Feuer in der Nacht

Die Caritasarbeit mit den Kindern von Satu Mare (Reportage)
aus OWEP 3/2002  •  von Michael Albus

Dr. theol. Michael Albus ist Journalist beim Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) und verantwortlicher Redakteur dieser Zeitschrift.

Im Flughafen von Cluj, dem früheren Klausenburg, in Westrumänien, nahe der ungarischen Grenze, fragt mich ein mürrischer Beamter hinter Glas nach meinem Vorhaben: „For business?“ „Yes!“, sage ich und bin durch.

Mein „business“: Ein Besuch bei den Kindern von Satu Mare/Sathmar. Die Stadt hat rund 140.000 Einwohner. Viel alte, herunter gekommene Bausubstanz, Pferdewagen in den Straßen, qualmende Autos, Brücken über den großen, schmutzigen Fluss, Roma, im Stadtbild, die Menschen eher ärmlich gekleidet. Irgendwie ist die Zeit hier stehen geblieben.

Die Menschen erholen sich nur langsam und seufzend von der Zeit der kommunistischen Diktatur. Der Westen hat lange Zeit Nicolae Ceauşescu, den Herrscher über Rumänien, für liberaler gehalten als andere kommunistische Führer. Heute, immer mehr, kann man sehen, was er angerichtet hat. Er hat nicht nur das Land verkommen lassen. Er hat den meisten Menschen auch die Zukunft genommen. Vor allem den Kindern und Jugendlichen. Und viele von ihnen machen Radau, weil sie nicht weinen wollen. In ihren Augen kann man lesen, tief blicken ...

Ich habe in Satu Mare aber nicht nur Kinder kennen gelernt, die mir ans Herz gegangen sind, sondern auch ein paar mutige Frauen, die das wörtlich nehmen, was wir immer wieder hören, aber meist nicht befolgen: „Da rief er ein Kind herbei und stellte es in ihre Mitte“ (Mt 18,2). Männer sind dort weniger zu sehen, ein paar nur. Leider. Warum eigentlich?

Durchdachte Arbeit

Die Caritas der Diözese leitet weit über 60 Projekte in der Stadt und auf den Dörfern in der näheren und weiteren Umgebung. Vor allem für Kinder: Kindergärten, Ganztagskindergärten, Sonderkindergärten, offene Sozialzentren für Straßenkinder, Schülerhorte, Alphabetisierungskurse, vor allem auch besondere Programme für die Kinder aus den Romasiedlungen am Rande der Dörfer. Ihnen geht es besonders schlecht. Aber es gibt auch Programme für alte Menschen, für Behinderte, medizinische Programme und auch ein Frauenhaus. Neuerdings auch verstärkt soziale und strukturelle Hilfe für Familien.

Da wird nicht hektisch „action“ gemacht oder nur betreut. Die Arbeit geschieht planvoll und durchdacht. Die, denen geholfen wird, müssen selbst mithelfen. Auch die Kinder. Das macht Sinn. Denn: wer nur betreut wird, der wird auf eine ganz andere Weise entmündigt.

Man arbeitet zusammen mit den Gemeinderäten, mit den Schulen und mit der Schulbehörde. Keine leichte Arbeit. Zäh und langsam geht es voran. Hindernisse über Hindernisse, viel sinnlose Bürokratie, viel Lethargie und Teilnahmslosigkeit. Die Erblast lässt grüßen! Die bleiernen Jahre, sie wiegen schwer.

Schlechte Rahmenbedingungen erschweren die Hilfe

Rumänien ist ein vergessenes Land. Ein großes Armenhaus hinter dem Mond. Die wirtschaftlichen und finanziellen Verhältnisse sind katastrophal, sind dramatisch. Die Inflationsrate ist die höchste unter den Beitrittskandidaten zur EU, über 40 %! Eine wirksame, mittelfristige Strategie existiert nicht. Von der langfristigen ganz zu schweigen. Man lebt von der Hand in den Mund. Die Hand ist leer. Und die Armut wächst weiter. Kein Ende in Sicht. Höchstens ein Ende mit Schrecken. Das sind die Vorzeichen, unter denen die Menschen der Kirche und des Glaubens ihre Arbeit tun. Sie sind, mit Verlaub gesagt, die einzigen, die etwas tun. Man muss das sagen, darf es nicht aus falscher Bescheidenheit verschweigen. Ohne die Caritas und die vielen kleinen und großen Spender, darunter auch einzelne Kirchengemeinden aus Deutschland und Österreich, geschähe hier nichts, fiele nicht einmal ein Tropfen auf die heißen Steine. Auch Renovabis hat geholfen und wird weiter helfen. Wer hier hilft, wirft sein Geld nicht zum offenen Fenster hinaus. Auch bei kritischer Betrachtung kommt man zu dem Schluss, dass sorgfältig und verantwortungsvoll gewirtschaftet wird. Das ist ja nicht immer so. Auch bei der Kirche nicht, wie man weiß.

Block 79 – eine schlechte Adresse

Wer schnell der Verzweiflung nahe sein will, der muss den Block 79 in der Stadt besuchen. Kein Einzelfall. Nur ein besonders extremer.

Von weitem schon hat man den Gestank von verfaulenden Abfällen und Exkrementen in der Nase. Von nahem packt einen das Entsetzen, bleibt einem die Spucke weg. Man atmet flach. Ich gehe mit Schwester Hanni, die schon einige Jahre hier arbeitet, hinein. Und mit Robbi, einem 16jährigen, dessen Familie hier wohnt. Wohnt? Das Wort bleibt mir im Halse stecken. Leere Fensterhöhlen, von Brandspuren eingerahmt, Urin auf den Treppen, überquellende Abfalleimer. Die rund 120 Zimmer sind klein, zu klein. In einem davon hausen Robbis Eltern und seine Geschwister. Zu sechst. Titti, einen Jungen, der kein Zuhause mehr hat, haben sie noch dazu aufgenommen. Immerhin haben Robbi und Titti eine Arbeit in der Sozialwerkstatt. Das Geld, das sie dort verdienen, hilft der Familie zum Leben. Zum Leben? Zum Überleben!

In den dunklen Gängen stehen Menschen mit verhärmten Gesichtern, blass, elend, still. Viele krank. Block 79 ist eine verdammt schlechte Adresse. Und eine Änderung zum Besseren kommt nur langsam in Gang. Immerhin gibt es schon ein paar Sozialwohnungen, als Alternative. Aber eben zu wenige.

Schwester Hanni ist hier wohl bekannt. Sie wird drunten auf der Straße von vielen Kindern umringt, begrüßt, in den Arm genommen. Sie hat Erfahrung in solchen Milieus. 25 Jahre hat sie in Peru gearbeitet. Ihre Mitschwester Anna, die auch in Satu Mare arbeitet, hat es auf 31 peruanische Jahre gebracht. Wer zwei emanzipierte Frauen treffen will, soll sie besuchen.

Block 79 ist eine offene Wunde, die sich trotz aller zupackenden Hilfe nur langsam schließt. Bert Brecht fällt mir ein: „Das Gute, wer hätt’s nicht gern, wer möcht’s nicht gern, aber die Verhältnisse, die sind halt so“ ...

Straßenkinderzentrum – eine gute Adresse

Das Zentrum für die Straßenkinder platzt aus allen Nähten. Aber es wird schon an einem neuen, größeren gearbeitet. Hoffnung auf Fortschritt ist in Sicht. Der ist auch dringend notwendig.

Auf engstem Raum sitzen viele Kinder, machen Hausaufgaben, spielen Puzzle. In der kleinen Küche bereiten zwei Jungen das Mittagessen vor: Brote mit einem Rädchen Wurst und zwei Gurken. Die beiden Küchenchefs sind Respektspersonen für die anderen. Sie machen ihre Arbeit mit Leidenschaft und sichtbarem Selbstbewusstsein. Die Kinder lernen hier, Verantwortung zu übernehmen, üben Selbstständigkeit ein.

Die beiden Frauen, die ihnen an diesem Morgen zur Seite stehen, Eva und Lucie, sind still, aber sehr gegenwärtig. Sie sind mit Leidenschaft und Kompetenz bei der Sache, das heißt: bei den Kindern. Lucie berichtet später über die Verhältnisse, aus denen die Kinder kommen: zerstörte Familien, wechselnde, alkoholisierte Väter, Mütter, die mit Prostitution in der Stadt Geld verdienen. Lucie redet ganz leise. Aber eindringlich: Die Armut ist progressiv, die Zahl der verwahrlosten Kinder wird wachsen, das Elterninteresse weiter sinken, die Welle des Unglücks nicht abebben. Und dennoch sagt Lucie: „Es verändert sich aber etwas zum Guten!“ Hier an diesem Ort mag man es glauben.

Einige Kinder, wie schon am Block 79, fallen auf durch deutlich sichtbare Spuren von Drogenkonsum. Noch schnüffeln sie „nur“ Klebstoff. Für mehr reicht das Geld nicht. Aber das kann sich schnell ändern. Da braut sich was zusammen in den dunklen Straßenschluchten von Satu Mare.

Die Caritas hat jetzt die Obergrenze ihrer Straßenkinderhilfe festgelegt: 80 Kinder, mehr vorläufig nicht. Es geht nicht um Prestige, sondern um mögliche Hilfe. Mehr geht nicht im Augenblick. Hart, aber ehrlich, denke ich beim Hinausgehen. Und doch: In Baia Mare, einer 70 Kilometer von Satu Mare entfernten Stadt, ist vor kurzem ein neues Straßenkinderzentrum eröffnet worden.

Ardud – keine dörfliche Idylle

Draußen vor der Stadt liegt Ardud, ein stilles Dorf. Hier geht es vor allem um die Kinder der Roma. Für sie gibt es einen Ganztagskindergarten, einen Kindergarten, einen Schülerhort und einen Alphabetisierungskurs.

Als ich um die Mittagszeit dort ankomme, treffe ich keine Kinder an. Heute steht die Fortbildung der Erzieherinnen an. Auch hier ist kein Mann zu sehen. Frauen jeden Alters sitzen auf Kinderstühlchen und sind in Gruppenarbeit vertieft. An den Wänden hängen große Papiere. Vor einem bleibe ich stehen. Darauf stehen ein paar Regeln, die erarbeitet wurden für den Umgang der Frauen mit den Kindern, die ihnen anvertraut sind. Schwarz auf weiß. Ich schreibe ab:

„Aktiv teilnehmen,
zusammenarbeiten,
Initiative entwickeln,
auf die Kinder hören, ihre Ideen diskutieren,
ehrlich sein,
Mut haben,
Respekt vor den Kindern,
kein Handy benutzen, wenn man mit Kindern zusammen ist,
Humor haben,
pünktlich sein.“

Nachher spielen die Frauen im Garten ein Rollenspiel, wie man einem Blinden die Umwelt erklärt. Sie führen einander am Arm wieder ins Haus hinein.

Ein paar hundert Meter weiter, neben der Dorfkirche, im Schülerhort arbeiten die Kinder im Garten, lockern die Erde, säen und pflanzen. Wirklichkeit! Keine programmatische Idylle. Manches mag auch gar nicht schnell wachsen, einiges unter Dornen begraben werden, Misserfolge wird es geben. Aber: Ich bin überzeugt, dass die Kinder, die das Glück haben, auf diese Weise Zuwendung und Hilfe zu erfahren, nicht ohne Eindruck bleiben werden. ‚Eindruck‘ ist die wörtliche Übersetzung des griechischen Wortes „Charakter“.

Sozialwerkstatt – kein Kinderspiel

Man traut seinen Augen kaum: Mitten in der Stadt liegt eine kleine Sozialwerkstatt, in der nahezu 30 jüngere und auch ältere Männer arbeiten. Sie stellen Kinderspielzeug her. Aber keines von der billigen und hässlichen Sorte, sondern aus Holz und von einer Ästhetik, die besticht. Man bekommt Lust zum Spielen. Aber das Ganze ist kein Kinderspiel.

Gabor Amik ist der Chef und auch der Unternehmer. Die Werkstatt gehört ihm. Ursprünglich fand die Arbeit im Rahmen der Caritas statt. Dann hat man den Betrieb auf eigene Füße gestellt. Und damit eine konkrete Hilfe geschaffen. Das kleine Unternehmen trägt sich selbst. Gabor Amik muss mit spitzem Bleistift rechnen. Und es gibt auch Rückschläge, die ihm zu schaffen machen. Aber immerhin liefert er schon nach Deutschland, Österreich und Frankreich.

Mir kam Gabor Amik wie ein Vater vor, der mit schwierigen Kindern sehr gut umgehen kann. Er nimmt seine Arbeiter ernst. Manch einen hat er dadurch schon auf Dauer aus dem Dreck geholt und auf sicheren Boden gebracht. Ein guter Typ! Fürsorglich und kompetent. Man verlässt diesen Ort mit einem spürbaren Schuss Optimismus und Hoffnung.

Turulung – das Ganze im Fragment

20 Kilometer entfernt von Satu Mare liegt Turulung. Dort läuft die ungarische Tiefebene aus, und die Berge der Karpaten erheben sich aus der Landschaft hinter dem Dorf. Die ukrainische Grenze ist nur 10 Kilometer entfernt. Ab und zu brummen große Lastwagen durch das Dorf.

In Turulung wird strukturell dieselbe Arbeit gemacht wie in Ardud. Und dennoch ist vieles anders, auch atmosphärisch.

Die Romakinder im Kindergarten führen mich voller Stolz hinter das Gebäude und zeigen mir ihren Garten. Sie erklären mir mit blitzenden Augen, welche Kräuter und welches Gemüse sie gepflanzt haben. Die Vorstellung ist bald beendet, weil sie zur Probe für die Erstkommunion am kommenden Sonntag müssen. Zurück bleiben die Erzieherinnen. Eine von ihnen, Melinda, hat im Projekt eine halbe Stelle als Pädagogin und eine halbe Stelle als Filialleiterin. Monatsverdienst: umgerechnet 60 Euro. In der Landeswährung sind das 1.700.000 Lei. Melinda ist, so gesehen, Millionärin. Aber das Geld reicht hinten und vorne nicht. 80 % des Gehalts gehen allein für Lebensmittel drauf.

Alle Frauen kommen aus dem Dorf. Die Kinder fühlen sich wohl bei ihnen. Den Eindruck bekommt man sehr schnell. Die Arbeit mit den Romakindern wurde und wird im Dorf nicht nur mit freundlichen Augen gesehen. Es gilt noch immer, viele Widerstände zu überwinden.

Turulung zerfällt in zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Das Dorf, das einen schönen und geradezu gepflegten Eindruck macht, ist die obere Welt. Die Romasiedlung am Rand, hinter dem Damm am Fluss, ist die untere. Julia, eine resolute Frau, gerade die richtige Persönlichkeit für diese Arbeit, ist zuständig für das kleine Ghetto. Sie führt mich dorthin. Auf den ersten Blick stechen die hygienischen Probleme ins Auge. Die Roma leben in schrecklichem Schmutz. Zwischen stinkenden Wassertümpeln führen kleine Wege zu den strohgedeckten Häusern. Überall liegt Müll herum. Wenn hier der große Regen kommt, versinkt alles im Schlamm. Der Kinderreichtum ist augenfällig. Da fehlt es nicht an Männern. Das Romaghetto von Turulung ist, oberflächlich betrachtet, ein kleines Nest der Hoffnungslosigkeit, eine verbaute Welt. Und dennoch: Julia erzählt mit berechtigtem Stolz, dass die Kinder aus diesem Loch nun schon immerhin sauber und anständig gekleidet zu Schule kämen.

Der Fortschritt kommt auf leisen Kinderfüßchen. Wer hier arbeitet, muss auch eine Begabung zur Hoffnung haben.

Fazit: Es besteht Interesse

In Satu Mare stimmen die pädagogischen Konzepte. Sie werden fortgeschrieben und den sich rasch wandelnden Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst. Theorie und Praxis sind eng miteinander verzahnt.

In Satu Mare wird keine Show abgezogen, sondern hart, liebevoll und mit Interesse gearbeitet. „Interesse“ heißt, wörtlich übersetzt: dazwischen sein, mittendrin sein.

Die Frauen im Caritasprogramm von Satu Mare reden nicht „fromm“ daher, sie sind von einer leidenschaftlichen Nüchternheit und einer nüchternen Leidenschaftlichkeit für Kinder durchdrungen. Als ein auffälliges Beispiel – und für alle namentlich nicht genannten stehend – erschien mir Eva Nyéki, die Verantwortliche für die Kinderarbeit in Satu Mare. Klug, gescheit, kenntnisreich, erfahren im Dschungel der Bürokratie, wach, offen. Ein Mensch eben, wie ihn Kinder brauchen, die in der Gefahr sind, ums Leben gebracht zu werden, bevor es noch richtig begonnen hat.

Die Caritasarbeit für die Kinder von Satu Mare ist wie ein Feuer in einer dunklen und lang andauernden Nacht. Es wärmt und macht – ein wenig – hell. Und noch etwas: Glaubwürdigkeit ist und bleibt das stärkste Argument.