ersten Phase nach dem Zerfall der UdSSR war die Zusammenarbeit in Mitteleuropa unorganisiert und unstrukturiert. Zunächst umfasste sie die Kontakte der politischen Führer, Parteien und Gruppen, später wurde das zu einer symbolisch-deklarativen Zusammenarbeit zwischen den administrativen Einheiten und Städten entlang der Grenze umgestaltet. Mit der Zeit kam es auch zur Schaffung von Euroregionen und sogar von gemeinsamen Wirtschaftsstrukturen, etwa internationalen Börsen und Banken. Doch all diese Schritte wurden aus Enthusiasmus unternommen, ohne Einberechnung der europäischen oder internationalen Erfahrung, weswegen sie oft auch deklarativ blieben.

Die zweite Etappe lässt sich durch eine andere Richtung charakterisieren: Polen stellte sich das Ziel des Eintritts in NATO und EU. Die Ukraine kannte damals keinerlei Form der Zusammenarbeit mit der NATO und stand unter dem Druck der USA bezüglich der Nuklearwaffen, die sich auf ihrem Territorium befanden, aber nicht von ihr kontrolliert wurden. Deswegen erkalteten die Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen in einem bestimmten Moment. Im Prozess der Ausarbeitung einer Strategie zum NATO-Eintritt Polens wurde deutlich, wie wichtig die Haltung der Ukraine zu diesem Prozess ist.

Die dritte Etappe begann nach dem Protest Russlands gegen die Erweiterungspläne der NATO. Polen begann in der Ukraine einen Bündnispartner zu suchen. Die Ukraine nahm zunächst eine neutrale und nach einiger Zeit eine positive Position ein, besonders nach der Unterzeichnung entsprechender, wenn auch formaler Übereinkommen der NATO und dem Einschluss der Ukraine in das Programm "Partnerschaft für den Frieden". Dies brachte die Ukraine und Polen einander näher. Ein polnisch-ukrainischer Friedensvertrag wurde abgeschlossen. Diese Etappe endete mit dem Eintritt Polens in die NATO und der Einbeziehung der Ukraine in die Zusammenarbeit mit der NATO (das Programm "Partnerschaft für den Frieden", die Schaffung eines gemeinsamen polnisch-ukrainischen Bataillons). Hintergrund dieser Etappe war die fortgehende Verschlechterung der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland, der Konflikt um die Schwarzmeerflotte und um die Krim.

Die vierte Etappe begann nach der Aktivierung der Bemühungen Polens um eine Mitgliedschaft in der EU. Die bevorstehende Erweiterung der EU hat keinen offenen Widerstand Russlands hervorgerufen, insofern Russland bis zum letzten Moment (Initiativen zur Schaffung europäischer schneller Eingreifkräfte) darin keine Bedrohung der eigenen Sicherheit sah, sondern vielleicht eher eine Alternative zur proamerikanischen NATO. Gleichzeitig benötigte Polen Zeit für die Restrukturierung seiner Wirtschaft und zu deren Umorientierung von einer Kooperation mit dem Osten auf eine mit dem Westen hin. Zugleich musste eine technische Umgestaltung der Industrie geschehen. In dieser Zeit benötigte Polen dringend Märkte, aber nicht so launische Märkte wie die der EU. Auch die Ukraine wurde neben anderen für einige Jahre zu einem solchen Markt. Das Niveau der einseitigen Exporte wuchs erheblich an. Die Ukraine und Polen wurden strategische Partner auf staatlicher Ebene. Treffen der Präsidenten beider Länder fanden so oft statt wie niemals zuvor. Doch das bedeutete keineswegs eine reale wirtschaftliche Annäherung. In der Ukraine wurde die genannte Partnerschaft als Schirm für die "Oligarchisierung" aller Lebensbereiche durch proeuropäische Rhetorik verwendet. Gleichzeitig war das für Polen ein marginaler taktischer Zug mit dem Ziel, die eigene Integration in NATO und EU abzusichern.

Die gegenwärtige fünfte Etappe begann, nachdem man sich endgültig für den EU-Beitritt Polens entschieden hatte. Nach Polen, das sich unter dem Schirm der NATO befand und eine EU-Perspektive hatte, floss massenhaft Investitionskapital, das die Möglichkeit bot die technische Umgestaltung der Produktion zu vollenden und eine Umorientierung der Exportströme aus den stagnierenden Märkten der Ukraine, Russlands und Weißrusslands zu erreichen. Die Umorientierung hat auch zum Wirtschaftskollaps in Russland 1999 beigetragen, der auch einen deutlichen Abfall der Zahlungskraft der Konsumenten in der Ukraine zur Folge hatte. Die Disproportion der Zahlungskraft hat sich verzehnfacht. Es begann die Reduktion des Warenaustausches. Fast die einzigen Ressourcen, an denen Polen interessiert blieb, waren Energieträger aus Russland und der Export von polnischer Landwirtschaftsproduktion in die Ukraine. Auf politischer Ebene war Polen nur an politischer Loyalität der Ukraine bezüglich seiner eigenen EU-Beitrittspläne interessiert. Heute sieht die Situation so aus, dass auf höchster politischer Ebene die Zusammenarbeit zwischen Polen und der Ukraine formal die beste ist. Doch sie verliert mehr und mehr wirtschaftlichen Inhalt.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

In den letzten Jahren haben sich in Polen und der Ukraine trotz aller Deklarationen über die gemeinsame Zielrichtung völlig unterschiedliche wirtschaftliche und politische Prozesse vollzogen. In Polen lässt sich die Bildung einer Wirtschaft und eines politischen Systems beobachten, die mit Wirtschaft und politischem System der EU homogen sind. Gleichzeitig entstand in der Ukraine eine monopolisierte Wirtschaft, die in immer größerem Maße von der Staatsmacht kontrolliert wird, durch Oligarchen, die von der Präsidentschaft abhängig sind. Will man die Rolle der Oligarchen in einer derart außergewöhnlich differenzierten Gesellschaft betrachten, lässt sich sagen, dass die Oligarchie heute zu einem Mechanismus geworden ist, der die Entwicklung äußerst wirksam bremst; dies gilt für die freien Marktbeziehungen ebenso wie für die Zivilgesellschaft in der Ukraine; damit stellt sie eine Bedrohung für die Existenz der Ukraine als Staat selbst dar. Deswegen muss man sie als extrem reaktionäre Gruppe betrachten, die zu einem zwar langsamen, aber doch ununterbrochenen Abgleiten der ukrainischen Gesellschaft in einen Staatskapitalismus unter den Bedingungen einer äußersten Monopolisierung der Wirtschaft führt. Die Oligarchen haben sich um das Staatsmonopol als einzige politische Einheit herum konsolidiert und erfolgreich den Übergang von der plan- zur staatskapitalistischen Wirtschaft überlebt und damit eine Neuverteilung des Eigentums vollzogen. Im Prinzip sind sie weder an der Zerstörung des Staatsmonopols noch an der Schaffung einer Zivilgesellschaft interessiert, die sie bedrohen könnte. Zugleich haben sie alles getan, um der Ukraine eine EU-Perspektive zu entziehen. Daher darf man die Verkündigung "der europäischen Wahl" der Ukraine nicht ernst nehmen.

Trotz des Unterschieds in den Interessen und im Entwicklungsniveau des politischen Selbstbewusstseins der polnischen und ukrainischen herrschenden Kreise gibt es gemeinsame Probleme. Gerade sie stellen die Herausforderungen dar, welche die polnisch-ukrainischen Beziehungen mit neuem Inhalt erfüllen können. Eines davon ist das Problem des Transports von Erdöl und Gas aus Russland in die EU. Russland macht alles, damit die Leitungen um die Ukraine herumgehen und übt daher Druck auf Polen aus, damit es die Realisierung dieser Aufgabe auf seinem Territorium gestattet. Vermutlich wird die strategische polnisch-ukrainische Partnerschaft in dieser Frage den Versuchungen nicht standhalten: Unter dem Druck Russlands und der EU wird Polen nachgeben, so sehr die Ukraine auch erklären mag, dass das ihren Interessen widerspricht.

Von nicht geringeren Maßstäben erscheint das Projekt des Transports von Erdöl und Gas aus der kaspischen Region durch den Hafen von Odessa und zugleich die Versorgung der Ukraine und Polens mit norwegischem Gas. Doch auch hier ist Polen nicht bereit, von der Ukraine bereits gebaute Leitungen von Odessa nach Brody bis Danzig zu verlängern. Zugleich beobachten wir z.Zt. einen in den letzten zehn Jahren nicht da gewesenen Abfall des Warenaustausches zwischen der Ukraine und Polen. Polens Wirtschaft hat der Ukraine den Rücken zugekehrt. Der Warenaustausch ist auf eine Milliarde Dollar im Jahr gefallen.

Eine besondere Herausforderung wird auch der Ausbau der neuen Ostgrenze der EU sein. Jetzt ist sie praktisch für die Bürger der Ukraine offen, doch die Einführung des Schengen-Regimes wird die beste Errungenschaft nach 50-jähriger Isolierung zunichte machen, nämlich die freie Bewegung und Kommunikation beider Völker. Das Niveau der Differenzierung zwischen den Nachbarregionen wächst an, was eine gewisse Gefahr in sich birgt. So ist etwa das bis vor kurzem relativ vergleichbare Durchschnittseinkommen in Polen und der Ukraine jetzt absolut nicht mehr vergleichbar: 40 US-Dollar in der Ukraine und 400 US-Dollar in Polen. Vor unseren Augen vollzieht sich in den letzten Jahren eine Abgrenzung zwischen dem "armen" und dem "noch ärmeren" Europa. Und das führt notwendigerweise zu wachsender Unzufriedenheit vor dem Hintergrund ethnischer Intoleranz oder ethnischen Hochmuts.

Nationale Vorurteile noch nicht überwunden

Zugleich können nationale Vorurteile zum Vorschein kommen. Zum Teil funktioniert noch die alte "böse Erinnerung". Die Wunden des ukrainisch-polnischen Konflikts von 1943 bis 1947, der praktisch ein Bürgerkrieg im großen Maßstab war, sind noch nicht endgültig verheilt. Die Opfer der Massendeportationen von Polen und Ukrainern aus der Ukraine nach Polen und aus Polen in die Ukraine sind noch am Leben. Und ebenso die der innerpolnischen Umsiedlungen in jene Gebiete, die von Deutschland an Polen gelangten. Nicht weit zurück liegt der traurige Jahrestag der Deportationsoperation "Weichsel" (1947), während der ganze ethnische Gruppierungen von Ukrainern (die Lemken oder die Cholmtschaken) praktisch mit der Wurzel aus ihren Heimatländern entfernt wurden. Nicht weniger traurig war auch der Jahrestag der Vernichtung der polnischen Bevölkerung von Wolhynien.

Ein Problem bleibt auch die Tatsache, dass es nach dem 2. Weltkrieg sehr schwierig war, die Grenze entsprechend der ethnischen Abgrenzung festzulegen, weshalb diese Linie nur bedingt gezogen werden konnte, was in sich Konfliktpotential darstellt.4 Das führt zu Konflikten wie etwa in Przemyśl (Polen) zwischen der polnischen Mehrheit und der ukrainischen Minderheit. Zum Glück handelt es sich hier nur um einen lokalen Konflikt.5 Ein analoger Konflikt existiert in Lwiw bezüglich des polnischen Militärfriedhofs, wo diejenigen begraben sind, die im polnisch-ukrainischem Krieg von 1919 ums Leben gekommen sind.

Eine mitteleuropäische Region als selbstständige geopolitische Einheit hat sich nicht realisieren lassen, sie wird vielmehr aktiv in Einflusszonen des Westens und Russlands geteilt. Davon ausgehend hat sich Polen, das pragmatisch handelte und sich zur NATO und EU hin bewegte, mit der Rolle eines Vorreiters des Westens in Ost- und Mittelosteuropa einverstanden erklärt. Eine solche Vorreiterrolle Polens wird immer deutlicher. Zbigniew Brzezinski hat während eines Aufenthalts in Lwiw gesagt: "Man kann Polen als Magneten betrachten, der die anderen Länder zu den Prozessen der europäischen Integration heranziehen wird und ebenso zur euro-atlantischen Allianz."

In der momentanen Etappe muss die Ukraine sich in höchstem Maße auf den Eintritt Polens zur EU vorbereiten. Für die Ukraine muss es von großem Gewicht sein, dass man die EU vor die Tatsache eines sehr breiten Kontakts zwischen beiden Staaten stellt, einer realen wirtschaftlichen Verbindung, die dazu führt, dass man der Ukraine einen besonderen Status in der Zukunft einräumt. Nach meiner Meinung ist es sehr wichtig, die Möglichkeit eines besonderen Grenzregimes zwischen Polen und der Ukraine zu überlegen, überhaupt möglichst eine gemeinsame Form der strategischen Partnerschaft mit Polen zu erfüllen. Die politisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit Polens mit der Ukraine, bei gleichzeitiger Synchronisierung ihrer Bewegungen zum Westen hin, könnte als Modell der Hinwendung der EU zum Osten in der gegenwärtigen Etappe dienen. Allein die Tatsache der Existenz gemeinsamer militärischer Einheiten und breiter wirtschaftlicher Zusammenarbeit könnte dazu zwingen, eine Form des besonderen Status nicht nur in den Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine, sondern in Zukunft auch in denen der NATO und der EU mit der Ukraine zu suchen.

Zugleich kann auch Polen in dieser seiner Rolle als „Vertreter der ukrainischen Interessen“ seinen besonderen Platz in der EU finden. Für Polen sind die östlichen Märkte und Rohstoffquellen jetzt und in der Zukunft äußerst anziehend. In diesem Sinne muss die Ukraine an einem schnellen EU-Beitritt Polens interessiert sein. Das kann für beide Länder große Perspektiven eröffnen, jedoch unter der Voraussetzung, dass die strategische Partnerschaft bewahrt wird und es zu Veränderungen in der Ukraine selbst kommt. Das zu verstehen, ist besonders während der Krise der ukrainischen Präsidentschaft wichtig; das Regime in der Ukraine ist nicht die Ukraine, und deswegen dürfen sich der Westen und besonders Polen keinesfalls von ihr abwenden. Doch führt heute das objektive Interesse Polens am Osten (trotz der jetzt populären Anbiederung an den Westen) manchmal zur offensichtlichen Disproportion der Beziehungen, etwa im Tandem Polen - Ukraine. Polen sucht Modelle der Koexistenz und schlägt sie vor, es handelt offensiv. Die Ukraine reagiert jedoch vor allem defensiv.

Nach Expertenmeinungen hat die Ukraine die besten Beziehungen nach wie vor mit Polen. Die Experten geben Polen den ersten Platz, was die Intensität und den Erfolg der zweiseitigen Beziehungen angeht. Als Verbündeter nimmt Polen gemeinsam mit den USA den ersten Platz ein. Nur als Land, auf das man bei der Umstrukturierung der Streitkräfte rechnen kann, überlässt es den USA den ersten Platz und wird zweiter. Nach Expertenmeinungen erfüllt die ukrainische Diplomatie hinsichtlich der Beziehungen Polens am erfolgreichsten die nationalen Interessen der Ukraine. Zugleich halten die Experten die Bundesrepublik Deutschland für einen wichtigen Verbündeten der Ukraine, gleich nach den USA und Polen.

In der nächsten Zeit könnte die Zusammenarbeit im Rahmen solcher besonderer Strukturen wie der mitteleuropäischen Freihandelszone (CEFTA) oder der zentraleuropäischen Initiative zu den wichtigsten Formen der Zusammenarbeit der Ukraine mit ihren westlichen Nachbarn werden, insbesondere mit Polen. Besonders wertvoll in dieser Zusammenarbeit ist, dass nach dem Beitritt mehrerer Mitglieder dieser Organisationen in die EU diese zu Bindegliedern zwischen der EU und der Ukraine werden, obgleich sie formal gezwungen sein werden die Mitgliedschaft in diesen Organisationen aufzugeben. Allein die Tatsache der wirtschaftlichen Integration gibt ihnen nicht die Möglichkeit, sich völlig von der CEFTA zu entfernen. Für die Ukraine ist der Hauptpartner in dieser Integration natürlich Polen.

Negative Folgen nach Polens EU-Beitritt

Eine der Gefahren, die auf uns in der Zukunft zukommen kann, ist die faktische Errichtung einer neuen Berliner Mauer an den Westgrenzen der Ukraine, Weißrusslands und Russlands. Nach dem Fall der alten Berliner Mauer gab es eine bestimmte Illusion, wonach ein einiges Europa möglich sei. Doch das waren vor allem Illusionen nicht informierter Humanisten. Bald zeigte es sich, dass es sogar in Osteuropa europäischere Europäer gibt, aber es gibt auch ganz nichteuropäische Europäer. Es erwies sich bald, dass für viele nur die EU Europa ist und der Rest nicht. Ja sogar innerhalb der zukünftigen Erweiterung der EU kann man schon ein bestimmtes "Kerneuropa" sehen (mit dem Zentrum in Frankreich und Deutschland), mit einer sanitären Peripherie in Form von Polen, Tschechien, Ungarn usw. In Europa entstehen vor unseren Augen neue Grenzen. Sie sind ungefähr mit den Grenzen der UdSSR identisch, das Baltikum ausgenommen.

Der aktive Einbau dieser Länder in das Gebäude der EU und die langsame Abnahme des Interesses am Osten vertieft faktisch den Unterschied zwischen diesen Ländern. Zweifellos ist daran auch die Ukraine schuld, die sich nicht aktiv entwickelt, sondern eher in Stagnation verbleibt. Als Resultat bleibt die Ukraine merklich zurück, und dieser Unterschied wird immer größer. Dadurch drängt sich das Land selbst aus dem allgemein europäischen Prozess heraus. Das kann nicht ohne Folgen bleiben und wird schließlich zu einem Minderwertigkeitskomplex und Aggressionen führen. Das gilt umso mehr, als die ukrainische Gesellschaft in Folge der ökonomischen Stagnation in bedeutendem Maße frustriert und demoralisiert ist.

Die größten negativen Folgen eines EU-Beitritts werden die westlichen Gebiete der Ukraine und die östlichen Woiwodschaften Polens zu spüren haben. Sie haben nicht genügend wirtschaftliche Ressourcen und sind auf offene Grenzen und Zusammenarbeit hin orientiert. Auf diese Weise können wir die Entstehung eines neuen Gegensatzes in Europa beobachten. Diesbezüglich hat Russland schon sehr deutlich seine Meinung gesagt; auch Weißrussland hat keine weniger deutliche Position eingenommen. Die Ukraine steht am Scheideweg. Einerseits hat sie deutliche Gefühle für das "gemeinsame europäische Haus", doch andererseits lassen es weder die USA noch Russland (aus verschiedenen Gründen) zu, dass sie sich zu sehr an dieses Haus annähert.

Schließlich seien noch zwei gefährliche Modelle genannt, nach welchen sich die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine verkomplizieren können: (a) Die Umgestaltung der Ukraine in einen faktischen Satelliten Russlands (bei formal bleibender Unabhängigkeit), wenn Russland zu seiner imperialen Vergangenheit zurückkehrt, was zu einem neuen Paradigma des Gegensatzes zwischen Ost und West führen wird, wo Polen und die Ukraine Frontstaaten sein werden; (b) Die Umgestaltung der Ukraine in eine Pufferzone zwischen Russland und der NATO sowie Russland und der EU, wobei die Beziehungen der Ukraine und der EU zum Paradigma eines unbestimmt mobilen, lokalen und situativen Übereinkommens werden. Dieses Modell ist durch seine Instabilität gefährlich, durch die Verkürzung der ökonomischen und Investitionsaktivitäten innerhalb des Staates und folglich durch das Anwachsen der Unzufriedenheit, die früher oder später in etwas Unvorhersehbares umschlagen kann.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass ein positives Szenarium in der Entwicklung der Beziehungen zwischen der EU, Polen und der Ukraine nur dann möglich ist, wenn sich die Voraussetzungen in der Ukraine selbst ändern.

Deutsch von Thomas Bremer.


Fußnoten:


  1. Anmerkung des Übersetzers: Bei diesem „Video-Skandal“ handelt es sich darum, dass Präsident Kutschma in den Verdacht geriet, in die Ermordung eines Journalisten verwickelt zu sein. ↩︎

  2. Für die ukrainischen Eliten ist die Identifizierung mit Europa zu 51 % gegeben, während die gleiche Zahl für die Russen 26 % beträgt. 77 % der ukrainischen Eliten verhalten sich zu einer Mitgliedschaft in der EU positiv, während das bei den Russen ebenfalls nur 26 % sind. Doch das sind die Eliten, und die allgemeine Zahl beträgt in der Ukraine über 51 %, in Russland 20 %. ↩︎

  3. Vgl. Taras Wosnjak, Modelle des polnisch-ukrainischen Zusammenseins: Rück- und Ausblick, in: Ji (unabhängige Kulturzeitschrift), Nr. 11, Lwiw 1998 (http://www.ji-magazine.lviv.ua). ↩︎

  4. Anna Rogowska, Stanislaw Stepien, Die polnisch-ukrainische Grenze in den zurückliegenden 50 Jahren, in: Ji (vgl. Fußnote 2), Nr. 12, Lwiw 1998. ↩︎

  5. A. Pawlyschyn, Perspektiven für eine Verständigung an der Grenze, in: Ji, Nr. 12, Lwiw 1998. ↩︎