Zwischen Westen und Osten

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2005  •  von Jacek Kołtan

Jacek Kołtan (Jahrgang 1977) studierte Politikwissenschaften und Philosophie in Posen und Berlin und promoviert zur Zeit im Fach Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Ein Stipendium in Deutschland zu bekommen, schien mir eines der größten Geschenke, die man während des Studiums bekommen kann. Nicht nur deshalb, weil die deutsche Philosophie im Zentrum meines Interesses steht. Ich hatte auch große Lust, ein anderes, reicheres, sorgenfreieres, letztlich „schöneres“ Land kennen zu lernen.

Ich komme aus Polen, einem Land, das bis heute die Defizite einer langjährigen Isolation vom westlichen Teil Europas ausgleicht. Als ich im Jahr 2001 wegging, waren die Menschen auf den Straßen sehr müde von den Veränderungen der letzten elf Jahre. Mit dem Fall des Kommunismus hatte sich ihre Welt vollkommen verändert. Einerseits wuchs die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Menschen waren gezwungen, nun stärker selbst Initiative zu ergreifen. Andererseits stieg der Lebensstandard und bildete sich eine wirtschaftliche Elite heraus.

Das alles machte eine merkwürdige Mischung der alten mit der neuen Ordnung aus. Jeder, der durch Osteuropa gereist ist, hat wahrscheinlich den Abgrund zwischen dem Anblick der Siedlungen, der Monotonie der Betonarchitektur und den schönen restaurierten Teilen der Altstädte oder modernen Einkaufszentren wahrgenommen. Diese äußeren Verwandlungen „zum Besseren“ können aber die Frustration auf den Gesichtern der Menschen, die gezwungen sind, sich tagtäglich die Frage zu stellen „Wovon leben?“, nicht verbergen. Die Möglichkeit des geförderten Aufenthaltes in Deutschland hat für mich ein Loskommen von dieser erdrückenden Ästhetik bedeutet, die in den postkommunistischen Ländern weiter dominiert.

In den Fängen des Sozialismus

Ich war zwölf, als es gelungen ist, in Polen den Kommunismus zu stürzen. Ich bin also ein Kind des politischen Wandels nach 1989. Und ich muss mir heutzutage schon ein bisschen Mühe geben, um mir vorzustellen, wie die paradoxe Welt des Kommunismus überhaupt funktionieren konnte. Auch die Banane, unerreichbare Frucht meiner Kindheit, hat bereits unwiederbringlich ihren Luxusgeschmack verloren. Ich bräuchte sogar ein wenig Bedenkzeit, um die Frage zu beantworten, weshalb ausgerechnet die Banane im Sozialismus eine verbotene Frucht war. Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich mich, wie viele Menschen in meinem Alter, von einer im sozialistischen Polen geprägten Mentalität betroffen fühlte, mit der man nicht richtig wusste, was man anfangen soll. Auf der anderen Seite war ich im Zentrum des sich entwickelnden wilden Kapitalismus, zu dem die Investitionen aus den Ländern Westeuropas beitragen. Ob ich es also wollte oder nicht, wuchs ich in einer Welt auf, die meinen Horizont bestimmte und von der ich mich nicht so leicht distanzieren konnte.

Berlin, das Ziel meiner Reise, schien mir, trotz der komplizierten Geschichte der letzten Jahre, eine Verkörperung der Veränderungen zum Besseren zu sein, eine große Baustelle, wo man die alte Welt repariert und eine neue geschaffen hatte. Hier sollte der reiche Westen Normalität und Demokratisierung gebracht haben. Umso größer war meine Überraschung, als ich mich kurz nach dem Besuch des architektonischen Stolzes des neuen Berlin, des Potsdamer Platzes, in der S-Bahn befand, in der die Straßenmusiker Lieder auf ... russisch zu singen begannen! Und als sich dann noch mein Studentenwohnheim als klassisch-sozialistischer Betonalptraum erwies, fand ich mich endgültig in den Fängen der osteuropäischen Ästhetik wieder.

Es ist schwer, einen zweiten Ort wie Berlin zu finden, an dem die Kontraste zwischen Ost und West ähnlich deutlich hervortreten und an dem man auf Schritt und Tritt die Konsequenzen ihres Aufeinanderprallens erfahren kann. Mir scheint, dass es sogar Warschau, einer Stadt mit besonders starken Großstadtambitionen (es genügt, auf die Glashochhäuer um den berühmten stalinistischen Kulturpalast zu sehen) an dieser inneren Spannung fehlt, welche die Berliner Atmosphäre ausmacht. Denn der Kapitalismus in Polen wurde auf den Ruinen eines ohnehin toten Sozialismus gebaut, während die untergegangene DDR in den Jahren nach dem Mauerfall in vielen Köpfen als Identifikationspunkt und alternatives Gesellschaftsmodell lebendig blieb. Die Vereinigung Deutschlands hat nun geholfen, die aus dieser Differenz folgenden Probleme ans Tageslicht zu bringen.

„Hier spielt man ernst“

„Die Deutschen sind pünktlich und ordentlich“ – auch dieses polnische Deutschland-Klischee begleitete mich auf meiner Reise. Während sich die Pünktlichkeit letztlich als Mythos entpuppte, verhält sich die Sache mit der Ordnung etwas komplexer. Auch wenn viele meiner deutschen Kommilitonen jetzt laut protestieren würden: Die „deutsche Ordnung“ ist alles andere als ein überholtes Klischee. Zumindest scheint mir aus meiner polnischen Perspektive die Frage der Ordnung den größten Unterschied in der Einrichtung und Ausrichtung der beiden Welten Polen und Deutschland auszumachen. Während die natürliche polnische Reaktion auf das Chaos und die Unwägbarkeiten des Alltags in der Improvisation besteht, existiert und funktioniert die deutsche Welt dank geordneter Prinzipien, denen die Menschen vertrauen und die sie mit besonderer Überzeugung anwenden. Da verläuft das Leben nach dem Prinzip der Organisation, und der erste Reflex ist der des Ordnens. Anders begegne ich Polen, für die das Chaos ein natürlicher Weltzustand ist. Die Methode, die in diesem Chaos steckt, funktioniert aber ganz anders als deutsche Ordnung.

Ein Beispiel? Studentische Sitzungen und Besprechungen in Polen sind oft lockere Runden, innerhalb derer sich Entscheidungen gewissermaßen von selbst ergeben. In Deutschland steht am Beginn einer Diskussion die Tagesordnung, die dann den weiteren Verlauf bestimmt. Vor einer Entscheidung muss jede Meinung seriös betrachtet, jede Einzelheit diskutiert und mehrmals abgestimmt werden. Besonders exotisch erschien mir lange Zeit das Hochheben der Hand zur Anmeldung eines Redebeitrags – eine Geste, die deutsche Diskussionsteilnehmer nicht selten geradezu zelebrieren. In mir hingegen hat diese Körperhaltung ein merkwürdiges Gefühl erweckt. Ich sah darin ein rein institutionelles Zeichen, das wenig Raum für Spontaneität lässt. Gleichzeitig schien mir es eine Bestätigung für den Kommentar des polnischen Schriftstellers Witold Gombrowicz, der seine Deutschland-Erfahrung auf die Formel brachte „Hier spielt man ernst“.

Auch in anderen Situationen hatte ich den Eindruck, dass die Menschen an die Dauerhaftigkeit der Realität, die sie gestalten, und an den Wert der getanen Arbeit stark glauben. Gombrowiczs Beschreibung des Aussehens eines deutschen Arbeiters – „das Elektrotechnikergesicht, der die Fahrstuhlleitung repariert, konzentriert, schmerzlich, fast märtyrerhaft“, bei ihrer ganzen Provokation und ironischen Distanzierung – fasst, wie mir scheint, genau diesen Charakter des Verhältnisses zu der Realität in Deutschland, das trotz der kulturellen Änderungen nach der Revolte von 1968 und den wachsenden Problemen nach der Wiedervereinigung immer noch lebendig bleibt. Der Wunsch, durch Organisation und Regeln Ordnung zu schaffen, ist hier ein Grundbedürfnis.

Die unerträgliche Leichtigkeit des polnischen Seins

Was für ein Kontrast ist hier die polnische Realität, in der durch die Dauer des letzten halben Jahrhunderts der totalitären Regime die Menschen gewohnt waren, dass der Staat eine Hauptgefahr ist, mit der man durch eigene Methoden zurechtkommen muss. „Regeln sind dafür da, um sie zu brechen“ – das ist ein Prinzip, dank dessen man in der absurden Welt leben konnte, wo alles von der eigenen Findigkeit abhängig war. Daraus ergibt sich das polnische Gefühl der „Leichtigkeit des Seins”, das sich ständig verändert.

Während der letzten Jahrzehnte haben die Menschen innerhalb eines Systems funktioniert, an das sie selber nicht geglaubt haben. Sie arbeiteten mit dem Gefühl der Vorläufigkeit dessen, was sie tun. Die wilde Spielart des Kapitalismus, die in Polen nach dem Jahr 1989 eingetreten ist, hat das Gefühl der Unsicherheit verstärkt und die Menschen gezwungen, sich den neuen Bedingungen anzupassen. Diese Flexibilität im Handeln ist eine pure Konsequenz der Unberechenbarkeit der Realität geworden, in der man doch einen Platz für sich finden muss. Deshalb gibt es so viele Ausnahmen, wie es Regeln gibt. Und diese Mentalität schlägt sich keineswegs nur in Korruptions- und Schmiergeldaffären nieder. Sie lässt auch und gerade auf der institutionellen Ebene Freiräume für zwischenmenschliche Improvisation, wenn etwa die Strafgebühren für ein überfälliges Buch in der Bibliothek durch eine gut ausgedachte Geschichte für die zuständige Mitarbeiterin umgangen werden können. Solche Situationen verleihen dem sozialen Alltag eine Wärme, die ich in Deutschland manchmal sehr vermisse.

Auf der Grenze zu sein

Ich denke oft daran, wie viel in der Welteinsicht ein mehrjähriger Aufenthalt in einem anderen Land ändert. Sich innerhalb eines anderen Sprach- und Mentalitätsraumes zu bewegen, führt unbemerkt zu einer Distanz zu dem Ort, von dem man stammt, einer Distanz, die bewirkt, dass man anfängt, anders zu denken und anders zu leben. Manchmal kommt ein merkwürdiges Gefühl des Sich auf der Grenze zu befinden hinzu: Noch nicht völlig in dem Land seiend, wo ich lebe, bin ich auch nicht mehr im Land meiner Herkunft so, wie ich da vorher war. Es gibt Momente, wenn diese zwei täglich selten klar erkennbaren und untrennbaren Welten besonders sichtbar sind.

Vor kurzem musste ich erleben, wie sich während einer lebhaften Diskussion mit ausschließlich polnischen Teilnehmern meine Hand von alleine erhob, um mich in Diskussion einzuschalten. Nach vier Jahren war das ein besonders deutliches Zeichen meiner voranschreitenden Germanisierung.

Anders ist es im Winter, kurz vor Weihnachten, wenn auf die Straßen Berlins der erste Schnee fällt. Ich steige in den Bus, der Unter den Linden entlang fährt, und beobachte mit Neugier, wie ein Chaoselement sich unbemerkbar in die etablierte Ordnung einschleicht, die ersten kleinen Autobeulen verursachend. Auf den Gesichtern der Fahrer erscheint plötzlich eine Überraschung, dass hier in der Realität aufhört zu funktionieren, wie es soll. Ich fühle dann in der Luft ein Klima von etwas, was ich doch seit langem gut kenne ...