„Nur wer seine Heimat und ihre Vergangenheit kennt, kann ihre Zukunft verstehen.“

Deutsch-polnische Versöhnungsarbeit am Beispiel eines lokal- und regionalgeschichtlichen Projekts in Schlesien
aus OWEP 1/2002  •  von Beate Herget

Beate Herget M.A., Historikerin, war 1998 bis 2000 als Koordinatorin des vorgestellten Projekts tätig; sie lebt und arbeitet heute in Frankfurt/Main.

In der rund tausendjährigen deutsch-polnischen Nachbarschaft gab es durch alle Jahrhunderte der Koexistenz hindurch eine Vielzahl friedlicher politischer und wirtschaftlicher Kontakte sowie – vor allem in den Grenzgebieten – ein automatisches Miteinander der beiden Nationen in Form von familiären, schulischen, beruflichen, wirtschaftlichen und kulturellen Alltagsbeziehungen. Trotzdem ist in beiden Ländern das Bild vom jeweils anderen hauptsächlich durch negative Ereignisse und Vorurteile geprägt, die ihre Wurzeln überwiegend in der konfliktreichen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts haben. Vor allem der Zweite Weltkrieg und die brutale deutsche Besatzungspolitik in Polen sowie die Ausschreitungen gegenüber den Deutschen und deren Vertreibung bzw. Aussiedlung in den Nachkriegsjahren haben im Denken der Menschen tiefe Spuren hinterlassen. Hinzu kommen Gegensätze aus früheren Abschnitten der gemeinsamen Geschichte, von denen an dieser Stelle nur die gegen die katholische Kirche gerichteten Maßnahmen der preußischen Regierung im Kulturkampf oder die restriktive Polenpolitik Bismarcks in den 1880er Jahren sowie die Gebietsansprüche Polens nach dem Ersten Weltkrieg genannt seien.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde jedoch bewusst der Gedanke der deutsch-polnischen Aussöhnung gefördert, wenn auch zunächst nur in einzelnen Initiativen. Auf eine breite gesellschaftliche Basis konnten diese Ansätze jedoch erst seit der Wende von 1989/90 gestellt werden: Zu privaten und kirchlichen deutsch-polnischen Initiativen kommen – besonders seit dem Beginn der EU-Beitrittsverhandlungen Polens – Projekte in den Bereichen Politik, Wirtschaft und öffentliche Verwaltung hinzu. Austauschprogramme für Schüler und Studenten werden durch Friedensinitiativen für Jugendliche ergänzt. Auch der kulturelle Kontakt intensiviert sich, wie beispielsweise die Präsentation Polens als Gastland auf der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Jahr gezeigt hat.1

„Lokale Geschichte am Beispiel ausgewählter Kreise, Städte und Gemeinden“ – ein gelungenes Beispiel der deutsch-polnischen Annäherung in Schlesien

Gemeinsam ist den genannten Initiativen jedoch, dass sie nur einen kleinen Teil der deutschen und polnischen Gesellschaft ansprechen: Ausgewählte Politiker und Wissenschaftler, einige Jugendliche sowie Einzelpersonen, die bereits ein individuelles Interesse am jeweils anderen Land haben. Hinzu kommt, dass es vielen Projekten trotz des großen persönlichen Engagements der Beteiligten an Nachhaltigkeit und Breitenwirkung mangelt. Völlig außer Acht gelassen wird meistens auch die spezifische Situation der Grenzregionen und ihrer Bewohner.

Die Oberschlesier beispielsweise waren als typische Grenzlandbevölkerung über die Jahrhunderte hinweg verschiedenen politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Einflüssen der benachbarten Nationen ausgesetzt. Im Spannungsfeld zwischen slawischer ethnischer Herkunft, die ihren Niederschlag hauptsächlich in der Sprache und Volkskultur fand, und der Jahrhunderte langen Zugehörigkeit zur westeuropäisch-deutschen Staatenwelt bildete sich eine ihrer Eigenständigkeit bewusste Ethnie heraus. Sie vereint nicht nur Elemente der sie umgebenden Nationalkulturen in sich, sondern weist zudem auch eine Reihe regionaler Besonderheiten auf. Demzufolge war und ist die oberschlesische Bevölkerung hinsichtlich ihrer nationalen Orientierung keine homogene Gruppe – das Spektrum reicht von einer propolnischen oder prodeutschen Orientierung in verschiedenen Abstufungen bis hin zu einer schlesisch-autonomen Ausrichtung. Diese Multiethnizität führt bei der einheimischen Bevölkerung in Oberschlesien oftmals zu Problemen mit der eigenen Identität, die immer dann auftreten, wenn die Oberschlesier sich eindeutig zur deutschen oder polnischen Nation bekennen sollen. Gleichzeitig bietet sie jedoch auch eine Basis für zahlreiche interkulturelle Alltagskontakte und ermöglicht damit in Schlesien einen Brückenschlag zwischen den beiden großen Nationalkulturen.

Gerade an diesem Punkt setzt das Projekt „Lokale Geschichte am Beispiel ausgewählter Kreise, Städte und Gemeinden“ an, das seit Ende 1997 vom „Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit in Gleiwitz“ (HDPZ)2, einer überwiegend aus bundesdeutschen Mitteln geförderten polnischen Nichtregierungsorganisation, durchgeführt wird.

Die Ziele des Projekts, das mit der Intention ins Leben gerufen wurde, auf lokaler und regionaler Ebene in Schlesien ein Forum für Vergangenheitsbewältigung, Gedankenaustausch und Zusammenarbeit zwischen vor Ort lebenden Oberschlesiern, Polen und Deutschen zu bilden, lassen sich in vier Punkten zusammenfassen:

1. Kennenlernen der Geschichte

Das totalitäre Polen präsentierte über vierzig Jahre hinweg Deutschland und die deutsch-polnischen Beziehungen aus einem einseitigen, negativen Blickwinkel. Dies betraf vor allem die ehemaligen deutschen Ostgebiete, die nach dem Zweiten Weltkrieg als „Wiedergewonnene Gebiete“ an Polen fielen. Die vor allem in der Politik und im Bildungswesen allgegenwärtige staatliche Propaganda hinterließ im Denken vieler Polen tiefe Spuren und prägte Vorurteile. Eine möglichst neutrale und umfassende Darstellung der Vergangenheit – die auch durch das Aufgreifen von Tabuthemen Wissenslücken schließt – ist daher eines der wichtigsten Ziele des Projekts.

2. Verstärkung der Identifikation mit der Heimat

Die bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Oberschlesien lebende Bevölkerung entwickelte – unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit und nationalen Orientierung – über viele Jahrhunderte eine sehr starke Bindung an ihre Heimat, die auch oder gerade in Zeiten des Nationalitätenstreits und der wechselnden staatlichen Zugehörigkeit der Region bis in die Gegenwart hinein beibehalten wurde. Im Gegensatz dazu gelang es den erst seit 1945 in Schlesien lebenden Polen und ihren Nachkommen oftmals nicht, sich mit der Region zu identifizieren. Diese schwache Verbundenheit mit der Region zu überwinden, die sich auch in der Geringschätzung ihrer regionalen Eigenheiten äußert, ist ein weiteres Projektziel.

3. Unterstützung der Integration der deutschen Minderheit sowie Förderung des Dialogs mit der Mehrheitsbevölkerung

Durch die massiven Bevölkerungsverschiebungen in den ersten Nachkriegsjahren veränderte sich die Situation der in der Region verbliebenen einheimischen Oberschlesier und Deutschen grundlegend. In Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur durch die Zugezogenen als der neuen gesellschaftlichen Elite meist in den Hintergrund gedrängt, sahen sich Oberschlesier und Deutsche auch persönlicher Diskriminierung sowie dem Verbot ausgesetzt, sich öffentlich zur eigenen Volksgruppe und Sprache zu bekennen. Mit dem Entstehen eines demokratischen polnischen Staates zu Beginn der neunziger Jahre setzte hier ein Umdenken ein. Diesen Prozess möchte das HDPZ mit seinem Projekt ebenfalls unterstützen.

4. Herausbildung einer regionalen Identität

Die Wiedereinführung der in den siebziger Jahren abgeschafften Verwaltungsebene der Stadt- und Landkreise in Polen Anfang 1999 schuf ein Gegengewicht zu dem starren, auf Warschau ausgerichteten Zentralismus, der die kulturelle und ethnische Vielfalt Polens über Jahrzehnte hindurch unterdrückt und abgewertet hatte. Gleichzeitig bot diese Verwaltungsreform auch die Chance zum Aufbau einer regionalen Identität, die vom Ballast der Vergangenheit frei ist und unabhängig von ethnischen Unterschieden den Blick auf die gemeinsame Gegenwart und Zukunft in der Region Schlesien lenkt.

Umsetzung der Projektziele

Da sich das Projekt ausdrücklich an alle Bevölkerungsgruppen Schlesiens und insbesondere ihre gesellschaftlichen Eliten3 richtet, ist bei seiner Realisierung die Unterstützung sowohl der polnisch dominierten kommunalen und regionalen Selbstverwaltungen als auch der örtlichen Organisationen der deutschen Minderheit nötig. Das Projekt wird deshalb nur dort organisiert, wo diese Gruppierungen sich aktiv an der Themen- und Referentenauswahl beteiligen, Werbung und Organisation vor Ort übernehmen sowie bei den entsprechenden Veranstaltungen präsent sind. Dadurch wird das Risiko, eventuell nicht die Interessen der lokalen Bevölkerung zu treffen oder von ihr als „von außen aufgezwungen“ empfunden zu werden, von Anfang an auf ein Mindestmaß reduziert. Der regelmäßige Kontakt des HDPZ zu Fachleuten der relevanten wissenschaftlichen Einrichtungen in ganz Schlesien4 sowie zu lokalen und regionalen Medienvertretern leistet einen weiteren Beitrag zur breiten gesellschaftlichen Akzeptanz des Projekts. Die organisatorische sowie inhaltliche Gesamtleitung der Maßnahmen liegt beim HDPZ, das ausschließlich dafür einen Koordinator beschäftigt.

In jedem der teilnehmenden Orte wird ein zunächst auf zehn monatlich stattfindende Veranstaltungen begrenzter Zyklus organisiert, der jeweils aus einem circa einstündigen Vortrag mit anschließender Diskussion besteht. Nach Ablauf des ersten Projektjahres besteht die Möglichkeit der Verlängerung. Das Themenspektrum der Referate richtet sich nach den individuellen Bedürfnissen und Interessen der teilnehmenden Gemeinden und ist daher sehr breit gefächert: Neben faktengeschichtlichen Vorträgen etwa zur „Geschichte des Fürstentums Ratibor 1163-1817“ finden sich – der Intention des Projekts entsprechend – bisher in der Öffentlichkeit tabuisierte Themen wie „Deutsch-polnische Beziehungen in Gleiwitz nach 1945“ oder „Multiethnizität in Oberschlesien“.

Auf das intensivste Interesse stieß das Projekt bisher in Oberschlesien, also in der Woiwodschaft Oppeln und der Woiwodschaft Schlesien (Kattowitz). Dies ist zum Teil sicherlich auf die Lage und das Engagement des HDPZ in Gleiwitz zurückzuführen, das seit der offiziellen Eröffnung im Februar 1998 mit seinem umfangreichen und vielseitigen Programm zu einer Institution mit hohem Bekanntheitsgrad in Oberschlesien geworden ist.

Chancen und Grenzen des Projekts

Das große Interesse am Projekt – nach Angaben des HDPZ nahmen zwischen Projektbeginn und Februar 2001 rund 7.500 Personen an den insgesamt 183 Veranstaltungen teil – ist jedoch nicht nur auf den „Heimvorteil“ des HDPZ zurückzuführen. In den engagierten Diskussionsbeiträgen der Veranstaltungsteilnehmer wird vielmehr immer wieder deutlich, dass gerade in Schlesien der Bedarf an einer Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit und an einem unverkrampften Umgang mit ihr sehr groß ist. Besonders im ländlichen und kleinstädtischen Umfeld wird der einheimischen Bevölkerung erstmals die Möglichkeit geboten, über die wechselvolle Vergangenheit ihrer allernächsten Umgebung zu sprechen und eigene Erlebnisse in die öffentliche Diskussion einzubringen. Ein kleines kulturelles Rahmenprogramm – etwa in Form einer Foto-/Kunstausstellung mit lokalhistorischem Bezug oder des Auftritts einer einheimischen Trachtengruppe – trägt zur Schaffung einer entspannten Atmosphäre unter den Teilnehmern bei.

Das oben beschriebene Veranstaltungsschema ist jedoch nicht unbegrenzt einsetzbar: So sprechen die Vorträge beispielsweise kaum Kinder und Jugendliche an. Deshalb organisiert das HDPZ für diese sehr wichtige Zielgruppe in Zusammenarbeit mit Schulen und anderen Jugendbildungseinrichtungen verschiedene lokalhistorische und volkskundliche Wettbewerbe, deren Inhalte sich nach dem Alter der Teilnehmer richten. Egal, ob es sich dabei um einen Malwettbewerb für die Kleinsten, eine „Wissensolympiade“ zur Stadtgeschichte für Mittelstufenschüler oder einen anspruchsvollen Essaywettbewerb über deutsch-polnische Beziehungen für junge Erwachsene in der Oberstufe handelt – oberstes Ziel ist es stets, die Kinder und Jugendlichen für die Geschichte der Region zu interessieren und sie, auch vor dem Hintergrund der Europäischen Einigung, offen für die multikulturelle Tradition Schlesiens zu machen.

Die bewusste Fokussierung des Projekts auf eine Region und deren Geschichte birgt natürlich auch die Gefahr der Wiederholung in sich. Durch Sondervorträge ausländischer, d.h. meist deutscher Wissenschaftler wird Abhilfe geschaffen, außerdem durch international besetzte Konferenzen, die das besondere Interesse der Medien wecken; erwähnt sei die Konferenz „Geschichtsunterricht in multiethnischen Regionen“ (September 1999, Universität Opole/Oppeln).

Nur wer seine Heimat und ihre Vergangenheit kennt, kann ihre Zukunft verstehen

Die Erfahrungen und Erkenntnisse des Projekts machen deutlich, dass sich Schlesien als Grenzregion mit seiner komplizierten Geschichte und seiner muliethnischen Bevölkerung nicht mit traditionellen Sichtweisen und Pauschalisierungen erfassen lässt. Vorurteile können nur abgebaut, Distanz zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen kann nur überwunden werden, wenn man in einem offenen Dialog über alle Aspekte der Vergangenheit spricht und vor Tabuthemen nicht zurück schreckt. Nur dann kann auch die Chance genutzt werden, die Schlesien aufgrund seiner spezifischen Situation bietet: Brücke zwischen Deutschland und Polen zu sein auf dem gemeinsamen Weg zur Europäischen Einigung.


Fußnoten:


  1. Einen ausführlichen Überblick über institutionalisierte deutsch-polnische Kontakte bietet Peter Fischer (Red.), Handbuch Polen-Kontakte, Osnabrück 21998. ↩︎

  2. Für genauere Informationen über das HDPZ/Dom Współpracy Polsko-Niemieckiej (DWPN) empfiehlt sich ein Blick auf die zweisprachige Homepage: http://www.haus.pl↩︎

  3. Z.B. Lehrer, Wissenschaftler, Kommunalpolitiker, Vertreter von Kirchen, Bildungs- und Kultureinrichtungen usw. ↩︎

  4. D.h. vor allem zu den Universitäten in Oppeln/Opole, Breslau/Wrocław, Kattowitz/Katowice und zum Schlesischen Institut in Oppeln/PIN – Instytut Śląski w Opolu. ↩︎