Jugend über das Leben in Georgien

aus OWEP 1/2005  •  von Nino Tsamalaidse

Nino Tsamalaidse ist Studentin der Informatik an der Staatlichen Universität Tbilisi (Georgien). Die Fragen stellte Teona Damenia.

Ein Dichter sagte: „Wem die Jugend keine Hoffnung mehr schenkt, der ist ein Totgesagter.“ Da die jungen Menschen die Zukunft eines Landes sind, wäre es von Interesse zu wissen, was sie selbst von ihrem Leben und ihrer Zukunft halten. Die Informatikstudentin Nino Tsamalaidse war bereit, hierzu Rede und Antwort zu stehen.

Könntest du einen gewöhnlichen Tag in deinem Leben beschreiben?

Mein Tag fängt mit dem Klingeln des Weckers an. Ich stehe um acht Uhr auf, gehe ins Badezimmer und mache mich fertig für den Tag. Das kostet mich eine halbe Stunde. Dann gehe ich in die Küche, und wenn meine Mutter das Frühstück noch nicht gemacht hat, fange ich an, in der Küche zu wirken. Das mag ich sehr. Ich höre dabei Musik im Radio und spüre, wie meine Energie zunimmt. Meine Schwestern wachen in der Zeit auch auf, und wir frühstücken zusammen. Dann fahren meine jüngere Schwester und ich zur Uni, meine ältere Schwester zur Arbeit. Ich verbringe den größten Teil meines Tages an der Uni. Nachmittags gehe ich mit Freunden und Freundinnen spazieren. Manchmal gehen wir zusammen zu einem nach Hause oder ins Café und amüsieren uns. Gegen Abend komme ich nach Hause, ruhe mich aus und esse mit meiner ganzen Familie zum Abend. Am Tisch erzählen wir uns vom Tagesablauf, wir scherzen und lachen viel miteinander. Dann lerne ich, höre Musik und lese. Gegen Mitternacht gehe ich schlafen.

Von Beruf möchte ich Programmiererin werden. Dafür muss ich allerdings noch viel lernen und an mir selbst arbeiten. Mit meinem Bildungsniveau bin ich nicht zufrieden. Ich versuche, meine Kenntnisse auch in den Bereichen zu vertiefen, die nicht zu meinem Beruf gehören. Ich weiß, dass ich vieles machen kann. Ich bin sehr kritisch mir gegenüber und nie zufrieden mit dem Erreichten. Das hilft mir, meine Kräfte zu fühlen und sie zu vermehren. Ich bin bereit, zum Aufbau Georgiens beizutragen.

Wenn du schon vom Studium gesprochen hast, wie würdest du das heutige Ausbildungssystem in Georgien beurteilen?

Meiner Meinung nach gibt es keine allgemeingültigen Ausbildungsmodelle. Wenn jemand studieren will, wird man bei jedem Ausbildungssystem positive Seiten zu nützen wissen. Ich denke, dass die Notwendigkeit der Ausbildung heutzutage vernachlässigt wird. Es sollte mehr dafür getan werden, dass wir, die Jugend, mehr Spaß am Studium gewinnt. Der Ausbildungsprozess sollte interessanter und vielfältiger gestaltet werden. Es ist hoffnungsvoll, wie die Jugend neue Wege sucht und nach Erneuerungen strebt. Manchmal wissen wir nicht einmal, was wir suchen und benötigen, aber eines wissen wir genau – es muss etwas Neues geschaffen werden. Wir Georgier sind vielseitig talentiert und bestrebt. Das wurde durch die Erfolge der im Ausland lebenden und studierenden Landsleute vielfach bestätigt. Hier im Lande müssen wir aber das Fortschrittsdenken der Welt in die georgische Ideologie einpflanzen. Jeder Georgier meint, dass wir ein hoch entwickeltes Ausbildungssystem und Ausbildungsstätten errichten sollten, um damit die Erben der vergangenen ruhmreichen Jahrtausende zu werden. Nach der Rosenrevolution im November 2003 änderte die Politik in Georgien radikal ihre Richtung. Im Bildungssystem sehe ich viele Fortschritte und bin voller Optimismus.

Welche Pläne hast du für die Zukunft?

Es ist ziemlich schwer, etwas Bestimmtes zu sagen, aber ich denke, dass ich meinen Beruf ausüben werde nach meinem Abschluss.

In den letzten Jahren haben viele Georgier ihre Heimat verlassen und sind ins Ausland gegangen. Kannst du dir etwas vorstellen, wofür du ins Ausland gehen würdest?

Ich kenne selbst viele Menschen, die wegen der großen ökonomischen Schwierigkeiten ins Ausland gegangen sind und damit den Hungertod ihrer Familien verhindert haben. Gott sei Dank droht mir diese Gefahr noch nicht.

Man muss aber sofort darauf hinweisen, dass der größte Teil der Jugendlichen ins Ausland, vor allem nach Europa und Amerika gegangen ist, um zu studieren und Kenntnisse zu vertiefen. Unter ihnen findet man viele, die die Zukunft unseres Landes bilden werden. Diese große und bedeutende Gruppe der Studenten will sehr viel für den Fortschritt des Landes leisten. Sie arbeiten unermüdlich, sowohl physisch als auch geistig. Sie schonen ihre Kräfte nicht, denn genau sie sind es, die den Weg in die Zukunft vorangehen und ihn für die Nachfolger bereiten, damit er für sie nicht mehr so beschwerlich ist. So werden die nachfolgenden Generationen Georgien wieder aufblühen lassen. Diese Georgier geben uns Hoffnung auf eine bessere Zukunft unseres Landes. Deswegen würde ich ins Ausland allein wegen des Studiums gehen, und das auch nur für ein paar Jahre, denn ich weiß, dass ich es ohne meine Heimat nicht lange aushalten kann.

Was denkst du über Heirat?

Meiner Meinung nach bin ich für das Tragen einer solchen Last noch nicht vorbereitet. Ich will mich erst noch etwas amüsieren und das sorglose Leben in meiner Familie zu genießen.

Mit wie vielen Jahren sollte man heiraten?

In dem Alter, in dem man weiß, dass man sich um den anderen kümmern muss und ehrlich und nachgiebig sein kann. „Familie“ ist ein ernsthaftes Thema. Ich versuche, mir darüber meine Gedanken zu machen. Die Familie ist sehr wichtig, und deswegen muss man versuchen, sie so zu aufbauen, dass sie nie in die Brüche geht. Sie ist doch ein wichtiger Bestandteil für die Gesellschaft, die Gesellschaft für die Stadt und die Stadt für den Staat. Also ist eine stabile Familie die Grundlage für einen stabilen Staat.

Viele stehen vor der Wahl „Beruf oder Familie“ und entscheiden sich für Beruf und Karriere. Sie verbringen ihr Leben lieber allein, denn die schwierige sozial-ökonomische Lage zwingt sie dazu. Das Vorbild der europäischen Familie spielt hier auch eine Rolle. Manche wollen erst Erfahrungen sammeln, zusammenwachsen und danach heiraten. Wichtig ist, dass man sich bereit dafür fühlt. Verantwortungslos eine Familie zu gründen ist falsch, deswegen ist es wichtig, reif dafür zu sein.

Aus deiner Antwort folgt, dass du dir über die Stabilität der Familie schon deine Gedanken gemacht hast.

Aber klar! Meiner Meinung nach bedarf das einer ernsthaften Auseinandersetzung. Die Beziehung der Eheleute sollte durch die Liebe und gegenseitigen Respekt gekennzeichnet sein.

Sollte eine Familie durch die Kirche gesegnet sein?

Unbedingt, denn ohne kirchliche Trauung gibt es für mich keine Familie.

Wie wichtig soll die Religion oder der Glaube im Leben eines Menschen sein?

Ohne Glaube könnte ein Mensch nicht existieren, oder sein Leben würde den Sinn verlieren. Wenn du glaubst, glaubst du etwas, was du nicht gesehen hast. Wenn du in der Kirche nur das Kreuzzeichen machst, bist du noch kein Gläubiger. Ein Gläubiger betet viel und spricht mit Gott. Religion und Kirche spielten immer eine wichtige Rolle im Leben des georgischen Volkes. Ich gehe oft in die Kirche, bete und versuche, ein christliches Leben zu führen. Ich habe einen Beichtvater, der mir den wahren Weg zeigt und mir hilft, auf diesem Weg zu bleiben. Die Gläubigen schätzen und achten die alten georgischen Traditionen.

Ist es denn möglich, im 21. Jahrhundert kirchlich zu leben?

Es ist fast unmöglich. Wenn man in der Kirche steht, scheint es ganz einfach, so zu leben, aber draußen wird man mit so vielen Problemen konfrontiert, dass es unmöglich ist, nicht zu sündigen. Für die anderen sind Kirche und Glaube ein Regenschirm, um die eigenen Sünden zu verbergen: Wenn er offen ist und sie einen Sünder sehen, machen sie ihn zu, um den Sünder zu schlagen. Viele gehen in die Kirche, um keine Ausnahme von der Masse zu sein.

In den letzten Jahrzehnten wurden sehr viele Kirchen gebaut und renoviert. Selbst der Wunsch nach Errichtung des Gotteshauses stellt eine Art von Gläubigkeit dar. Nach der atheistischen Generation unserer Eltern sind wir freier und im Stande, die natürliche Hinwendung zu Gott zu entdecken und zu pflegen. Viele von uns leben und bedenken nur die Vergangenheit oder die Zukunft. Die Gegenwart entwischt uns dabei. Wir sind selten von der Gegenwart bewegt. Der Glaube lehrt uns aber, dass die Realität und nur die Realität wichtig ist und nur sie die Vergangenheit in sich trägt und in die Zukunft führt. Wir, die Jugend in Georgien, leben nach diesem Glauben.

Welchen Einfluss haben die wirtschaftlichen Probleme auf das Leben eines Menschen oder auf sein seelisches Befinden?

Eigentlich sollte ein notleidender Mensch fester glauben, aber ich habe viele Menschen getroffen, die aufgrund ihren Armut boshaft geworden sind. Sie haben keine Hoffnung mehr. Ihr Leben wird so doch zu einer Hölle.

Wie würdest du ein wirtschaftliches Problem in deinem Leben lösen?

Ich würde jede Art von Arbeit annehmen und irgendwie meinen Lebensunterhalt verdienen.

Wie gut sind deiner Meinung nach deine Rechte geschützt?

Ich kenne meine Rechte nicht einmal, um mir über den Schutz Gedanken zu machen. Ich hoffe, dass die nachfolgende Generation mehr darüber informiert wird.

Fühlst du dich sonst gut geschützt?

Vor Kurzem ist die Tragödie in Beslan passiert.1 Danach muss sich meiner Meinung nach jeder Mensch ungeschützt fühlen.

Wo sieht du die Rettung?

Wir sollten uns mehr lieben, Achtung und menschliche Wärme teilen. Kunst, Kultur und Religion sollten uns noch mehr erfüllen.

Denkst du, dass wir die alten Bräuche nur bewahren oder sie auch ausüben sollten?

Wir können über viele Dinge lachen, aber unsere Vorfahren waren sehr weise, und es schickt sich nicht, dass sie in Vergessenheit geraten.

Wenn du eine Wahl hättest, in welchem Jahrhundert würdest du leben wollen?

Mir gefällt meine Zeit. Es passiert so viel Interessantes auf der Welt!

Ich halte die Drogenabhängigkeit für ein großes Problem unter den Jugendlichen. Was bringt deiner Meinung nach einen Menschen zu Drogen?

Ich halte die Gleichgültigkeit für einen unter vielen Gründen. Wenn jeder Mensch die Probleme des Mitmenschen beachten würde, könnten wir dieses Übel überwinden.

Wie könnte man sich vor dieser Gefahr schützen?

Man sollte gebildet sein und an Gott glauben.

Was denkst du über die heutige Politik allgemein und speziell in Georgien?

Ich fühle mich nicht so wohl im Bereich der Politik. Es ist schwer für mich, Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit zu sehen. Im November 2003 war es sehr spannend in der Politik Georgiens. Die Rosenrevolution veränderte die Richtung der georgischen Politik radikal. Präsident Saakaschwili versucht, mit allen Staaten der Welt friedliche Beziehungen anzuknüpfen und die Stellung Georgiens unter den anderen Staaten der Welt bedeutsam zu machen. Er strebt friedliche und brüderliche Beziehungen zu allen Nationen an.

Die Gottlosigkeit fördert Missverständnisse und Kriege. Ich lebe in einem Land, das immer ein Feld von Kämpfen und Unterdrückungen durch verschiedene Völker gewesen ist. Ich weiß aus der Geschichte, wie viel Schaden und Zerstörung uns die Kriege gebracht haben. Krieg ist überhaupt schlimm. Zum Beispiel der Irak-Krieg – wie viele Kinder bleiben ohne Eltern und wie viele Frauen werden verwitwet, aber warum und wofür? Wo findet man eine Antwort? Wer wird uns trösten? Und warum streiten wir? Viele Fragen bleiben hier offen. Ich stimme dem großen Pazifisten Erich Maria Remarque zu, wenn er behauptet: „Kriege werden seltener, wenn du nicht mehr versuchst, jemandem etwas als Wahrheit zu erklären, was du für die Wahrheit hältst.“

Unsere Generation strebt besonders nach Frieden. Wir sind bereit, freundschaftliche Beziehungen zu anderen Staaten der Welt zu pflegen. Wir verurteilen jede Art von Gewalt. Wir sind Patrioten für unser Land. Wir sind in der Lage, gewissenhaft und tolerant die Verantwortung für unser Land zu übernehmen.

Wir können behaupten, dass die heutige Politik in Georgien durch die Jugend gemacht wird. Der Präsident und seine Minister sind im Verhältnis zum Durchschnittsalter der Regierungsmitglieder in der ganzen Welt recht jung. Das Beste ist, dass sie ihre Aufgaben sehr ernst und gewissenhaft machen.

Wie gefällt dir deine Stadt?

Tbilisi verändert sich sehr schnell. Das zeitgenössische Tbilisi wird dem alten allmählich ähnlich, aber es wird auch eine moderne Stadt. Man baut neue Häuser, alte werden renoviert. Straßen, Gärten und öffentliche Plätze werden geschaffen. Auch wird auf Sauberkeit geachtet. Es finden viele Konzerte und Veranstaltungen statt. Das alles sehe ich als Fortschritt für die Stadt an.

Wie würdest du allgemein das Leben eines Jugendlichen in Georgien beurteilen?

Ich denke, dass die Jugendlichen heutzutage ein schweres Leben haben. Wir haben, wenn man unser Alter bedenkt, mit vielen Problemen zu kämpfen, aber trotzdem könnte ich nicht sagen, dass wir nicht glücklich sind. Wir haben einen Krieg miterlebt, wirtschaftliche Not und Armut – dennoch haben wir die Hoffnung nicht verloren. Wir hoffen, dass wir ein ruhiges Leben führen werden. Wir werden unsere Bestimmung finden, für die wir auch von Gott in diese Welt geschickt wurden.

Meiner Meinung nach soll ein Mensch, der sich am Aufbau seines Landes beteiligen will, aus der Vergangenheit kommen und der Gegenwart die Hoffnung auf bessere Zukunft verleihen. Unserer Generation wurde von Gott die Aufgabe der seelischen Aufklärung unseres Landes gestellt. Dessen sind wir uns bewusst.


Fußnote:


  1. Am 1. September 2004 besetzten tschetschenische Rebellen eine Schule in der russischen Stadt Beslan am Nordrand des Kaukasus und nahmen dort über 1.200 Personen als Geiseln, darunter zahlreiche Schulkinder. Nach erfolglosen Verhandlungen wurde das Gebäude am 3. September von russischen Sicherheitskräften gestürmt. Insgesamt waren mehr als 400 Tote zu beklagen (Anm. d. Redaktion). ↩︎