Die Weihnachtsbotschaft – auch für alle, die hinter der Säule stehen

Ein pastoraler Versuch in Erfurt (Fallstudie)
aus OWEP 1/2003  •  von Reinhard Hauke

Domkapitular Dr. Reinhard Hauke ist Dompfarrer im Mariendom zu Erfurt, Rundfunk- und Liturgiebeauftragter des Bistums, Gehörlosenseelsorger und Dozent am Pastoralseminar in Erfurt.

An Heiligabend 1998 begrüßte der Zelebrant des „Nächtlichen Weihnachtslobes“ auch „alle, die hinter der Säule stehen“. Bischof Dr. Joachim Wanke wollte in seiner Begrüßung der etwa 2000 Jugendlichen niemanden vergessen – auch nicht diejenigen, die ihn wegen der großen Zahl nicht sehen konnten, da sie nur „hinter der Säule“ einen guten Stehplatz gefunden hatten.

Der pastorale Hintergrund

Dieser Satz steht für ein pastorales Programm, das seit einigen Jahren im Bistum Erfurt gefördert wird: Das „Evangelium auf den Leuchter stellen“ und dabei besonders diejenigen im Blick haben, die „hinter der Säule stehen“, d. h. die schon einmal in die Kirche hineingeschaut haben, die an einem Gottesdienst teilnehmen, aber sich mit den Formen noch nicht auskennen oder auch noch nicht genau wissen, ob der christliche Glaube und die christliche Tradition für sie eine neue Lebensgrundlage werden können. Für den Zelebranten sind diese Menschen nicht sichtbar. Niemand würde es ihm eigentlich verübeln, wenn er sie nicht „im Blick“ hätte. Der missionarisch denkende Christ jedoch schaut auch dorthin, wo Interesse zu spüren ist und eine gewisse Unentschlossenheit die Teilnahme am Gottesdienst „vor der Säule“ oder sogar schon „in der Bank“ verhindert. Verschiedene Versuche, von denen das „Nächtliche Weihnachtslob“ an Heiligabend die bisher längste Tradition hat, möchten deutlich machen, dass die Bürger und Bürgerinnen der Stadt Erfurt, die „hinter den Säulen stehen“, für die Seelsorge von Bedeutung sind und den Prüfstein für die Frage darstellen, ob das Evangelium ausreichend zum Leuchten gebracht wird.

Der liturgische Ort

In der Landeshauptstadt Thüringens leben über 200.000 Bürger, von denen etwa 25 % die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche angeben. Inmitten der Stadt steht als Wahrzeichen der Domberg mit zwei katholischen Kirchen: dem Dom St. Marien und der St. Severikirche. Dieses kulturhistorisch bedeutsame Ensemble von zwei Kirchen, das auch die mehrheitlich nichtchristliche Bevölkerung als „ihr Wahrzeichen“ ansieht, übt zu besonderen Zeiten eine große Anziehungskraft aus, so auch am Heiligen Abend. Seit vielen Jahrzehnten kann festgestellt werden, dass die Bürger der Stadt am Heiligen Abend gern zum Domberg gehen und im Dom eine Atmosphäre vorfinden wollen, die ihnen den Sinn dieses Abends und des Weihnachtsfestes erschließt. Die Menschen kommen zum Domberg, wenn die häusliche Feier beendet ist oder die gastronomischen und caritativen Einrichtungen geschlossen haben, d. h. gegen 23.00 Uhr. Zu dieser Uhrzeit feierte lange Zeit die Domgemeinde mit dem Bischof die Christmette im Dom, und diese „Be-Sucher“ standen bei der Eucharistiefeier mehr oder weniger verständnisvoll dabei. Von Seiten der Pfarrgemeinde wurde diese Tatsache als störend empfunden. Es ist aber auch durchaus denkbar, dass sich die nichtchristlichen Besucher unwohl fühlten. Die einen verstanden nicht das ungebührliche Verhalten der Nichtchristen im Gottesdienst und die anderen verstanden nicht die liturgische Feierform der Christen – die Christmette als katholische Eucharistiefeier. Aus diesen Gründen wurde anfangs versucht, mit einem „Krippenspiel für Erwachsene“ vor der Christmette den Bedürfnissen der Nichtchristen entgegen zu kommen. Jedoch erwies sich dieser Versuch als unzureichend. Die Besucher blieben während der Christmette in der Kirche, da sie noch die bekannten Weihnachtslieder hören und singen wollten. Es drängte sich der Gedanke auf, für die nichtchristlichen „Be-Sucher“ eine eigene Feier zu gestalten. Der Bischof entschied 1988 nach Rücksprache mit den Seelsorgern und dem Pfarrgemeinderat, dass die traditionelle Feier der Christmette in die benachbarte St. Severikirche verlegt wird und sich daran eine eigens gestaltete Feierstunde für die Bürger der Stadt, die an diesem Abend im Dom die weihnachtliche Botschaft hören wollen, anschließt. Die Feierstunde erhielt den Namen „Nächtliches Weihnachtslob“. Bischof Dr. Joachim Wanke bezeichnete diesen Gottesdienst als „präkatechumenale Feier“.

Die Liturgie als Versuch der „Rekultivierung“ des Weihnachtsfestes

Nachdem die Trennung zwischen der traditionellen Christmette und dem „Nächtlichen Weihnachtslob“ erfolgt war, konnte auch die letztgenannte Feier ihre eigene Ausprägung und eigene Gestalt erhalten. Die steigenden Besucherzahlen (2001: über 2000) bestätigen, dass die Entscheidung für eine eigene Feier mit besonderer Gestaltung richtig war. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer zwischen 30 und 35 Jahren ist eine zusätzliche Herausforderung, denn es ist anzunehmen, dass bei ihnen selbst traditionelles Wissen über Weihnachten und seinen Ursprung kaum vorhanden ist, da diese jungen Menschen in der sozialistischen Ideologie aufgewachsen sind, die das Weihnachtsfest zum „Fest der Familie“ oder zum „Fest der Geschenke“ umfunktioniert hatte. Es entwickelte sich eine neue Festkultur. Schon vor dem 1. Advent wurden die Weihnachtsmärkte eröffnet, bei denen Märchenfiguren und süße Düfte die Atmosphäre der Behaglichkeit erzeugten. Nach der Wende war es wieder möglich, den tieferen Sinn und Ursprung des Festes nahe zu bringen. Das Fest sollte seinem Ursprung wieder zugeführt werden und die Sinndeutungen der sozialistischen Ideologie vom „Fest der Familie“ und „Fest der Geschenke“ erhielten ihr christliches Fundament zurück. Professor Dr. Arno Schilson, Mainz, sieht deshalb in dieser Feierform einen Versuch, „wie Kultur und christlicher Kult auf vorsichtig sich annähernden Ebenen zusammengehen könnten“.

Das „Nächtliche Weihnachtslob“ wird mit folgenden liturgischen Elementen gestaltet:

  • christliches Liedgut mit einem allgemeinen Bekanntheitsgrad:
    Zum Einzug: „Es ist ein Ros entsprungen“
    Nach der Predigt des Bischofs: „Stille Nacht“
    Zum Schluss: „O du fröhliche“

  • Verkündigung des Weihnachtsevangeliums:
    Lk 2,1-7: Geburt Christi
    Lk 2,8-14: Verkündigung der Geburt an die Hirten
    Lk 2,15-20: Anbetung durch die Hirten

  • Ansprache des Bischofs auf „mitteldeutsch“, d. h. mit Worten und Begriffen, die einem Erfurter Nichtchristen (im „Herzen Deutschlands“) verständlich sind,

  • meditative Stille beim Glockenläuten (ca. 30 sec.):
    Es läutet dabei im Erfurter Dom die größte mittelalterliche freischwingende Glocke der Welt, die berühmte „Gloriosa“ (11.450 kg). Sie wurde im Jahr 1497 durch den holländischen Glockengießer Gerhardus Wou de Campis gegossen. Ihr Klang hat für die Einwohner Erfurts einen hohen Bekanntheitsgrad und wird hoch geschätzt. Der Klang der Glocke um Mitternacht hat eine zusätzliche Wirkung und Symbolik. Viele Einwohner der Stadt warten auf den Klang der Glocke, der ihnen den Festtag anzeigt.

  • Fürbitten,

  • meditative Kirchenmusik mit Orgel und Bläsern,

  • Vater unser,

  • Oration in „mitteldeutscher“ Ausdrucksweise,

  • Weihnachtsgruss zum Nachbarn,

  • Segen.

Die liturgische Bedeutung einzelner Elemente

Der Feierform des „Nächtlichen Weihnachtslobes“ liegt die Struktur einer „Wort-Gottes-Feier“ zugrunde. Der liturgische Höhepunkt ist die Wortverkündigung, deren Bedeutung durch die Predigt, die Kirchenlieder, die Krippendarstellung, die Fürbitten und die Gebete entfaltet und vertieft wird.

Liturgische Dialoge sind bei Gottesdienstbesuchern ohne Kenntnis traditioneller Liturgie kaum möglich. Selbst schriftlich mitgeteilte Wechselgebete können diesen Umstand nicht wesentlich ändern. Darum ist der Verzicht auf den Dialog besser als die Peinlichkeit eines Dialogs mit den umstehenden Liturgen und Ministranten. Eine persönliche Begrüßung, bei der auf die Besonderheit des Heiligabends und der Heiligen Nacht hingewiesen wird, sammelt in gleicher Weise die Anwesenden und führt in das Hören der biblischen Botschaft ein. Die Oration am Schluss des Gottesdienstes lehnt sich in ihrem Inhalt an die Oration der „Messe am Heiligen Abend“ an. Im Messbuch lautet die Oration:

Gütiger Gott,
Jahr für Jahr erwarten wir voll Freude das Fest unserer Erlösung.
Gib, dass wir deinen Sohn von ganzem Herzen als Retter und Heiland aufnehmen, damit wir ihm voll Zuversicht entgegengehen können,
wenn er am Ende der Zeiten als Richter wiederkommt.
Er, der in der Einheit des Heiligen Geistes mit dir lebt und herrscht in
alle Ewigkeit. Amen.

Im „Nächtlichen Weihnachtslob“ lautet die Oration:

Guter und starker Gott,
du hast uns deinen Sohn Jesus Christus gesandt.
du hast uns in seinem Kommen deine Liebe und Sorge um die Menschen bezeugt.
Wir danken dir dafür.
Wir bitten dich heute:
Mache uns stark in unserem Wollen und Wirken zum Heil und Segen für die Menschen.
Alle Menschen sollen erahnen können, dass die Welt durch dich zu einem guten Ende kommt.
Darum bitten wir dich durch Christus, unseren Bruder und Herrn.
Amen.

In der Oration wird das Thema der Erwartung nicht angesprochen, da es in der Weihnachtskultur der Besucher dieses Gottesdienstes nur noch rudimentär vorhanden ist. Zwar gibt es noch die Adventskalender und den Adventskranz, aber das sind eigentlich schon weihnachtliche Elemente, die von Vorfreude und Erwartung kaum noch etwas vermitteln können. Erwartet werden die Geschenke, aber nicht das Fest der Erlösung.

Weiterhin wird das Thema „Erlösung“ dahingehend angesprochen, dass die Liebe und Sorge Gottes um die Menschheit betont wird. Diese Liebe und Sorge findet in der Erlösung durch Tod und Auferstehung Jesu ihren höchsten Ausdruck und beginnt mit der Inkarnation. Sie wird in der Zuwendung zum Menschen erfahrbar. Darum wird eine Bitte um Stärkung im „Wollen und Wirken zum Heil und Segen für die Menschen“ ausgesprochen.

Das Gericht am Ende der Zeiten findet in der Formulierung „dass die Welt durch dich zu einem guten Ende kommt“ ihren Ausdruck. Dabei wird jedoch nur die Möglichkeit der Rettung und der ewigen Seligkeit genannt und die Möglichkeit der ewigen Verdammnis ausgeblendet. Um diese Glaubensaussage vermitteln zu können, bedarf es jedoch einer eingehenderen Hinführung, zu der im Rahmen dieses Gottesdienstes und zu diesem konkreten Festtermin kaum Gelegenheit ist. So muss man an dieser Stelle Vorläufiges und Unvollkommenes tolerieren.

Die Entlassung beginnt mit dem Segen. Er lautet:

Der gute Gott, der seinen Sohn zu uns in die Welt geschickt hat,
sei bei Euch in diesen Tagen der Weihnacht
und an allen Tagen Eures Lebens.
Es segne euch der Vater + und der Sohn und der Heilige Geist.
Amen.

Die Zuwendung Gottes zu den Menschen in seinem Sohn Jesus Christus wird damit zum Ausdruck gebracht, d. h. das zentrale Bekenntnis am Weihnachtsfest. Der Segen bedeutet immer: Gott sagt zu uns und über uns etwas Gutes. Damit erhält das Weihnachtsfest seinen tieferen Sinn. Es ist Ausdruck der Dankbarkeit für die Zuwendung Gottes, die in der Menschwerdung seines Sohnes eine „handgreifliche“ Form angenommen hat. Die Segnung im Namen des Dreifaltigen Gottes bringt den Inhalt des Festes mit dem Bekenntnis des Glaubens an Gott in Verbindung. Es geht uns nicht um irgendeinen Menschheitserlöser, sondern um den „maßgeblichen Menschen“, der von Gott gekommen ist und uns in das Geheimnis Gottes hineinführen will.

Ein persönlicher Wunsch zum Weihnachtsfest und für einen unfallfreien Heimweg (gegen 0.15 Uhr) beschließt den Entlassungsteil. Auch hier sind traditionelle Dialoge nicht möglich. Das persönliche Wort des Bischofs prägt die Stimmung auf dem Nachhauseweg. Die Besucher des Gottesdienstes können den Eindruck mitnehmen, das sie jederzeit willkommene Gäste und keine Störenfriede sind.

Liedauswahl und Fürbitten

Die Auswahl der drei genannten Kirchenlieder erfolgte mit der Fragestellung: Welche Lieder kennen die Besucher aus ihrer Kindheit oder vom Weihnachtsmarkt? Mit einem vorgelegten Text lassen sie sich dann singen, soweit das Singen überhaupt geübt und gekonnt ist. Das verhaltene Singen ist wohl wesentlich auf die mangelnde Übung im Singen überhaupt zurückzuführen. Hier ist ein großes Defizit erkennbar, das auch durch das große Engagement von Volksmusikgruppen nicht aufgehoben werden kann. Man „lässt singen“ – auch zur Weihnachtszeit.

In einem ausgelegten Buch können Besucher des Domes während der Adventszeit ihre Anliegen eintragen. Diese sind immer sehr persönlich geprägt. Dazu folgende Beispiele:

Wir beten mit Wilfried, dass solche Anschläge wie am 11. September in den USA nicht mehr geschehen und dass auch im Nahen Osten Frieden einkehren möge.
Wir beten mit Stefanie, deren Opa in diesen Tagen nach schwerer Krankheit gestorben ist: Lass es ihm und allen Verstorbenen bei dir gut gehen.
Wir beten mit der zwölfjährigen Jessica, dass es keinen Krieg mehr gibt und alle Menschen in Frieden leben können und dass es keine Kinderarbeit in der 3. Welt mehr geben soll.
Wir beten mit Steffen, der betet, obwohl er nicht gläubig ist, und dem seine Mutter sagt, dass es Gott nicht gibt. Wir beten mit ihm, dass sein Vater und alle Kranken wieder gesund werden.

Die Nennung von Namen, von denen im Gottesdienst vermutlich niemand anwesend ist, prägt die Fürbitten dennoch sehr persönlich. Es geht um konkrete Menschen, die vor Gott bitten oder wenigstens in einen religiösen Raum hinein.

Predigt

Mit Hinweisen auf Ereignisse in der Stadt Erfurt oder im Thüringer Land wird die Aufmerksamkeit der Hörerinnen und Hörer bewirkt. Diese Ereignisse werden auf das Weihnachtsfest hin gedeutet und dazu in Beziehung gesetzt. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass die Botschaft von der Menschwerdung Gottes einen konkreten Bezug zur Gegenwart hat und dafür eine hilfreiche Botschaft werden kann.

Glockenläuten und Weihnachtswunsch

Da die große Glocke des Domes „Gloriosa“ für die Bewohner der Stadt Erfurt einen hohen Stellenwert hat, kann ihr Klang zur Besinnung und Ruhe führen, die Bedeutung dieses Gottesdienstes betonen und – da sie während der Fürbitten weiterläutet – eine Verbindung von Drinnen und Draußen oder sogar von irdischer zu himmlischer Liturgie schaffen. Es ist erstaunlich, mit welcher Sammlung die Besucher dem Klang der Glocke zuhören.

Der Gruß zum Nachbarn vor dem Schlusssegen wird mit den Worten eingeleitet:

Bevor ich Ihnen den Segen Gottes erbitte, möchte ich Sie einladen, Ihrem Nachbarn einen guten Wunsch mit auf den Weg zu geben. Diese Nacht können wir auch „Nacht der guten Wünsche“ nennen. Ich bin sicher, dass alles, was aus einem liebenden Herzen kommt, von Gottes Segen begleitet wird.

Problemlos wenden sich die Besucher einander zu und wünschen „Alles Gute zum Weihnachtsfest“. Spätestens an diesem Punkt wird die Versammlung eine Gemeinde.

Ermutigung für alle, die „hinter die Säule“ schauen

Bischof Dr. Joachim Wanke sagt zur Bedeutung dieser Gottesdienstform: „Es darf gehofft werden, dass das „Nächtliche Weihnachtslob“ für manche ein Anstoß wurde, sich den verschütteten oder noch unbekannten Wahrheiten des christlichen Glaubens zu nähern.“

Die Motivation der Gottesdienstteilnehmer ist vielfältig: Erinnerungen an die Kindheit, Suche nach Ruhe und schöner Atmosphäre oder Suche nach einem guten Wort, das die innere Sehnsucht nach Heil und Glück ausdrückt. Die Aufmerksamkeit der Mitfeiernden bestätigt, dass diese Form des weihnachtlichen Gottesdienstes situationsgerecht und hilfreich ist. Sie ermutigt zu weiterem Überlegen und Tun. Aufmerksamkeit für religiöse Sehnsucht und Bereitschaft zum Beschreiten „ungeschützter Wege“ sind die Voraussetzungen bei der Suche nach solchen Feierformen, die Menschen „hinter der Säule“ erreichen können.