Russland aus der Perspektive eines polnischen Seelsorgers

aus OWEP 2/2005  •  von Józef Życiński

Der Verfasser, Prof. Dr. Józef Życiński, ist römisch-katholischer Erzbischof von Lublin.

Wenn man über Russland schreibt, kann man auf ganz unterschiedliche Probleme hinweisen, je nachdem, ob man kulturelle und religiöse oder gesellschaftliche und politische Aspekte untersucht. Ich will diese ersteren behandeln, dagegen in nur minimalem Maße auf jene politischen Erscheinungen aufmerksam machen, die das geistige Leben und die religiösen Haltungen in der russischen Gesellschaft beeinflussen. Meinen Reflexionen liegt die Suche nach einem Dialog auf dem Gebiet von Glaube und Kultur zugrunde, unabhängig von den sich verändernden politischen Erklärungen und Programmen. Wichtig ist, dass die jetzige Ostgrenze der Europäischen Union nicht zu einem Pendant der Berliner Mauer wird. Deshalb ist es auch notwendig, der Schaffung kultureller Grenzen entgegenzuwirken, in denen die Unterschiede zwischen Russland und dem übrigen Europa hervorgehoben werden. Andererseits ist es wichtig, konsequent alle jene schmerzhaften Erscheinungen zu eliminieren, bei denen die von Lenin eingeführte pathologische Methode der Machtausübung das Maß russischer Identität sein soll.

Kulturelle Wurzeln des Dialogs

Würde man die Meisterwerke russischer Schriftsteller aus dem Weltkulturerbe entfernen, wären wir um große Klassiker der Literatur, Spiritualität und Metaphysik ärmer. Fragen nach dem Bösen, nach Gewissen und Schuld, wie sie von Dostojewskis Helden gestellt werden, kehren in den jeweiligen Generationen in unterschiedlichen kulturellen Milieus immer wieder. Der Versuch, Antworten auf sie zu finden, ist bereits Ausdruck einer gewissen Konzeption vom Menschen als einem ethischen Wesen, das es nicht bei pragmatischen Interessen bewenden lässt, die den Sieg im biologischen Kampf ums Dasein erleichtern. Diese klassische Öffnung der russischen Kultur für universelle menschliche Werte geht Hand in Hand mit einer für den Osten spezifischen Aufwertung der geistigen Dimension menschlicher Existenz. Wir finden sie sowohl in der russischen monastischen Tradition wieder, die auf die Bedeutsamkeit der kontemplativen Lebenshaltung verweist, als auch in den Äußerungen des berühmten Regisseurs Andrej Tarkowskij über die Notwendigkeit des christlichen Glaubenszeugnisses in der Welt von heute. Das Besondere eben dieser Haltung ist für die volle Entwicklung des Menschen so bedeutend, dass Johannes Paul II. wiederholt betonte, es sei die Pflicht unserer Generation, das Funktionieren der „beiden Lungenflügel“ zu koordinieren – der rationalen Tradition des Westens und der kontemplativen Herangehensweise des Ostens.

Der unterschiedliche Typus der Sensibilität der Menschen des Ostens entscheidet über diese Spezifik ihres Umgangs mit der Kultur, die den Westen fasziniert. So erging es auch André Gide, der nach einem Besuch Russlands von der Mentalität angetan war, in der in unwiederholbarer Weise – wie in der Musik russischer Komponisten – alles in eins verschmilzt: die ausgedehnten Landschaftsräume, das Kolorit slawischer Sensibilität, die Melancholie, die das Nachdenken über das Mysterium der Welt begleitet. Wäre diese Kultur heute nicht eine Alternative zur westlichen Kultur, wenn in der Geschichte Russlands nicht jene in ihren Konsequenzen tragischen Modelle auftauchten, wie sie von Lenin und seinen bolschewistischen Fortsetzern präsentiert wurden? Es war Lenin, der mit seiner Konzeption des „neuen sowjetischen Menschen“ den ideologischen Klassenkampfbegriff auf die Kultur ausweitete. Er war es, der seine Gefährtin Nadeschda Krupskaja anwies, die Werke der Klassiker – Plato, Thomas von Aquin, Descartes, Kant – aus den Bibliotheken zu entfernen. Die schmerzhaften Folgen dieser Denk- und Handlungsweise sind in den sozialen Empfindungen noch wirksam, insbesondere in der Negation und im Misstrauen gegenüber dem „verfaulten Westen“.

Die leninschen Pathologien hinterließen in der russischen Kultur eine unauslöschliche tragische Spur. Ihr Symbol bleiben die Lager von Kolyma und Solschenizyns Bücher. Verständlicherweise widmete man in der Kultur Europas im 20. Jahrhundert jener Barbarei große Aufmerksamkeit, deren Symbol Auschwitz ist. Die Barbarei unter dem Zeichen Kolymas ist jedoch umso tragischer, als der ideologische Fanatismus sich dort sogar gegen das eigene Volk richtete und den Begriff des Klassenkampfes auch in die Sphäre der Familien trug. Die Zeugnisse jener Jahre, die erhalten sind durch die, die in den Lagern saßen, sollten für die ganze Welt eine bittere Lektion in Sachen „Humanismus“ sein. Sie zeigen, wie leicht man prometheische Träume von sozialer Befreiung in ein totalitäres menschenverachtendes System verwandeln kann. Deshalb enthalten die tragischen Erfahrungen Russlands im 20. Jahrhundert eine wichtige Botschaft für die ganze Menschheitsfamilie.

Das Christentum nach dem Leninismus

Die Perspektive der Tragödie des russischen Volkes könnte ein falsches Bild der zeitgenössischen Russen vermitteln, indem sie die ganze Gesellschaft vor allem als geistige Erben Alexander Solschenizyns oder Vater Alexander Mens zeigt. Die Zeit des Kommunismus hat bis heute sehr tiefe Spuren in der Psyche hinterlassen. Als man im Westen die negative Charakteristik solcher Haltungen mit dem Begriff des „homo sovieticus“ verband, argumentierte in Russland der Erfinder dieser Bezeichnung, der ansonsten den Kreisen der Dissidenten nahestehende Logiker Alexander Sinowjew, dass der Westen unfähig sei, das Wesen der russischen Seele zu verstehen noch objektiv das darzustellen, was Ausdruck der spezifisch russischen Tradition sei.

Ein solcher Standpunkt lässt sich nicht mit der Behauptung verteidigen, dass Russland eine gesonderte Ethik oder auch eine eigene Version der Menschenrechte benötige. Möglich wäre aber ein Herangehen, bei dem in der Wertehierarchie gewisse Akzente verschoben werden, wobei das Spezifische der russischen Erfahrungen berücksichtigt würde. Ich erinnere mich: Nach einem von mehreren Interviews, die ich einer Moskauer Rundfunkstation gab, die sich an Intellektuelle richtet, bat man mich, ich möge im nächsten Gespräch das Adjektiv „ökumenisch“ vermeiden. Ich fragte, weshalb. Man erklärte mir: Weil viele unserer Hörer meinen, dieser Terminus sei vor allem ein Ausdruck politischer Korrektheit. Ich nehme an, dass dieser Bitte eine lokale Praxis zugrunde liegt, bei der jemand, der den Ökumenismus lobte, sich nicht allzu ökumenisch verhalten hatte. Ich bemühte mich, die Intentionen meiner Gastgeber zu verstehen und zu achten. Eine solche Achtung ist jedoch unmöglich, wenn man heute das Wesen der russischen Seele in Kategorien zu beschreiben versucht, die Lenin und die von ihm geleitete Partei der Bolschewiki erarbeitet haben.

Symptom eines unkritischen Optimismus wäre die Erwartung, dass die leninsche Etappe definitiv vorüber gegangen sei, ohne bemerkenswerte Spuren im Unterbewusstsein der Bürger zu hinterlassen. Persönlich schätze ich die Rolle der russischen intellektuellen Eliten hoch ein, die sich bemühen, den kulturellen Restbeständen des Leninismus entgegenzuwirken. Ich schätze die Vertreter von Gruppierungen der Akademiker, der Journalisten, der Kulturschaffenden hoch, die ich persönlich in Moskau und Petersburg bei Begegnungen traf, die der Überwindung geistiger Hinterlassenschaften des Kommunismus gewidmet waren. Ich erinnere mich, mit welcher Bewegung ich darauf reagierte, als ich erfuhr, dass eine Dame, um an der moderner Spiritualität gewidmeten Begegnung teilzunehmen, von jenseits des Urals anreiste, wobei sie über 1.200 Kilometer zurücklegte. Unsere Rührung und Bewegung darf uns jedoch nicht dazu bringen, Fragen nach statistischen Parametern des Glaubens zu vermeiden, und in keinem Fall berechtigen sie dazu, Situationen zu ignorieren, in denen man sogar innerhalb christlicher Gemeinschaften versucht, leninschen Denkstil zu praktizieren.

Religiöser Dialog oder Klassenkampf?

Bei der Suche nach neuen Formen der Zusammenarbeit mit dem Osten bemüht sich unsere Organisation wissenschaftlicher Sessionen in der Katholischen Universität Lublin, Theologen aus dem Gebiet der früheren UdSSR einzuladen. Einige Jahre lang entwickelte sich die Zusammenarbeit mit der Geisteswissenschaftlichen Universität in Minsk, deren Theologische Fakultät von dem dem Moskauer Patriarchen unterstehenden Metropoliten Filaret geleitet wurde, hervorragend. Gegründet hatte diese Universität eine nach Unabhängigkeit strebende Gruppierung zur Zeit des Janajew-Putsches im August 1991. Die relativ unabhängige Hochschule bestand bis August 2004, dann wurde sie kraft einer Entscheidung von Präsident Lukaschenko aufgelöst.

Derzeit gehen in Polen Versuche zu einem Dialog über die Grenzen der Europäischen Union hinweg eher von einzelnen Personen als von Institutionen aus. Ausdruck dessen ist die Beteiligung Jugendlicher aus Russland an polnischen Wallfahrten nach Tschenstochau oder russischer Kinder an von der polnischen „Caritas“ organisierten gemeinsamen Ferien.

Mit großer Hoffnung und Sympathie schaue ich auf den kulturellen Brückenbau einer Zusammenarbeit, wie sie von den Mitarbeitern der Redaktion der russischsprachigen Monatszeitschrift „Nowaja Polscha“ (Neues Polen) angestrebt wird. Ihr Chefredakteur Jerzy Pomianowski, der acht Jahre in Russland verbrachte, repräsentiert eine Haltung im Dialog der Kulturen, die der päpstlichen Metapher von der Koordination der beiden Lungenflügel Europas sehr nahe kommt. Voll Vertrauen schaue ich auf die ebenso in anderen Ländern unternommenen Versuche, die leninsche Feindseligkeit gegen den Westen zu überwinden. So verbindet etwa die Verehrung des heiligen Nikolaus in Bari Anhänger der russischen Orthodoxie mit den Katholiken Italiens. Als Geschenk für die Bewohner Baris schickte Präsident Putin ein monumentales Denkmal des heiligen Nikolaus mit der in Bronze eingravierten Botschaft von der geistigen Nähe der russischen und italienischen Verehrer dieses Heiligen. Der in italienischer und russischer Sprache abgefasste Text wird sicher nicht nur von Touristen mit Interesse gelesen, sondern auch von den Gläubigen, die zur heiligen Messe in die Kathedrale eilen. Skeptiker mögen kommentieren, es sei ein interessantes Zeichen der Zeit, dass ein unmittelbar vor der Teilnahme an der eucharistischen Liturgie gelesener Text von einem ehemaligen KGB-Funktionär vorbereitet wurde. Wesentlicher ist jedoch, dass ähnliche Symbole es gestatten, die Relikte leninscher Mentalität zu überwinden und nach einer Wertegemeinschaft zu suchen, die Katholizismus und Orthodoxie, die Kultur des Ostens und des Westens verbinden.

Der Erzbischof von Wien, Kardinal Schönborn, leistet viel zur Annäherung der beiden großen Traditionen. Vor Jahren nahm er gemeinsam mit Patriarch Alexij II. an einem ökumenischen Gottesdienst in einer Moskauer Kirche teil. Zur gleichen Zeit, als die Versammelten im Gotteshaus um den Geist der Einheit beteten, wurde auf der Straße eine Demonstration von Gruppen organisiert, die dagegen protestierten, dass Häretiker in die rechtgläubigen Kirchen der Orthodoxie geführt würden. Die Demonstration wurde von einer temperamentvollen Aktivistin geleitet, die die auf der Straße versammelten Beobachter als „La Passionaria“ bezeichneten. Neugierig geworden, fragte der Kardinal beim Auszug aus der Kirche, was diese „La Passionaria“ in der früheren Epoche gewesen sei, als man noch keine ökumenischen Gebete von Katholiken und Orthodoxen organisierte. Die Antwort: Sie war Parteisekretärin in einer zentralen Stelle der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Diese Episode spiegelt das besonders unangenehme Phänomen, dass religiöse Werte mit den Kategorien erfahrbar gemacht werden, die Ideologen und Parteifunktionären vertraut sind.

Das ist kein Einzelfall. Als Russlands Behörden nicht damit einverstanden waren, dass der in Polen geborene Bischof Jerzy Mazur von einer Auslandsreise in seine Diözese Irkutsk zurückkehrte, organisierte man zur Unterstützung dieser Entscheidung Straßendemonstrationen, bei denen ideologische Losungen entschieden das religiöse Motiv überlagerten. Ein Journalist stellte damals Teilnehmern einer solchen Demonstration die Frage: „Weshalb seid ihr ganz konkret gegen die Rückkehr Bischof Mazurs?“ – „Deshalb, weil er aus dem Westen kommt.“ – „Und weshalb meint ihr, dass dies so wesentlich sei?“ – „Weil der Westen Verderbnis und Wohlstand bedeutet.“

Der Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse im Dialog mit der Orthodoxie kann sich als sehr schwierig erweisen, wenn Personen mit der Mentalität eines bolschewistischen Führers versuchen, den Ton bei der Verkündigung des Evangeliums Jesu Christi anzugeben. Die über siebzig Jahre lang entwickelte Methode, den Westen als ideologisches Schreckgespenst zu benutzen, hat im Bewusstsein der Gesellschaft mächtige Barrieren hinterlassen.

Unter den Faktoren, die den Bau der Einheit erschweren, muss auch der bis heute in vielen Milieus umhergeisternde Versuch genannt werden, religiöse Identität auf der Basis ethnischer Zugehörigkeit zu bestimmen. Als besonders schädlich für den Dialog erweisen sich simple Typisierungen: Pole gleich Katholik, Russe gleich Orthodoxer, Inder gleich Hindu. Die Situation wird noch schwieriger, wenn religiöse Inhalte durch eine Folklore überdeckt werden, die im Stil von Parteilosungen gehalten ist. Ungeachtet der auftretenden Schwierigkeiten muss Christi Wunsch beim Abendmahl „dass alle eins seien“ (Joh 17,22) verwirklicht werden. Auch sollte das Bewusstsein gestärkt werden, dass es keine ernsthafte Alternative zum Dialog der Kulturen und zur ökumenischen Suche nach Einheit gibt.

Der Vorrang des Evangeliums vor dem Recht

In den allgemein gebräuchlichen Schemata stellt man den für Spiritualität offenen Osten dem gleichgültigen und satten Westen gegenüber. Vielleicht ließe sich dieser Gegensatz auf der metaphysischen Ebene stützen, wenn man davon ausgeht, dass es im Osten Europas eine natürliche Hinwendung zu Gott gibt, die sich in dem an Konsum und Erfolgsjagd interessierten Westen schwerer wahrnehmen lässt. Die Statistiken sind jedoch erbarmungslos in ihrer Aussage.

Die statistischen Daten über die am stärksten laizistischen Gesellschaften Westeuropas bezeugen, dass die Zahl der dort regelmäßig an der Sonntagsmesse teilnehmenden Katholiken bei 1 Prozent liegt. Aus Informationen, die ich von orthodoxen Freunden bekam, ergibt sich, dass man während der Osterfeiertage 2003 in Moskau 83.000 Teilnehmer an der Osterliturgie zählte. Wenn man berücksichtigt, dass Moskau 11 Millionen Einwohner hat, ergibt dies einen Wert von 0,75 Prozent. Dies ist ein bedeutend niedrigerer Wert, wenn man bedenkt, dass die Osterfeiertage in Russland selbst Personen zum Besuch der Kirche bewegen, die sonst dort nicht erscheinen. Auf diese Zahlen verwies ich bei einer der europäischen ökumenischen Begegnungen. Ich forderte damals ein ökumenisches seelsorgerisches Zusammenwirken vor allem angesichts der Strömung kultureller Transformationen, in der die bis vor kurzem noch einer ideologischen Indoktrination unterworfenen Gesellschaften heute in ein radikal neues Klima versetzt werden. Dieses Klima zerstört religiöse und menschliche Werte durch die Jagd nach Erfolg, der nur den Gesetzen des freien Marktes unterliegt. In einer solchen Situation müsse man die Anstrengungen vereinigen, um Christi Botschaft zu verwirklichen, dass man das Evangelium jedem Geschöpf verkünde (Mk 16,15). In der heutigen seelsorgerischen Praxis muss man Christi Worte entschieden höher stellen als juridische Theorien über ein kanonisches Territorium oder wechselseitige Anklagen wegen eines Proselytismus. Andernfalls werde uns die Geschichte sehr streng beurteilen, weil wir die Zeichen einer Zeit nicht erkannten, in der Christus moderne Apostel braucht, nicht aber Anhänger längst verklungener Theorien.

Die Antwort auf meine Argumente lautete, Statistiken seien nicht imstande, die ganze Tiefe religiöser Erlebnisse auszuloten. Das russische Volk richte vielmehr sein ganzes Leben auf religiöse Werte hin aus. Es gebe also keine objektiven Gründe, bei der Beurteilung religiöser Haltungen einer Gesellschaft zu dramatisieren, die in positiver Weise eine Etappe institutionalisierter Atheisierung durchschritten habe.

Ohne Dramatisierung meine ich doch, dass es ernsthafte Gründe gibt, die gegenwärtige kulturelle Situation ehemaliger kommunistischer Länder für eine besondere pastorale Herausforderung zu halten. Obwohl ich die Hoffnung teile, dass sowohl das Wirken göttlicher Gnade als auch tief verwurzelte Motivationen sich als weit tragfähiger erweisen können, als dies aus Statistiken hervorgeht, beziehe ich mich noch einmal auf empirische Daten, die Seelsorger nicht bagatellisieren sollten. Die Moskauer Angaben über die Zahl der Scheidungen, der Schwangerschaftsabbrüche oder der familiären Krisen sind erschreckend. Beunruhigend sind auch die nur teilweise öffentlich gemachten Zahlen über HIV-Infizierte. Die aus der kommunistischen Zeit ererbte Verwendung des „Samogons“, d. h. des mit primitiven Methoden selbst hergestellten Alkohols, als eines allgemeinen Narkotikums bringt viele Probleme mit sich, die Anlass zur Sorge sein müssen. Wenn man der moralischen Verwüstung entgegenwirken will, so erfordert dies heute das integrierte Handeln vieler Milieus; es erfordert eine Aktivität ähnlich derer, wie sie nach Erdbeben oder Epidemien zu beobachten ist.

Seelsorger, die aus Polen zur Aushilfe in die Ukraine kommen, stoßen dort auf Verständnis und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit – sowohl seitens der Zivilbehörden als auch orthodoxer Geistlicher. Als grundlos erwiesen sich anfängliche Befürchtungen, sie würden polonisieren oder nostalgisch die Vorkriegszeit heraufbeschwören, als die Westukraine zu Polen gehörte. Die in der Taufe begründete Glaubensgemeinschaft ist viel wichtiger als die ethnische Gemeinschaft. In anderen Regionen der ehemaligen UdSSR gilt es, ähnliche Formen der Zusammenarbeit zu finden. Auf der Suche nach ihr muss man Vorurteile überwinden und alles dafür tun, dass das Christentum nicht als Mittel zur Verwirklichung politischer Zwecke instrumentalisiert wird, sondern dass Christus zum höchsten personalen Wert für die heutigen Nachfahren Dostojewskis und Tolstois wird.

Hoffnung – stärker als die Furcht

Unabhängig von den Schwierigkeiten im Dialog mit der russischen Orthodoxie muss man jeden positiven Schritt hoch schätzen im Vertrauen darauf, dass er der Evangelisierung dient. Als Bestätigung dafür, wie richtig das ist, beschwöre ich die Gestalt des Moskauer Professors Julij Schrejder. Nachdem er das Christentum für sich entdeckt hatte, beeinflusste er mit seinem Enthusiasmus so stark seine Freunde, dass ich acht Jahre nach seinem Tod noch immer Personen treffe, die ihm ihre religiöse Wandlung verdanken. Bauen wir darauf, dass er nicht der einzige Glaubenszeuge in seinem Milieu war.

Während in westlichen Ländern oft die Losung wiederholt wird „Gott ja, Kirche nein“, wird dem Moskauer Oberbürgermeister die russische Entsprechung für Folgendes zugeschrieben „Kirche ja, Gott nein“. Im ersten Augenblick mutet das exotisch an. Bei näherer Reflexion zeigt es sich jedoch, dass sein Autor noch nicht zur Anerkennung Gottes gelangt ist, aber die Kirche als im gesellschaftlichen Leben anwesende Gemeinschaft akzeptiert. Summa summarum ist ein solches Handeln ehrlicher als das Verhalten solcher Personen, die sich ohne Überzeugung zur Annahme der Taufe nur deshalb entschließen, weil in ihrer Umgebung alle für die Rolle der neuen politischen Avantgarde Kandidierenden schon getauft sind.

Unter allen Bedrohungen für einen echten Dialog der Kulturen halte ich die Ideologisierung des Christentums für besonders gefährlich. Sie kommt sogar in der Einführung politischer Ideen ins Gebet der Kirche zum Ausdruck kommt. Ich erinnere mich an eine Begegnung in Petersburg, in der das Gebet nach einer Mahlzeit mit der Anrufung endete: „Maria, Zarin Großrusslands, bitte für uns!“ Ich weiß nicht, welche Konzeption eines Großrusslands die Autoren dieser Anrufung hatten. Einen Augenblick lang packte mich doch die Sorge, ob meine Erzdiözese Lublin, die an die Ukraine grenzt, nicht auch zufällig in Großrussland eingefügt wird und ich nicht mehr nach Hause käme. Ein Glück, dass die christliche Hoffnung sich stärker als alle Befürchtungen erweist – auch vor neuen Herausforderungen in einer Zeit großer Umwälzungen, in denen Christus uns als Zeugen einer Versöhnung im Geiste des Evangeliums entsendet.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.