Die östlichen Kirchen – ein Überblick
Christentum in Indien? Die meisten Menschen würden wohl an Mutter Teresa und ihren Orden denken. Katholische Kirche in China? Die Mission von Matteo Ricci und später der Jesuiten ist der erste Gedanke, der hier vielen kommt. Christentum in Arabien? Ein Phänomen, das von Ausländern dorthin gebracht wurde und das es nur im Verborgenen gibt, so scheint es. Kirche in Alaska? Die ist bestimmt mit der Besiedlung durch weiße Amerikaner entstanden, wird man meinen. Und warum sind Menschen in Äthiopien christlich? Durch europäische Missionare, werden viele glauben. Die Kirche in Finnland ist die lutherische Staatskirche, oder? Und in Italien gehören praktisch alle Gläubigen der römisch-katholischen Kirche an, so wird vermutet.
Und doch stimmt keine dieser Vermutungen so richtig. All den genannten Erscheinungsformen von Christentum in der ganzen Welt liegt östliches Christentum zu Grunde, also kirchliches Leben, das sich von den Ursprüngen des christlichen Glaubens in Jerusalem aus nicht nach Westen, ins Römische Reich, verbreitet hat, sondern das aus griechischen, syrischen oder anderen Traditionen stammt. Es waren vermutlich Judenchristen, die sehr früh, vielleicht schon im 1. Jahrhundert, das Christentum nach Indien brachten. Dort konnte es sich bis in die Gegenwart in seiner östlichen, syrisch geprägten Form halten. Erst im 15. Jahrhundert erreichten westliche, katholische Missionare Indien und spielten der einheimischen Kirche sehr übel mit. Auch nach China war der Glaube an Christus schon lange vor Matteo Ricci gekommen; bereits Marco Polo berichtet im 13. Jahrhundert, dass er auf seiner Reise Kirchen gesehen habe. Das vorislamische Arabien war weitgehend christianisiert, und in vielen Gebieten des Orients ist heute noch kirchliches Leben in arabischer Tradition und Sprache lebendig. Die erste Missionierung Alaskas geschah durch russische Missionare; westliches Christentum gelangte erst viel später dorthin, und bis heute ist die orthodoxe Kirche nach der katholischen und den Baptisten die drittgrößte Konfession in diesem amerikanischen Bundesstaat. In Äthiopien schließlich existiert seit sehr früher Zeit eine Form von christlicher Kirche, die viele alte und eigentümliche Eigenarten bewahrt hat. Finnland hat zwei Staatskirchen; neben der lutherischen ist es die orthodoxe Kirche von Finnland, die dieses Privileg genießt. Und in Italien gibt es seit langem zwei Bistümer im Süden des Landes sowie eine bedeutende Abtei in der Nähe von Rom, die katholisch sind, aber das Christentum in seiner östlichen Form bekennen und leben.
Das östliche Christentum hatte in der Geschichte also eine weit größere Verbreitung, als es heute der Fall ist. In dieser Darstellung soll gezeigt werden, wie diese Ausbreitung geschah, wie weit sie sich erstreckte und warum die östlichen Kirchen in vielen Gebieten der Erde heute kaum mehr eine Rolle spielen. Auch die Trennungen zwischen den verschiedenen östlichen Traditionen sollen behandelt werden. Das vorliegende Heft ist den Kirchen in Ost- und Mitteleuropa gewidmet, doch soll dieser einleitende Beitrag die gesamte Breite der Ostkirchen im Blick haben.
Die Ausbreitung des östlichen Christentums
Das Christentum war nach seiner Gründung zunächst keine missionarische Religion im heutigen Sinne. Die alte Kirche kannte keine systematische Mission, es gab nicht einmal ein Wort dafür. Für sie war es wichtig, dass die Botschaft Jesu überall verkündet würde; das sah man aber als bereits gegeben an.
Die christliche Religion hat sich, aus dem Judentum kommend, in der antiken Welt und im antiken Denken entwickelt. Das Griechische war die Sprache der antiken Welt (das Lateinische diente vor allem in der Verwaltung und im Militär der Verständigung), und es war die Sprache des frühen Christentums, in der auch das Neue Testament verfasst ist. Die Sprache Jesu und der Apostel war das Aramäische, ein semitisches, dem Syrischen verwandtes Idiom. Früh schon gab es Christentum auch in weiteren Sprachen.
Von Palästina aus entstanden rasch Gemeinden im Mittelmeerraum; wir wissen von den im Neuen Testament erwähnten Gemeinden in Rom, Korinth, Galatien, Ephesos, Philippi und Thessaloniki. Darüber hinaus wurde die Botschaft Jesu weiter verbreitet, vor allem durch einfache Leute, reisende Händler, Handwerker und auch so genannte Wanderapostel. So gelangte es in viele Gebiete, auch in solche außerhalb des Römischen Reiches. Die wichtigsten Richtungen der Ausbreitung waren (abgesehen von der westlichen, lateinischen Welt) die folgenden:
Das koptische Christentum
Von Alexandrien (Alexandria) in Ägypten, einer der größten und wichtigsten Städte der antiken Welt, gelangte die christliche Lehre am Nil entlang nach Süden, über das heutige Äthiopien bis in den Sudan. Zusätzlich zur Verbreitung aus dem Norden gab es in Äthiopien auch Kontakte über die Küste; Händler und Seeleute brachten den Glauben über die Arabische See nach Äthiopien.
In Ägypten selbst entstand eine besondere Prägung der Kirche, die sich hier mit dem Selbstverständnis der Einwohner (der „Kopten“, abgeleitet vom griechischen Wort für Ägypter) verband. Die Kopten leiteten ihren Glauben vom Aufenthalt Jesu und seiner Eltern nach der Flucht nach Ägypten sowie von der Verkündigung durch den Evangelisten Markus ab. Sie verstanden sich explizit nicht als Römer oder Griechen, auch wenn ihr Land Teil des Römischen Reichs war. In Alexandrien waren viele bedeutende Theologen zu Hause, die alexandrinische Schule war berühmt und spielte in den theologischen Auseinandersetzungen der Antike eine zentrale Rolle. Sie besaßen eine eigene koptische Liturgie, die sich von der Liturgie in den anderen christlichen Kirchen unterschied. Die Äthiopier entwickelten die Liturgie noch weiter und nahmen zahlreiche Elemente in ihren Gottesdienst auf, die sich in anderen Gebieten nicht finden lassen.
Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass auch die gesamte nordafrikanische Küste, von Ägypten bis zum heutigen Marokko, über viele Jahrhunderte christliches Gebiet war. Allerdings gehörten diese Regionen zur westlichen Kirche, hier pflegte man das lateinische Christentum.
Das syrische Christentum
Der große Gegenpol im Osten des Römischen Reichs zu Alexandrien war die Stadt Antiochien (Antiochia) am Orontes, heute ein wenig bedeutender Ort im Süden der Türkei. Hier wurden nach dem Ausweis der Bibel die Anhänger Jesu erstmals „Christen“ genannt (Apg 11,26). Antiochien war eine Handelsstadt und Ausgangspunkt des syrisch geprägten Christentums. Wie in allen großen Städten der Antike, so wurde zwar auch hier vorwiegend griechisch gesprochen, doch waren schon die Gemeinden im benachbarten Hinterland syrischsprachig. In Antiochien entwickelte sich ebenfalls eine wichtige Theologenschule, die in ständigem Gegensatz zu der von Alexandrien stand.
Im Gebiet östlich von Antiochien hat sich ebenfalls der christliche Glaube sehr früh verbreitet. Die dort gesprochene syrische Sprache war dem Aramäischen der Urgemeinde ähnlich, und vor allem über jüdische Gemeinden breitete sich das Christentum aus. Das Zweistromland und die arabische Halbinsel standen unter der kirchlichen Aufsicht von Antiochien, auch wenn diese Gebiete nicht mehr zum Römerreich gehörten. Als es aus politischen Gründen opportun erschien, keine allzu engen Verbindungen zu Institutionen im Römischen Reich zu unterhalten, erklärte sich die ostsyrische Kirche im frühen 5. Jahrhundert für selbstständig. Diese Kirche entwickelte eine enorme Missionstätigkeit. Syrisches Christentum finden wir in den folgenden Jahrhunderten fast überall in Asien, entlang der Handelswege (von denen die Seidenstraße wohl der berühmteste ist) bis hin nach China. Die ostsyrische (auch: assyrische) Kirche genoss hohes Ansehen beim chinesischen Kaiserhof und verfügte zeitweise über Hunderte von Bistümern. Ihre Ausbreitung gelang ohne Anwendung von Gewalt; das ostsyrische Christentum ist nicht im Gefolge von Eroberern gekommen, sondern hatte sich durch das Zeugnis von Händlern und sie begleitenden Mönchen verbreitet. Karitative Tätigkeiten, die Gründung von Schulen und die Sorge um die Armen scheint hierbei eine besondere Rolle gespielt zu haben. In der Zeit vor der Entdeckung Amerikas war die assyrische Kirche des Ostens die christliche Kirche mit der größten räumlichen Ausdehnung.
Auf diese Weise hat auch das Christentum in Indien seine Prägung erlangt. Zwar kann die These vom apostolischen Ursprung der Kirche in Indien historisch nicht gehalten werden, doch ist an der Südwestküste (im Bundesstaat Kerala) sehr früh christliches Leben nachweisbar, und bis heute ist es dort am stärksten. Wegen ihrer legendarischen Gründung durch den Apostel Thomas nennen sich diese Christen „Thomaschristen“. Diese autochthone indische Kirche war und ist syrischer Prägung, erst sehr viel später ist die lateinische Kirche dort aktiv geworden.
Auch im syrischen Christentum gab und gibt es eine eigene Liturgie, die sich in vieler Hinsicht von der griechischen und römischen unterscheidet. Das Stundengebet war weithin Gemeindegottesdienst und wurde nicht nur in Klöstern und von Klerikern verrichtet. Die eucharistischen Gottesdienste enthalten bis heute Spuren der ältesten christlichen Überlieferungen.
Eine Sonderrolle spielte das Christentum in Armenien. Es war schon sehr früh dort hin gelangt, und durch die frühe Inkulturation erlangte es eine feste Verwurzelung bei den Armeniern. In der Geschichte war Armenien häufig Spielball zwischen den verschiedenen benachbarten Mächten; dennoch hielt sich die armenische Form des Christentums bis in die Gegenwart. Wegen der engen Verbindung zur armenischen Sprache und Kultur wurde diese Form des Christentums nicht von anderen Völkern übernommen. Die Armenier haben jedoch eine Diaspora, die sich weit über den Nahen Osten hinaus erstreckt. Somit ist armenisches Kirchentum heute auch in Mitteleuropa, in den USA und in vielen anderen Gebieten präsent.
Die Kirchen griechischer (byzantinischer) Tradition
Das Christentum griechischer Prägung hat sich vor allem auf die Reichshauptstadt Konstantinopel und östlich anschließende Gebiete in Anatolien konzentriert. Hinzu kommt, dass es überall im Reich griechische Gemeinden gegeben hat; spätere Trennungen zwischen den Kirchen haben dazu geführt, dass sich diese Gemeinden nicht mehr in Gemeinschaft mit den Kirchen befanden, die in dem betreffenden Territorium die Mehrheit bildeten (also jenen koptischer oder syrischer Prägung).
Die griechische oder byzantinische Kirche hat ebenfalls eine weite Ausbreitung erfahren. Durch das Prinzip, nicht nur die wichtigen Bücher und Texte in die Sprachen der jeweils neu zum Christentum geführten Gruppen zu übersetzen, sondern auch den Gottesdienst in der üblichen Sprache zu feiern, entstanden viele östliche Kirchen, die sich nicht mehr als „griechisch“ verstanden, obgleich sie aus der Tradition der Kirche von Konstantinopel kommen. Dazu gehören vor allem die orthodoxen Kirchen auf dem Balkan, in Russland und in vielen anderen Teilen Osteuropas.
Seit dem 9. Jahrhundert gehörten die Gebiete des Balkans zum Patriarchat von Konstantinopel. Hier entwickelten sich in der Zeit vor der Osmanenherrschaft zum Teil selbstständige Kirchenstrukturen, von denen das Erzbistum Ohrid (in der heutigen Republik Makedonien) wohl die bekannteste war. In dieser Zeit war die Aufteilung des Balkans in eine westliche und eine östliche Hälfte noch bei weitem nicht so eindeutig, wie sie heute zu sein scheint. Historische Erkenntnisse und Ereignisse zeugen von zahlreichen wechselseitigen Beeinflussungen. Erst später konsolidierten sich die kirchlichen Zugehörigkeiten, wobei es bis heute zahlreiche Gebiete gibt, in denen Katholiken und Orthodoxe neben- und miteinander leben.
Die gewaltigste Ausdehnung erlangte die Kirche von Konstantinopel jedoch dadurch, dass das „Rus’“ genannte Gebiet nördlich des Schwarzen Meeres das Christentum aus Konstantinopel annahm. Der Großfürst ließ sich wohl im Jahr 988 taufen, und er befahl die Annahme des neuen Glaubens durch seine Untertanen. Das geschah in Kiew und betraf den Verband von Fürstentümern, als den wir uns dieses Staatengebilde vorstellen müssen. Im Laufe der Zeit und unter dem Einfluss der mongolischen Angriffe verschob sich der Schwerpunkt der Rus’ immer weiter nach Norden, bis Moskau zum Großfürstentum wurde. Kiew wurde 1240 von den Mongolen erobert und verlor zunächst an Bedeutung; später gelangte es an Polen-Litauen, und es entwickelte sich eine neue ostkirchliche Struktur, die kirchlich dem Patriarchat von Konstantinopel unterstand.
Auch die Kirche im Russischen Reich unterstand bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts dem Ökumenischen Patriarchat; der letzte von Konstantinopel ernannte Metropolit war noch ein ethnischer Grieche namens Isidoros. Als er einer Union mit der katholischen Kirche zustimmte, setzte ihn die Moskauer Kirche ab, erklärte sich als unabhängig und wurde etwa 150 Jahre später als neues Patriarchat anerkannt. Damit gehörte das immer größer werdende Russische Reich zwar nicht mehr zur direkten Jurisdiktion von Konstantinopel, blieb aber nach wie vor in kirchlicher Gemeinschaft.
Eine umfangreiche Missionstätigkeit entfaltete die orthodoxe Kirche in Russland. Als sich der russische Staat nach und nach die weiten Gebiete Sibiriens unterordnete, begleiteten orthodoxe Priester die Soldaten und Händler und verbreiteten die Orthodoxie auch unter den dort lebenden Völkerschaften. In vielen Fällen wurden die lokalen Sprachen erstmals kodifiziert, damit die Bibel und die liturgischen Bücher übersetzt werden konnten. Die russische Kirche verbreitete ihre Lehre auch über die Grenzen Russlands hinaus, nach China, Korea und Japan. Dort entstand eine Japanische Orthodoxe Kirche, die es bis heute gibt. Die russische Orthodoxie missionierte auch das bis 1867 zu Russland gehörende Alaska, und orthodoxe Missionare gelangten an der Pazifikküste bis in das Gebiet von San Francisco. Erst mit der verstärkten Einwanderung über den Atlantik kam die Orthodoxie auch über New York in den Osten der Vereinigten Staaten; im Westen war sie schon viel früher.
Neben Russland gab es in Ostmitteleuropa immer wieder andere Staaten mit orthodoxer Bevölkerung. Das über lange Zeit bedeutende polnisch-litauische Reich war zunächst die Erbin der Kiewer Rus’. Von den häufigen Grenzverschiebungen und den damit oft verbundenen Vertreibungen oder Zwangskonversionen waren die Angehörigen der östlichen Kirchen in der Region häufig betroffen. Daher bilden heute in der Ukraine und Weißrussland ostkirchliche Christen die Mehrheit der Bevölkerung; in Polen, Lettland, Estland und Finnland gibt es zum Teil bedeutende Minderheiten, die östlichen Kirchen angehören.
Anders war der geschichtliche Verlauf auf dem Balkan, dessen Geschichte durch die jahrhundertelange Vorherrschaft der Osmanen geprägt war. Sie herrschten nach der Eroberung Konstantinopels 1453 über alle orthodoxen Christen Südosteuropas. Diese waren im Osmanischen Reich in einem „Millet“ organisiert, einem relativ autonomen Personenverband; zu einem Millet gehörten alle Angehörigen eines Glaubens (unabhängig von sprachlichen oder nationalen Besonderheiten). Oberhaupt war der Patriarch von Konstantinopel, der auch für die inneren Belange der Orthodoxen wie das Familienrecht zuständig war. Den Herrschern gegenüber war er für die Zahlung der Kopfsteuer zuständig, die er von seinen Gläubigen einzutreiben hatte. Erst nach dem Ende der osmanischen Herrschaft entstanden orthodoxe Kirchen, die nach den neu entstandenen Staaten bzw. deren Titularnationen organisiert waren: die Kirche von Hellas, die von Serbien, Rumänien, Bulgarien und andere. Die Entstehung dieser Kirchen war oft von langwierigen Auseinandersetzungen begleitet, da das Patriarchat von Konstantinopel durch jede Neugründung ja eigenes Gebiet verlor, sodass sich seine Jurisdiktion heute auf die wenigen orthodoxen Christen in der Türkei und in einigen Gebieten Griechenlands beschränkt; dazu kommt der Anspruch, die Orthodoxie in der Diaspora zu vertreten.
In der Moderne haben sich massive Veränderungen der Bevölkerungsstruktur vollzogen, die sich vor allem auf die ostkirchlichen Gebiete bezogen. Nach der russischen Revolution von 1917 sind viele orthodoxe Christen in den Westen, vor allem nach Europa und Nordamerika, emigriert. Der Zweite Weltkrieg hat vielfache Flucht und Vertreibung mit sich gebracht, und ebenso haben die ökonomischen Migrationen der letzten Jahrzehnte ostkirchliche Christen in Gebiete gebracht, wo es sie vorher nicht gegeben hat. Deswegen ist „östlich“ heute kein geografischer Begriff mehr, sondern bezeichnet eine Reihe von Traditionen des Christentums, die sehr alt sind und sich heute überall auf der Welt finden lassen.
Die Verminderung der östlichen Kirchen
Die Darstellung der Ausbreitung des östlichen Christentums ist beeindruckend, sie reicht praktisch über die ganze Welt, auch wenn Südamerika und Australien erst als Folge moderner Auswanderungen mit östlichem Christentum in Verbindung gekommen sind. Doch gibt es heute bei weitem nicht mehr in allen dargestellten Regionen östliche Kirchen, oder sie sind eine winzige Minderheit, wo sie einst dominierend waren.
Es gibt eine Reihe von Gründen, die für diese Verminderung ostkirchlichen Christentums geführt haben. Im Gebiet des Mittleren und Nahen Ostens war es vor allem das Aufkommen und die Verbreitung des Islam, die dem östlichen Christentum geschadet haben. Die verschiedenen vom Islam geprägten Staaten, die es in der Geschichte gab und gibt, haben dem Christentum gegenüber ganz unterschiedliche Haltungen an den Tag gelegt, von relativ großer Toleranz (wie im Osmanischen Reich oder im heutigen Syrien) bis zu einer absoluten Intoleranz (im heutigen Saudi-Arabien). Daher gibt es auch nicht die Geschichte des östlichen Christentums unter dem Islam, sondern viele unterschiedliche Antworten auf diese Frage.
Tatsache ist, dass sich das Christentum in seinen nahöstlichen Ursprungsgebieten unter dem Islam mit Ausnahme der südlichen arabischen Halbinsel bis heute überall gehalten hat, allerdings nur im Libanon in größerem Prozentsatz. Zahlenangaben sind ohnehin umstritten; doch lässt sich sagen, dass es im Libanon, in Syrien und in Ägypten noch größere Zahlen von Ostchristen gibt, während der Prozentsatz in der Türkei sehr gering ist. Im Irak sind wir gerade Zeugen eines Exodus der Ostchristen; hier lassen sich überhaupt keine zuverlässigen Schätzungen angeben. In den islamischen Gebieten ist das Ostchristentum also vertreten, aber in erheblich verminderter Zahl.
Anders verhält es sich in den meisten Regionen Asiens. Die kleine orthodoxe Kirche Japans wurde schon erwähnt, und in Indien sind die Thomaschristen im Bundesstaat Kerala nach wie vor sehr bedeutend. Doch in Zentralasien und in China gibt es keine Überreste der ostsyrischen Kirche mehr, die im ersten Jahrtausend so groß war. Es war vor allem der Mongolensturm des 14. Jahrhunderts, der diese Kirche fast völlig vernichtete. Die Mongolenherrschaft in China ab 1279 hatte der Kirche einen Aufschwung gebracht, doch die Eroberungszüge von Timur Lenk (Tamerlan) vernichteten sie fast völlig: Zum Ende des 14. Jahrhunderts gibt es kaum noch kirchliches Leben in diesen Gebieten. Massive Verfolgungen im Osmanischen Reich haben im 19. und 20. Jahrhundert dazu geführt, dass es heute ostsyrisches Christentum noch in kleinen Gruppen im Irak und im Iran gibt; seit mehreren Jahrzehnten haben sich auch in der Diaspora, vor allem in den USA, Kirchen organisiert.
Der dritte Faktor, der ostkirchliches Leben für lange Zeit erheblich beeinträchtigt hat, waren die kommunistischen Regimes in Mittel- und Osteuropa. In den einzelnen Ländern war die Härte der Verfolgungen ganz unterschiedlich, und in einer Reihe von Ländern ist das kirchliche Leben nach den politischen Veränderungen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre neu erwacht. Dennoch hat es Verluste gegeben, die auch durch das neu erwachte kirchliche Leben nicht wettgemacht werden konnten. In Albanien war die Verfolgung am härtesten, hier musste nach dem Ende des Kommunismus völlig neu angefangen werden, was nur mit Hilfe aus dem Ausland (vor allem seitens der griechischen Orthodoxie) möglich war. Die mit Rom unierten Kirchen wurden fast überall verboten und verfolgt; sie mussten im Untergrund existieren und hatten nach der Wende ihr kirchliches Leben unter manchen Schwierigkeiten wieder aufzubauen. In Russland haben Zehntausende von Gläubigen das Martyrium erlitten; fast alle Kirchen wurden geschlossen. Noch heute fallen in den russischen Städten Gebäude auf, die als Archive, Lager oder Fabriken verwendet werden, deren Architektur aber eindeutig darauf hinweist, dass es einst Kirchen gewesen sind. In der Folge des Kommunismus sind die betroffenen ostkirchlich geprägten Länder in hohem Maße säkular geworden; nach der Wende gab es zwar eine Wiederhinwendung zur ursprünglichen Kirche, doch ist – auch unter den neuen gesellschaftlichen und globalen Bedingungen – der Zustand der früheren Zeit nirgends wieder erreicht worden.
Somit zeigt sich, dass verschiedene Faktoren dazu beigetragen haben, das einst blühende Leben östlichen Christentums in seiner Größe, seiner Verbreitung und seiner Stärke erheblich zu vermindern. Umso bewundernswerter ist es, wie die östlichen Kirchen heute, oft unter widrigen Umständen, ihren Glauben und ihr kirchliches Leben aufrecht zu erhalten suchen.
Trennungen
Nicht nur die Verfolgungen von außen, sondern auch zahlreiche Trennungen im Inneren haben die östlichen Kirchen geschwächt und dafür gesorgt, dass uns das östliche Christentum nicht in einer einheitlichen Form entgegentritt, sondern in zahlreiche verschiedene Kirchen untergliedert ist, die zum Teil in Kommuniongemeinschaft miteinander stehen, zum Teil aber auch einander unversöhnt gegenüber stehen und sich nicht anerkennen.
Ein grundsätzlicher Unterschied ist der nach der Haltung gegenüber dem Römischen Stuhl. Im Laufe der Zeit ist es unter verschiedenen historischen Umständen und durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst zu einem Verlust der Kircheneinheit zwischen allen östlichen Kirchen und der römischen Kirche gekommen; die Kirche des Westens stand in der ersten Hälfte des zweiten Jahrtausends mit keiner östlichen Kirche in Gemeinschaft. Einzelne kleinere Ausnahmen und Sondersituationen hat es gegeben, sie haben aber keine tiefere Bedeutung gehabt und können hier vernachlässigt werden.
Es hat verschiedene Versuche gegeben, die Einheit wiederherzustellen. Hierunter fallen die so genannten „Unionen“. Sie bezeichnen den Versuch von Bischöfen östlicher Kirchen, eine Einigung mit Rom abzuschließen: Gegen Anerkennung der päpstlichen Oberhoheit wurde ihnen das Privileg gewährt, ihre eigenen Traditionen (vor allem in der Liturgie) beizubehalten. Zuweilen kamen die Unionsbestrebungen auch nicht aus den Kirchen selber, sondern wurden von außen induziert. Diese Unionen haben fast immer zu Kirchenspaltungen geführt: Ein Teil der östlichen Kirche, meistens der kleinere, vollzog die Union, der größere aber lehnte sie ab und betrachtete die „Unierten“ als Verräter am Glauben. Fast jede östliche Kirche hat daher heute einen unierten, katholischen Zweig und einen orthodoxen, der nicht in Gemeinschaft mit der katholischen Kirche steht. Häufig stehen diese Kirchen in schlechten Beziehungen zueinander, trotz ihrer liturgischen und kulturellen Nähe und der gemeinsamen Geschichte, die immer länger ist als die der Trennung.
Die kirchliche Einheit ist das erste Mal zerfallen, als die ostsyrische Kirche eine Entscheidung nicht mitvollzog, die im 5. Jahrhundert auf dem Konzil von Ephesus (431) gelöst wurde. Der römische Kaiser konnte diese Entscheidung innerhalb des Römischen Reiches durchsetzen, doch seine Macht langte nicht bis in die Gebiete, die unter persischer oder anderer Herrschaft standen und in denen die ostsyrische Kirche weit verbreitet war. Diese hatte schon vor dem genannten Konzil ihre Unabhängigkeit von der Kirche von Antiochien erklärt, was dazu beitrug, dass sie von den persischen Herrschern als loyal angesehen wurde und ihre Position stabilisieren konnte. In späteren Jahren bestätigte sie die theologische Linie, die in Ephesus verurteilt worden war, und entwickelte sich forthin als eigene Kirche. Zwar wurde 1994 Glaubenseinheit mit der römischen Kirche festgestellt; beide Kirchen verharren aber weiterhin in Trennung.
Doch auch innerhalb der Reichskirche kam es zu weiteren Trennungen. Nach dem Konzil von Chalkedon 451 setzte sich eine theologische Linie durch, die in Ägypten und Syrien nicht akzeptiert wurde. Den Kaisern gelang es nicht, einen einheitlichen Glauben im Reich durchzusetzen. Als die Gebiete des südöstlichen Mittelmeerraumes unter den Islam gerieten, konnten sich die Kirchen verselbstständigen und verstetigen. So gibt es heute einige Kirchen, die miteinander in Gemeinschaft stehen, aber weder mit der Assyrischen Kirche noch mit den byzantinischen orthodoxen Kirchen noch mit der katholischen Kirche in Gemeinschaft stehen: Das sind vor allem die Koptische Kirche in Ägypten, die der koptischen Tradition entstammenden Kirchen in Äthiopien und Eritrea, die Syrische Orthodoxe Kirche, die armenische Kirche sowie Kirchen der syrischen Tradition in Indien.
Diese Entwicklung führte dazu, dass sich innerhalb des Reiches zwei Pole bildeten, der griechische und der lateinische, mit den Zentren in Konstantinopel und Rom. Doch auch innerhalb dieser verbliebenen Kirche kam es zu Spannungen und Trennungen. Eine aus eigentlich banalem Anlass und unter umstrittenen Umständen ausgesprochene gegenseitige Exkommunikation 1054 führte trotz mancher Kontakte in der Folgezeit dazu, dass beide Kirchen sich als nicht mehr in Kommuniongemeinschaft stehend betrachteten. Dieser Zustand hält bis heute an, auch wenn die Exkommunikationen 1965 aufgehoben wurden. Zu diesen Kirchen, die wir gemeinhin „orthodox“ nennen, gehören neben dem Patriarchat von Konstantinopel und den anderen Patriarchaten im Orient (Alexandrien, Antiochien und Jerusalem) vor allem die orthodoxe Kirche in Russland und in den Balkanstaaten Serbien, Rumänien und Bulgarien. Sie stehen untereinander in Gemeinschaft, auch wenn jede von ihnen völlig unabhängig ist.
Die Geschichte zeigt, dass sich die östlichen Kirchen trotz aller Trennungen und aller Verfolgungen als lebendig und aktiv erwiesen haben. Sie verkörpern zum Teil älteste liturgische und disziplinarische Traditionen des Christentums. Die lateinische Kirche hat, das muss man ehrlicherweise sagen, den östlichen Kirchen das Leben oft schwer gemacht. Um so wichtiger ist es, dass sich heute ökumenische Beziehungen zwischen den Kirchen anbahnen, die – trotz mancher Schwierigkeiten – zu einem verbesserten Kontakt zwischen ihnen führen mit dem Ziel, eine solche Kirchengemeinschaft herzustellen, wie sie in den Anfängen der Kirche existierte: Als Gemeinschaft in Verschiedenheit.