Der Fluss: Raum, Grenze und Verbindung

aus OWEP 3/2004  •  von Thomas Bremer

Der Verfasser ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Für einen Wanderer, der durch eine Landschaft geht und an ein Flussufer gelangt, ist der Fluss eine Grenze: Er schneidet ihm den Weg ab, lässt nicht zu, dass er auf der anderen Seite weiter geht, und zwingt ihn dazu, nach einer Brücke oder einer Fähre zu suchen oder aber seinen Weg zu ändern und eine andere Richtung einzuschlagen. Für einen Reisenden jedoch, der auf demselben Fluss mit dem Boot unterwegs ist, verbindet das Gewässer die beiden Flussufer, die in der Ferne aufeinander zuzulaufen scheinen; es verbindet die beiden Landschaften, die unterschiedlich sein können, in der Regel aber einander ähneln, und der Reisende zu Wasser wird vielleicht dem Wanderer, den er am Ufer stehen sieht, freundlich zuwinken und dessen Ratlosigkeit oder gar Verzweiflung gar nicht ahnen.

Dieses kleine Bild gibt eine Einstimmung in unser Thema: die mehrfache Bedeutung von Flüssen. Flüsse trennen Räume voneinander, wie die Erfahrung des Wanderers zeigt. Im mittel- und osteuropäischen Bereich gibt es eine Reihe von Beispielen dafür, dass Flüsse Grenzen bilden; einige davon werden in diesem Heft behandelt, wie die Oder oder die Memel, ein anderes ist etwa die Drina an der Grenze zwischen Bosnien und Serbien. Auch die Donau ist auf lange Strecken Staatsgrenze, etwa zwischen Rumänien einerseits und Serbien bzw. Bulgarien andererseits. Diese Räume sind zumindest indirekt durch menschlichen Willen voneinander getrennt worden. Bei Staatsgrenzen ist das offensichtlich, doch auch Sprach- oder Kulturräume gehen historisch auf menschliches Wirken zurück, auf frühere oder noch bestehende Staatsgrenzen. Manche Städte, die einander an den Ufern eines solchen trennenden Flusses gegenüber liegen (Doppelstädte) und sich in Geschichte, Staatszugehörigkeit, Bewohnerschaft und Anlage unterscheiden, sind Symbole für diese grenzbildende Funktion von Flüssen.

Doch Flüsse schaffen auch Räume; allein Ausdrücke wie das Rheinland, die Posavina (so heißt die Gegend nördlich und südlich der Save in Kroatien und Bosnien-Herzegowina) oder das Wolgagebiet (russisch „powol¬sche“) zeugen davon, dass ein Fluss sein Einzugsgebiet, das links und rechts seines Laufes liegt und in dem andere Flüsse und Bäche fließen, die in ihn münden, bestimmen und definieren kann. Hierzu gehören die Städte, die sich an beiden Ufern des Flusses erstrecken und die damit zeigen, dass die Gebiete links und rechts des Flusses dem gleichen Raum angehören.

Noch ein dritter Aspekt sei genannt: Flüsse verbinden, da sie als Verkehrswege dienen. Ein Blick auf die Besiedlungsgeschichte Europas zeigt, dass es (neben dem Mittelmeer) die Flüsse gewesen sind, an denen entlang sich die frühen Siedlungen bildeten. Das hat einerseits mit der Notwendigkeit der Versorgung mit Trinkwasser zu tun, andererseits damit, dass Flüsse wichtige Verkehrswege waren, auf denen es relativ einfach möglich war, auch schwere Lasten zu transportieren und weitere Entfernungen zurückzulegen. Der Kontakt zwischen verschiedenen Reichen, Sprachen, Religionen und Kulturen in Europa ist in hohem Maße dem Verkehrssystem der Wasserstraßen zu verdanken.

Flüsse schaffen Räume

Ich erinnere mich gut daran, dass mein Vater uns Kinder auf der Fahrt von München zur Großmutter ins Allgäu immer auf ein Schild am Straßenrand aufmerksam machte, auf dem „Europäische Wasserscheide“ stand. Von der kleinen Hügelkuppe, auf der das Schild stand, floss das Regenwasser linkerhand in ein Bächlein und weiter in den Bodensee, so dass es über den Rhein in die Nordsee geriet. Der Regen jedoch, der rechts der Kuppe fiel, wurde in die Iller transportiert und floss über die Donau ins Schwarze Meer. Der bayerische Regierungsbezirk Schwaben also ist eines der Gebiete, in dem sich die beiden großen mitteleuropäischen Flusssysteme berühren. Uns Kindern war das natürlich nicht bewusst, und eigentlich haben wir nie so recht verstanden, was das Schild und der Hinweis unseres Vaters sollten. Doch das Detail ist interessant; denn es zeigt, dass das bayerische Schwaben, ein relativ geschlossener und einheitlicher Raum, in Bezug auf die Wasserbewegungen ganz unterschiedlichen Großräumen angehört. Abgesehen von dem Schild und den Hinweisen aufmerksamer Autofahrer gab es jedoch eigentlich keine Merkmale für diese Unterschiedlichkeit: Die Region hat sich größtenteils unabhängig von diesen geografischen Gegebenheiten entwickelt. Das benachbarte Baden-Württemberg zeichnet sich ja durch die beiden historischen Räume Baden und Württemberg aus, die wiederum durch eine große Zersplitterung infolge des deutschen Kleinstaatensystems gekennzeichnet sind. Hier lässt sich der Rhein-Donau-Gegensatz zwar nicht ganz genau an den heutigen Verwaltungsgrenzen festmachen; vor allem der Regierungsbezirk Südwürttemberg-Hohenzollern und Teile von Nordwürttemberg gehören zum Einzugsgebiet der Donau; die badischen Bezirke und der nördliche Teil Württembergs zu dem des Rheins. Es wäre interessant, einmal die alten kleinen Herrschaften in diesem Bundesland daraufhin zu untersuchen, wieweit die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Flusssystemen die Größe der Gebiete und ihre Grenzen beeinflusst hat.

Ist der Rhein die große Süd-Nord-Achse Mitteleuropas, so stellt die Donau die West-Ost-Verbindung der Mitte und des Südostens des Kontinents dar. „Der Nibelungen Not“ ereilte die Bewohner der Rheinufer an der Donau: Darin mag man auch einen Ausdruck der Gegensätzlichkeit beider Flusskulturen erblicken, so wie umgekehrt die Tatsache, dass das Nibelungenlied aus dem Donauraum stammt, eine Verbindung zwischen beiden herstellt. Der Bau des Rhein-(Main-)Donau-Kanals, eines alten Projekts, das im vergangenen Jahrhundert realisiert wurde, versinnbildlicht diese Verbindung und hebt die Trennung zwischen den beiden großen europäischen Wassersystemen auf.

Bleiben wir noch etwas bei der Donau, einem Vielvölkerfluss im wahrsten Sinne des Wortes. In Wien gibt es ein bekanntes und renommiertes „Institut für die Geschichte des Donauraums“, das also jedenfalls davon ausgeht, dass es einen gemeinsamen Raum dieses Flusses gibt. Der Ausdruck „Donaumonarchie“ für das Habsburgerreich zeigt, dass der Donauraum in weiten Teilen mit dem alten Österreich übereinstimmt. Die Donau bildet also einen Raum, und sie verbindet Räume miteinander, so die katholisch geprägten Teile Mittel- und Südosteuropas mit den orthodoxen Bereichen des südöstlichen Europa. Von den mächtigen Domen in Regensburg und Passau kommt man am Wiener Stephansdom und an der Budapester Stephansbasilika vorbei zur orthodoxen Kathedrale von Belgrad, der Kirche des serbischen Patriarchen, die über dem Zusammenfluss von Save und Donau in der Nähe der alten Belgrader Festung liegt, und weiter zu anderen orthodoxen Kirchen in den an der Donau gelegenen Bischofsstädten. Dazwischen liegt Novi Sad, das frühere Neusatz, wo eine katholische und eine orthodoxe Kathedrale nah nebeneinander liegen und wo sich die beiden christlichen Kirchen begegnen. Wie ein Fluss mäandern und seinen Lauf in der Geschichte ändern kann, so ist auch die Grenze zwischen katholischem und orthodoxem Raum nie statisch gewesen, sondern musste – aufgrund der historischen und oft auch militärischen Entwicklungen – wandern. Genau festlegen lässt sie sich ja bis heute nicht. Die Kriege der neunziger Jahre haben blutig gezeigt, wie absurd und anachronistisch der Versuch ist, ethnisch oder religiös „reine“ Gebiete zu schaffen. Selbst wo das nach außen hin gelungen zu sein scheint, wird sich zeigen, dass eine solche Arrondierung von Siedlungsgebieten nie wirklich erfolgreich sein kann. Zu schwer sind die Belastungen der Erinnerung, die Vertriebene und auch Neusiedler zu tragen haben, als dass sich hier neue Realitäten einfach etablieren könnten. Die europäische Geschichte ist voll von Beispielen hierfür.

Kommen wir nach Osteuropa. Gemeinhin wird Russland in den europäischen und den asiatischen Teil gegliedert (obgleich der Ural, die angebliche Landgrenze zwischen Asien und Europa, eher den Charakter eines unauffälligen Mittelgebirges als den eines Kontinente trennenden – oder verbindenden? – Bergmassivs hat). Die Flüsse Russlands scheinen einem gewissen System zu gehorchen: Während die meisten Flüsse des europäischen Russlands nach Süden fließen, um sich (zuweilen durch die Ukraine) in das Schwarze Meer oder (durch Kasachstan) in das Kaspische Meer zu ergießen, gravitieren die sibirischen Flüsse fast ausschließlich nach Norden und füllen mit ihren Wassermassen das Nördliche Eismeer. Man erinnert sich an den monströsen Gedanken sowjetischer Techniker, die Fließrichtung der sibirischen Ströme umzudrehen und das Wasser nach Süden zu leiten, was vor allem der Bewässerung hätte dienen sollen. Die sibirischen Ströme sind „Schicksalsströme“. Einer von ihnen, die Lena, diente indirekt als Namensgeberin für eine ganze Ideologie: Der in Simbirsk im Wolgagebiet geborene Wladimir Iljitsch Uljanow nannte sich nach dem Fluss, an dem er einen Teil seiner Verbannung verbringen musste, „der von der Lena“, auf Russisch: Lenin.

Doch zurück zu den russischen Schicksalsflüssen. Von den sibirischen sei noch die Kolyma genannt, die zwar relativ kurz ist, aber dadurch traurige Berühmtheit erlangt hat, dass in der Stalinzeit dort eine regelrechte Lagerlandschaft entstanden ist. Die „Erzählungen von Kolyma“ des ehemaligen Häftlings Warlam Schalamow stellen ein erschütterndes Monument des Lagerlebens dar und sind neben den Romanen und Erzählungen Alexander Solschenizyns die wichtigsten Beiträge zur so genannten „Lagerliteratur“, einer eigenen Gattung in der Literatur der Sowjetzeit.

Schließlich die Petschora, die im Nordural entspringt, im europäischen Teil Russlands fließt und in das Nordmeer mündet. In ihrem Becken finden sich reiche Kohlevorkommen, zu deren Förderung ebenfalls viele Häftlinge eingesetzt wurden, die dabei sowie beim Bau der entsprechenden Infrastruktur zu Tode kamen. Auch sie ist so etwas wie ein russischer Schicksalsfluss. Petschorin, die Hauptfigur von Lermontows „Ein Held unserer Zeit“, trägt seinen Namen nach diesem Fluss.

Ein Blick auf die Karte Sibiriens zeigt, wie wichtig das Flusssystem für die Besiedlung des russischen Nordostens war und bleibt. Noch heute gibt es kaum Orte, die nicht an einem der Flüsse liegen würden. Siedlungen konnten praktisch nur auf dem Wasserweg erreicht werden; der Landweg war wegen der riesigen Entfernungen kaum zu bewältigen. Das änderte sich erst mit dem Bau der Transsibirischen Eisenbahn. Jetzt war es möglich, in erstaunlich kurzer Zeit, in einem Dutzend Tagen, von der Hauptstadt Sankt Petersburg im äußersten Westen des Landes bis an das Japanische Meer zu gelangen, an die Ostgrenze Russlands. Die Städte entlang der Bahnlinie wurden im 19. Jahrhundert gegründet oder gelangten wenigstens zu jener Zeit zu Größe und Bedeutung. Ein weiterer qualitativer Sprung war die Möglichkeit des Flugverkehrs. Zur Zeit der Sowjetunion gehörten in Sibirien Flugzeug und Hubschrauber zu den wichtigsten Verkehrsmitteln. Wer von Sibirien nach Mitteleuropa reist, hat in Moskau oft schon den größten Teil der Reise hinter sich. Das zeigt nicht nur die enormen Dimensionen des Landes, sondern es lässt auch verstehen, warum in den Zeiten vor dem Luftverkehr die Flüsse von so großer Wichtigkeit waren.

Im europäischen Russland gravitieren die Flüsse nach Süden. Die meisten von ihnen ergießen sich in das Schwarze Meer, allerdings schon außerhalb des Territoriums der Russländischen Föderation, in der Ukraine. Manche fließen in das Kaspische Meer, hier ebenfalls zumeist über fremdes Gebiet, nämlich Kasachstan. Einige wenige nur speisen das Nordmeer oder die Ostsee.

Auf diese Weise bilden die russischen Flüsse ebenfalls zwei Räume: einen europäisch-südlichen und einen sibirisch-nördlichen. Ersterer steht gewissermaßen symbolisch für die südländische Prägung von Landschaft, Klima, Vegetation und Menschen. Der zweite kennzeichnet in jeder dieser Hinsichten das, was man oft unter „sibirisch“ versteht: karg, entbehrungsreich, unendlich weit sind Landschaft und Lebensart dort. Es stimmt, dass die sibirischen Städte zwar auf dem asiatischen Kontinent liegen, aber „europäische“, russische Städte sind; von ihrer Anlage her gilt das ebenso wie von ihrem Gepräge und ihrer Kultur. Aber sie verkörpern ein anderes „Europa“, auch ein anderes Russland als die europäisch-russischen Städte und Siedlungen, die nicht Weite und Entbehrungsreichtum signalisieren, sondern eher Fruchtbarkeit und in einer gewissen Weise Nähe. So können die russischen Wassersysteme stellvertretend für unterschiedliche Lebensarten gesehen werden.

Flüsse im kulturellen Raum

Mit dem Hinweis auf Lermontow wurde das Thema „Flüsse und Literatur“ bereits angesprochen worden. Es verwundert nicht, dass in der Volksdichtung die Flüsse, wenn sie für die Entwicklung des Landes so wichtig gewesen sind, große Bedeutung haben. Der berühmte Vers im Lied „Stenka Rasin“ mit dem Anfang „Volga, Volga, mat‘ rodnaja ...“ (etwa: „Wolga, Wolga, liebe Mutter...“) steht hierfür ebenso wie die Arbeitslieder der Wolgaschiffer. Auch in der russischen Literatur spielen Flüsse immer wieder eine Rolle, von Tolstoj in den „Kosaken“ (der Terek als Grenze Russlands) bis hin zum „Stillen Don“, dem Klassiker des Sozialistischen Realismus, der, wie wir heute wissen, in großen Teilen nicht von seinem mutmaßlichen Autor Scholochow stammt, sondern von einem repressierten Schriftsteller namens Krjukow. Bei Ostrowski, Chlebnikov und vielen anderen russischen Schriftstellern finden wir ebenfalls immer wieder das Motiv der Flüsse.

Andere Literaturen greifen das Flussmotiv ebenso immer wieder auf. Das Lehrgedicht „Das Floß, oder die Schifffahrt abwärts der Weichsel“ des polnischen Autors Sebastian Klonowic (oder Acernus) aus dem 16. Jahrhundert zeigt, wie mit einem Katalog der Flüsse eines Reiches dessen Größe und Bedeutung erwiesen werden sollen. Flüsse dienen als Bezugsgröße für Regionalromane, wie der Roman „Im Memelland“ (Nad Niemnem) von Eliza Orzeszkowa. Besonders genannt werden muss auch der Roman „Die Brücke über die Drina“, für den Ivo Andrić den Literaturnobelpreis erhielt. Der aus Bosnien (einem Land, das seinen Namen vom Fluss „Bosna“ hat) stammende Autor verwendet in diesem Roman – wie auch in anderen Werken – das Fluss- und das Brückenmotiv, um die Begegnung von christlicher und islamischer Kultur in Bosnien zu zeigen. In den letzten Jahren sind oft im Zusammenhang mit dem Krieg der neunziger Jahre in Bosnien-Herzegowina einzelne Äußerungen von Andrić als Beleg dafür genommen worden, dass ein Zusammenleben dieser Religionen nicht möglich sei. Andrić hat aber immer auch das den Menschen gemeinsame Handeln und Empfinden vor den kulturellen und religiösen Gegensätzen betont, so dass er sich als Zeuge für die genannte These kaum eignet.

Auch die Musik ist vom Motiv der Flüsse stark beeinflusst worden. Jeder kennt die „Moldau“, deren plastische Schilderung in der Komposition Smetanas nicht nur wiedergeben sollte, wie sich aus dem Flüsschen ein großer Strom entwickelt, sondern auch zeigt, wie sich das tschechische nationale Bewusstsein im Habsburgerreich des 19. Jahrhunderts artikulierte – als ein Gefühl, das eng mit dem Land, mit „Böhmens Hain und Flur“, verbunden ist. Nationalgefühl ist nicht immer, aber doch in den meisten Fällen abhängig von dem Zugehörigkeitsgefühl zu einem bestimmten Territorium, das dann eben häufig durch Gebirge, Flüsse oder die Küste gekennzeichnet ist – interessanterweise seltener durch Städte, die als Menschenwerk den angeblich natürlichen Anspruch einer Nation auf eine Region schlechter dokumentieren können. Wie sehr Flüsse prägend für nationale Ideen waren (und sind), lässt sich auch daran ersehen, dass sie häufig in Nationalhymnen genannt werden. Eine Strophe der kroatischen Hymne lautet: „Fließe, Drau, fließe, Save, auch du, Donau, lass nicht nach; wohin auch immer du fließt, sag‘ der Welt, dass der Kroate sein Volk liebt.“ Flüsse tragen angeblich den Nationalcharakter eines Volkes, dieser drücke sich, so wird häufig behauptet, in ihm aus. Dass hierfür oft abenteuerlich konstruiert werden muss, liegt auf der Hand, sei aber noch angemerkt.

Flüsse als Grenzen

Gemeinhin wird als erste Eigenschaft von Flüssen ihre Fähigkeit gesehen, Menschen und Gebiete zu trennen und voneinander abzugrenzen. Flüsse bilden also Grenzen – „natürliche Grenzen“, die Territorien von Nationen und dann eben Staaten voneinander trennen, oder imaginierte Grenzen, die dort Trennungen schaffen oder dokumentieren sollen, wo eigentlich gar keine sind. Das lässt sich oft in Zeiten von Krieg und Gewalt studieren, wie einige Beispiele zeigen: Geradezu lebensrettend war für die Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg das Erreichen der Oder; der gelungene Übergang über die Neretva, den die Deutschen verhindern wollten, war einer der wichtigsten Erfolge der Partisanen unter Tito; von der Drina, dem heutigen Grenzfluss zwischen Serbien und Bosnien, pflegten serbische Nationalisten zu sagen, sie sei nicht die Grenze, sondern das Rückgrat Serbiens, um ihren Anspruch auf Bosnien zu unterstreichen; der Übergang über die Save von Bosnien nach Kroatien bedeutete für viele Menschen die Rettung vor den Kriegsereignissen; das „Wunder an der Weichsel“ war geradezu konstituierend für den polnischen Staat der Zwischenkriegszeit; nur über die zugefrorene Newa konnte die Bevölkerung des eingeschlossenen Leningrad während der Blockade durch die Wehrmacht versorgt werden; in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg war manch einer froh, wenn er die Elbe überwinden und sich damit auf westliches Gebiet flüchten konnte. In der Republik Moldova hat sich der östliche Landesteil jenseits des Dnjestr („Transnistrien“) für selbstständig erklärt; in den neunziger Jahren gab es blutige Auseinandersetzungen um die Region, heute hat sich die Situation etwas stabilisiert, ist aber immer noch ungeklärt. Die Herrschenden dort versuchen, die Besonderheit ihres Staatsgebildes durch den angeblichen russischen und ukrainischen Charakter der Bevölkerung zu erklären. Doch muss man schon erhebliche Konstrukte aufbauen, um daraus eine eigene nationale und staatliche Identität zu gewinnen. Der imaginäre Charakter der Grenze, die durch einen Fluss gebildet wird, zeigt sich hier besonders deutlich.

Der östliche Nachbar Moldovas (oder Transnistriens) ist die Ukraine, ein Staat, der sich durch großen Reichtum an Wasserläufen auszeichnet. Die großen Ströme Dnjestr, Dnjepr, Donez und Bug (letzterer fließt als einziger in die Ostsee) werden durch zahlreiche Flüsse, Flüsschen und Bäche gespeist; und die geradezu sprichwörtliche Fruchtbarkeit des Landes wird durch die Verbindung der günstigen Bewässerungsverhältnisse mit dem milden Klima bewirkt. Die Ukraine weist zwar eine Reihe von Regionen mit ganz unterschiedlichem Charakter auf, doch verbindet diese Gebiete die wichtige Rolle, die Wasserläufe spielen.

Die abgrenzende Funktion von Flüssen und das Phänomen, dass sie Räume bilden, schließen einander nicht immer aus. Die Posavina kann hier als Beispiel gelten: Das Gebiet erstreckt sich über Teile von Kroatien und von Bosnien-Herzegowina. Südlich der Save leben Muslime, nördlich davon (abgesehen von Flüchtlingen und Migranten der Neuzeit) nicht. Der Fluss trennt heute zwei Staaten. Und dennoch handelt es sich bei der Posavina um ein und denselben geographischen Raum, der als solcher verstanden wird und sich durch zahlreiche Ähnlichkeiten und Parallelen auszeichnet.

Wir brauchen Grenzen, um die Welt einteilen und besser verstehen zu können; Kategorien und Einteilungen werden von uns zu diesem Zweck geschaffen. Flüsse trennen und verbinden. Das gilt auch für Gebirge, Meere und andere „natürliche“ Grenzen. Doch sollten wir uns immer dessen bewusst sein, dass auch diese „natürlichen“ Grenzen von Menschen geschaffen bzw. zu Grenzen gemacht worden sind. Flüsse verbinden die an ihnen gelegenen Gebiete zu Räumen, die sie durchfließen und die von ihnen geprägt werden. Doch Flüsse verbinden auch die Gebiete links und rechts ihrer Ufer. Sie dienen Menschen beiderseits für Nahrung, Bewässerung, Transport und Verkehr.

Flüsse als Verkehrswege

Für den wasserreichen mittel- und osteuropäischen Raum gilt in besonderem Maße, dass Flüssen eine entscheidende Bedeutung für Besiedlung und Verkehr zukam. Immer wieder stoßen wir in alten Chroniken auf Berichte darüber, dass sich die Kolonisierung von Landstrichen entlang der Wasserstraßen (oder an der Küste) vollzog. Der Landweg, den die skandinavischen Waräger nach Konstantinopel suchten und durch die heutigen Staaten Russland und Ukraine fanden, war eigentlich ein Wasserweg durch Seen und vor allem entlang von Flüssen. Das Schleppen der Boote an den Stromschnellen des Dnjepr war zwar mühsam und nicht ungefährlich, aber immer noch erheblich einfacher als eine Reise über Land oder gar rund um West- und Südeuropa auf dem Meer.

Die ursprüngliche Heimat der slawischen Stämme, vermutlich das heutige Grenzgebiet zwischen Weißrussland und der Ukraine, ist durch Wasserreichtum gekennzeichnet: Sümpfe, Flüsse, zahlreiche Wasserläufe charakterisieren dieses Land. Die slawischen Stämme waren gewandt im Bau von Booten, und sie kannten Methoden der Trockenlegung und damit Fruchtbarmachung von feuchten Böden. Diese Fertigkeiten brachten sie auch in die Gebiete mit, in denen sie sich später ansiedelten.

Verkehrswege ermöglichen Begegnungen zwischen Menschen: Handel, Kontakt, Kennen lernen, aber auch Krieg und Konflikt. Die europäischen Flüsse haben dazu beigetragen, dass die verschiedenen Kulturen auf dem Kontinent, auf dem sie so nahe beieinander leben wie sonst nirgends in der Welt, miteinander in Austausch treten und sich gegenseitig befruchten und bereichern konnten. Was wäre die westliche Philosophie ohne die Vermittlung des Aristotelismus durch die Araber, was der bosnische Islam ohne die lange Herausforderung durch die Begegnung mit den Christen, was die Literaturen der einzelnen Nationen ohne die der anderen? Doch Flüsse haben auch Eroberer und Truppen transportiert, Expansionsgelüste unterstützt und zur Aneignung von Territorien gelockt. Dieser Aspekt darf nicht verschwiegen werden.

Das europäische Flussnetz steht metaphorisch für das Netz europäischen Denkens, europäischer Kultur, die immer auf den Anderen und das Andere bezogen ist und in dem alle in einer Verbindung miteinander stehen, oft ohne dass es ihnen bewusst ist. So stehen die Flüsse nicht nur für Gewässer, für Transport, für Grenzen und Räume, sondern auch für das Zusammengehören von Entferntem, für die Prägung des Eigenen, das in Begegnung mit dem Anderen sein So-Sein erfährt, aber auch das Anders-Sein schätzt. Wie die Flüsse in Europa miteinander verbunden sind, so sind es auch die Kulturen, Religionen, Staaten und Nationen. Das können sie nicht ändern; es ist an ihnen, das Beste daraus zu machen.