Vom Weimarer Dreieck zum geeinten Kontinent
Es ist schon fast ein Gemeinplatz, von der historischen Belastung der deutsch-polnischen Beziehungen zu sprechen, und es wird – erfreulicherweise – mehr und mehr zu einem wichtigen Anliegen von unterschiedlichen Initiativen in den Gesellschaften diesseits und jenseits der Oder, sich für deren Überwindung und vor allem für eine produktive gemeinsame Zukunft zu engagieren.
Die letzten Jahre haben uns besonders eindringlich vor Augen geführt, wie wichtig die Verständigung zwischen Deutschen und Polen ist, für uns selbst und überdies, wenn man sie in einen größeren europäischen, ja weltpolitischen Kontext stellt. Der 9. November 1989 und der 11. September 2001 markieren Eckdaten einer radikalen Veränderung der globalen Konstellation. Die Front des Ost-West-Konflikts und des Kalten Krieges war im November 1989 zusammengebrochen, der friedlichen Zukunft einer weltumspannenden Demokratie schien 1989 nichts mehr im Wege zu stehen. Aber es ist anders gekommen. Nicht nur peinigen Bürgerkriege die so genannte Dritte Welt, auch in Europa wurde wieder geschossen, und Terroristen bedrohen Menschen in aller Welt. In den etablierten Demokratien stoßen die gewählten Regierungen immer mehr an die Grenzen möglicher Gestaltung, weil die internen Regelungen ein von Interessen festgezurrtes Netz gebildet haben, das sich kaum noch entwirren lässt, vor allem aber weil die ökonomische Globalisierung – bei allen Vorteilen, die sie auch bringt – der Politik die für ihre Gestaltung notwendigen, noch im Szenario des Nationalstaates gefertigten Instrumente entwindet. Einer der wenigen vielversprechenden Akteure ist die Europäische Union, weil der ökonomische Raum, den sie politisch umfasst, groß und potent genug ist, um politische Gestaltung wieder zu erlauben.
Polen, Frankreich und Deutschland als Schrittmacher der Integration
Wenn wir die freiheitliche Demokratie angesichts der neuen Herausforderungen im Dienste der Würde aller Menschen stärken wollen, dann resultiert daraus fast zwangsläufig, der Erweiterung der EU zum Gelingen zu verhelfen. Dabei spielt die deutsch-französische Freundschaft eine kardinale Rolle; in der Vergangenheit und für die Zukunft. Um diesen Motor so zu erhalten und zu stärken, dass die vergrößerte Europäische Union zu einem handlungsfähigen und auch nach innen erfolgreichen Akteur wird, erscheint es jetzt von vordringlicher Bedeutung, diese erfolgreiche Zweierbeziehung um Polen zu bereichern. Zwar hat eine ménage à trois immer auch ihre Tücken, aber politische Freundschaften sind ja keine Liebesverhältnisse, sondern eben Freundschaften, in denen Rivalitätspotenziale am besten dadurch entschärft werden, dass man gemeinsam plant und handelt. Die deutsch-polnischen Beziehungen werden damit mehrschichtig: Das nachbarliche Zweierverhältnis wird komplexer, weil historische und aktuelle Bezüge zwischen den drei Ländern wieder ins Bewusstsein treten und damit ein kulturell tragfähiger und haltbarer Brückenpfeiler zwischen West- und Osteuropa ausgebaut werden kann.
Die letzten Monate haben uns gezeigt, wie wichtig diese Ausweitung der deutsch-französischen Freundschaft in Richtung des Weimarer Dreiecks ist. Als die Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands, Skubiszewski, Dumas und Genscher es bei einem gemeinsamen Aufenthalt in Weimar 1991 zumindest rhetorisch aus der Taufe hoben, hatten sie theoretisch im Blick, was heute vor aller Augen ist: dass nämlich bei der Vergrößerung der Europäischen Union insbesondere die drei großen Staaten in der Mitte Europas eine gemeinsame Linie finden müssen, und dass die deutsch-französische Freundschaft nicht in Konkurrenz zur deutsch-polnischen Aussöhnung treten darf. Freilich ist dies leichter gefordert als praktisch in die Tat umgesetzt. Gegenwärtig können wir beinahe täglich erleben, wie leicht Animositäten, Rivalitäten und gegenseitige Verdächtigungen auf Regierungsebene entstehen und aus historischen Beständen schöpfen können. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen sich in den drei Ländern – und natürlich nicht nur in ihnen – immer näher kommen, damit ein Sicherheitsnetz entsteht, das Verschärfungen von Interessenkonflikten, die in Europa immer mehr zum Alltag gehören werden, auffangen kann.
Menschen und Kulturen miteinander vernetzen
Der große Soziologe Georg Simmel und in seiner Nachfolge Lewis Coser haben – im Rahmen innerstaatlicher Gesellschaften – den Gedanken entwickelt, dass eine Gesellschaft umso besser zusammenhält, je mehr sie von so genannten Über-Kreuz-Loyalitäten geprägt ist. Diese entstehen, wenn Menschen zu unterschiedlichen, miteinander auch in Gegensatz oder in Spannung befindlichen Vereinigungen gehören, aber dennoch viele Ziele teilen, fremde Sprachen verstehen, andere Traditionen kennen und sich ihnen auch gefühlsmäßig verbunden fühlen. Wer zugleich in einem Sportclub, in einer politischen Partei, in einer religiösen Gemeinschaft und in einem Berufverband tätig ist und deren jeweilige Logiken begreift, kann vermitteln und Gegensätze dämpfen, wenn es zwischen diesen unterschiedlichen Gruppen bzw. Vereinigungen zum Konflikt kommt. Er kann vor allem Missverständnissen oder Missachtungen vorbeugen, die oft für das Entstehen von Konflikten mindestens so wichtig sind wie substanzielle Interessengegensätze.
Diese Einsicht gilt nicht nur für innerstaatliche, sondern auch für transnationale Gesellschaften, wie sie sich mehr und mehr z. B. in der Europäischen Union herausbilden. Deshalb ist es so wichtig, dass junge Menschen über die nationalen Grenzen hinweg gemeinsame Projekte verfolgen, auch eine gemeinsame Wegstrecke zusammengehen. Reisen und gegenseitige Besuche bieten schon eine gute Grundlage. Aber richtig belastbar wird der Zusammenhalt dann, wenn vor allem junge Menschen aus verschiedenen Ländern sich gegenseitig sprachlich leicht verständigen können, sich gemeinsame Ziele setzen, daran arbeiten und sich mit ihrem gemeinsamen Werk dann auch gefühlsmäßig identifizieren.
Die Viadrina als Ort gelebter Kooperation
Im Sinne dieser Überlegung war es eine weise Entscheidung, in Frankfurt/Oder mit der Viadrina im Jahre 2001 eine Universität wieder zu gründen und diese mit dem Auftrag zu versehen, das deutsch-polnische Verhältnis zu stärken und ein Bewusstsein von Europa öffentlich wirksam zu pflegen, das Mittelosteuropa explizit einschließt und die Vergrößerung der Europäischen Union seitdem vorbereiten hilft. Denn so wichtig und notwendig es ist, den Blick für Gesamteuropa und dessen Stellung in der Welt offen zu halten und zu wahren, so nötig ist für die Realisierung des großen Projekts das Engagement im Detail, sowohl, um – auch in den Niederungen des Alltags – voranzukommen, als auch um den Reichtum der kulturellen Vielfalt in Europa wahrzunehmen, lebendig zu halten und zu fördern. Europa entsteht nicht auf dem Reißbrett, sondern konkret. So mag ein kleiner Rückblick auf unsere Erfahrungen auch die Chancen der zukünftigen Entwicklung in Europa beleuchten.
Zu Beginn gab es, wie bei jedem neuen Projekt, durchaus Befürchtungen: Würde die gemeinsame Lehre und Forschung gelingen? Würden es die Polen sprachlich schaffen? Würden die deutschen Wissenschaftler sich ernsthaft mit Polen und Osteuropa befassen? Würde die polnische Seite einen substanziellen Beitrag leisten können? Denn ein wirklich tragfähiges Verhältnis entsteht nur, wenn die Partner ungefähr gleichgewichtig sind, jedenfalls in gegenseitiger aufrichtiger Achtung und Anerkennung miteinander umgehen – wie in einer guten Ehe. Die anfänglichen Sorgen haben sich als unbegründet erwiesen. Die polnischen Studierenden, die eine Aufnahmeprüfung hinsichtlich ihrer Sprachfähigkeit und ihres Allgemeinwissens ablegen müssen, sind der Herausforderung gewachsen; viele von ihnen gehören zu den Besten ihres Landes. Die polnische Schulausbildung stellt zwar Eigenständigkeit und Kreativität als Ziele nicht obenan, rüstet die jungen Polen jedoch mit der Fähigkeit zu harter Arbeit aus. Das Bestreben, auf dem Arbeitsmarkt schnell und gut zu reüssieren, steigert ihre Motivation. Hier gibt es übrigens einen Unterschied zwischen der Mehrheit der polnischen und der deutschen Studierenden. Die polnischen Studierenden sehen im Studium vor allem die Chance, eine interessante berufliche Position auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Studieren um des Studierens willen, vielleicht auch um einer allgemeinen Bildung willen, steht bei ihnen nicht im Vordergrund. Sie sind auch – zu Recht – durchaus optimistisch, eine solche Position nach dem Studium zu finden. Die Deutschen hegen den Arbeitschancen gegenüber mehr Skepsis, insbesondere in der Kulturwissenschaft, die zugleich für sehr viele Studierende, gerade aus den alten Bundesländern, eine Hauptattraktion darstellt. Insgesamt sind deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor vergleichsweise gut, aber auf längere Sicht werden wir die Möglichkeit zu noch mehr Spracherwerb, vielleicht sogar einen dreisprachigen Studienabschluss anzubieten versuchen, um die Chancen zu steigern.
Eine besonders enge deutsch-polnische Zusammenarbeit spielt sich am Collegium Polonicum auf der anderen Seite der Oder ab, das die Viadrina zusammen mit der Posener Adam-Mickiewicz-Universität betreibt. Es empfängt den Besucher von Słubice gleich am Ende der Oderbrücke als ein eindruckvoller Bau – ein Beweis für die Stärke und das Gewicht des polnischen Engagements; denn dieser Bau wurde unter der Regie unserer Posener Partneruniversität errichtet und neben der EU vom polnischen Staat und der „Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit“ finanziert. Auf die Idee, dass Polen in dieser Kooperation ein Bittsteller sein könnte, kommt man angesichts dieser Leistungen nicht mehr. Im Gegenteil, die Dynamik unserer polnischen Partner – etwa die Geschwindigkeit, mit der der Bau errichtet wurde – hat auf alle einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Viele der deutschen Wissenschaftler an unserer Universität beschäftigen sich mit polnischen und mittelosteuropäischen Themen und pflegen die Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus den Nachbarländern. Zu Konflikten aus nationalen Vorurteilen ist es zwischen den Mitgliedern der Viadrina bisher nicht gekommen. In den Studentenheimen treffen die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten und Mentalitäten zwar deutlich aufeinander, aber die jungen Leute entwickeln Spielregeln, welche die Unterschiede in gemeinsame Vorteile verwandeln.
Sowohl in der Viadrina als auch am Collegium Polonicum bleiben aber weitere Schritte in Richtung Integration zu tun. Es genügt nicht, nebeneinander im Seminar zu sitzen, zusätzliche Aktivitäten müssen die Gemeinsamkeit unterstützen. Dies geschieht schon in den immer zahlreicher werdenden freiwilligen studentischen Initiativen, in hochschulpolitischen und künstlerischen Gruppen. Es ist eine Freude zu sehen, wie sie derzeit aus dem Boden sprießen und eine vorzügliche Gelegenheit dafür bieten, dass die zahlenmäßig beeindruckende Internationalität der Viadrina und des Collegium Polonicum auch wirklich gelebt wird. Aus der Einsicht, dass die jungen Leute so viel wie möglich Anlass und Gelegenheit finden müssen, um sich persönlich kennen zu lernen, fördern wir gegenwärtig finanziell Exkursionen, wofür ein großzügiger privater Sponsor gefunden wurde. Auch werden die Studiengänge am Collegium Polonicum immer mehr miteinander verbunden, sodass z. B. der polnische Lizenziat-Studiengang mit einem deutsch-englischen Master of European Studies fortgesetzt werden kann.
4.500 junge Menschen studieren jetzt in drei Fakultäten an der Viadrina, 1.800 am Collegium Polonicum. Sie prägen die Stadtbilder auf beiden Seiten der Oder. Ein Drittel der Studierenden an der Viadrina kommt aus Polen. Immer mehr junge Bewohner von Frankfurt und Słubice, rund siebzig Prozent, haben Bekannte und Freunde auf der jeweils anderen Seite. Bikulturell, mit dem Lebensschwerpunkt auf beiden Seiten der Oder, lebten vor zehn Jahren ungefähr zwanzig bis dreißig, heute hat sich die Zahl verzehnfacht. Schilder tragen immer häufiger Aufschriften in beiden Sprachen, und es ist zu hoffen, dass gemeinsame Kindergärten und Schulen die gegenseitige Vertrautheit immer mehr stärken werden.
Vom bi- zum trinationalen Dialog
Mit Blick auf die EU-Erweiterung im Jahre 2004 wäre es aus den Gründen, die ich am Anfang dargelegt habe, angesagt, die deutsch-polnische Verständigung an der Viadrina um Frankreich zu erweitern. Pläne in diese Richtung verfolgen wir schon seit anderthalb Jahren. Die bundespolitische Unterstützung wurde uns prinzipiell zugesagt, freilich wird es immer eng, wenn solche Projekte Geld kosten. Dennoch: Eine deutsch-französisch-polnische Universität könnte ein wunderbarer Motor für eine blühende Europäische Union werden. Ich sage, nicht der einzige, und die letzten Monate haben uns noch einmal deutlich gemacht, was wir eigentlich längst wissen: Jede Anmaßung, den Ton anzugeben, alles was nach Machtarroganz schmeckt, müssen wir vermeiden. Sie provoziert sowohl im transatlantischen als auch im innereuropäischen Verhältnis Abwehr und Misstrauen. Aber die Ausweitung bilateraler Kooperation zu tri- oder multinationaler kann auch davor bewahren, sich so auf zweiseitige Fragen zu konzentrieren, dass man ganz andere Gesichtspunkte und Erfahrungen aus dem Blick verliert. In Europa werden wir zunehmend die Fähigkeit brauchen, eine Sache von sehr verschiedenen Gesichtspunkten her zu betrachten. Das könnten junge Menschen exemplarisch an einer trinationalen Universität mit einem ebenfalls trinationalen Lehrkörper gut lernen.
Die Viadrina hat in ihrem ersten Jahrzehnt bereits einen wichtigen Beitrag für die langfristigen deutsch-polnischen Beziehungen geleistet. Je mehr sie ihrem Namen der „Europa-Universität“ gerecht wird, desto erfolgreicher kann sie ihren Auftrag erfüllen.