Das Bild der Eisenbahn in der russischen Literatur

aus OWEP 3/2006  •  von Georg Schomacher

Dr. Georg Schomacher ist Slawist und Osteuropahistoriker.

Russlands erste Eisenbahnlinie entstand zu Testzwecken Mitte der 1830er Jahre – zu einer Zeit, als in Westeuropa schon Schienenwege von mehreren hundert Kilometern Länge bestanden. Die Bahn verband St. Petersburg mit der Zarenresidenz Zarskoje Selo und wurde am 30. Oktober 1837 eröffnet. Ein Jahr später wurde die Linie bis nach Pawlowsk ausgebaut. Der Zweck der zweiten Eisenbahnlinie, die von Warschau zur österreich-ungarischen Grenze gebaut und im Jahre 1848 eröffnet wurde, bestand bereits in der Beförderung russischer Truppen zur Niederschlagung des ungarischen Aufstandes im selben Jahr. Die erste bedeutende Fernverbindung innerhalb Russlands war jedoch die Strecke St. Petersburg - Moskau (erbaut 1842-1851). Der Krimkrieg (1853-1856) führte die Unabdingbarkeit funktionierender Schnellverkehrs-Verbindungen allzu deutlich vor Augen, weshalb in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts erneut vermehrte Anstrengungen zum Aufbau eines Eisenbahnnetzes unternommen wurden. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts wurden dann mehr als 48.000 Kilometer Gleise verlegt. Der größte Teil der Strecken diente nicht mehr vordringlich strategischen, sondern wirtschaftlichen Zielen, so etwa die Transsibirische Eisenbahn.

Russlands geographische Größe ist durch seine gesamte Geschichte als sein Hauptmerkmal dargestellt und wahrgenommen worden und macht auch in der Gegenwart einen integralen Bestandteil des Selbstverständnisses der Russischen Föderation aus. Zugleich erwuchs jedoch aus der geographischen Weitläufigkeit vor der Verbreitung moderner Verkehrsmittel eine Vielzahl von Problemen: Die für den Warentransport so wichtigen Flüsse und Ströme waren in den langen Wintern für Schiffe unpassierbar; in der wärmeren Jahreszeit wiederum konnten viele Verkehrswege zu Lande, ohnedies oft kaum mehr als eine einzelne Wagenspur, zeitweise nicht benutzt werden, wenn sie – z. B. infolge längerer Regenperioden – verschlammt waren und den Rädern der Fuhrwerke keinen Halt mehr boten. Diese Rahmenbedingungen waren die Ursache dafür, dass in Russland die Überwindung größerer Entfernungen als langwieriger, mühevoller und gefährlicher Prozess angesehen wurde – eine Perspektive, die auch in der literarischen Darstellung ihren Niederschlag fand. Die Assoziation mit der Pilgerfahrt lag nahe und spielte, wie sich noch zeigen wird, eine wichtige Rolle in der Geschichte der russischen Literatur.

Seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts fand in Russland der Reisebericht als literarische Gattung in Form von Übersetzungen westeuropäischer Vorbilder Fuß. Für die zeitgenössischen Literaten war das neue Genre deshalb attraktiv, weil es die Möglichkeit bot, Gattungs- und Stilgrenzen zu überschreiten und, anders als bisher, die Intention des Autors ins Werk einfließen zu lassen. Das herausragendste Beispiel dafür ist Alexander N. Radischtschews Puteschestwije iz Peterburga w Moskwu (Reise von Petersburg nach Moskau,1790), in der der Autor ein „vernichtendes Urteil über die soziale und politische Wirklichkeit Russlands“ fällte und damit weite Gesellschaftskreise erreichte. Doch erst Nikolai M. Karamzins Pisma russkogo puteschestwennika (Briefe eines russischen Reisenden, 1791-1795) legten die Grundlage für die weitere Ausgestaltung des Reisebericht-Genres in Russland. Karamzins Werk und alle in der Folgezeit veröffentlichten Reiseberichte lassen sich auf Laurence Sternes A sentimental journey through France and Italy by Mr. Yorick (1767) und auf Xavier de Maistres Voyage autour de ma chambre (Reise durch mein Zimmer, 1795) zurückführen. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die russische Reiseliteratur differenziert weiter, u. a. in Richtung der parodistischen Reisebeschreibung.

Als in Russland die ersten Eisenbahnverbindungen entstanden, bestand also auch hier bereits eine relativ differenzierte literarische Tradition der Reiseerzählung. Folgerichtig fand das Motiv der Eisenbahn bzw. der Eisenbahnreise ebenfalls Eingang in die literarische Darstellung. So beschreibt Fjodor M. Dostojewski in seinem Roman Der Idiot (1868/1869) die Festtagsstimmung, die am Endpunkt der Zarskoje-Selo-Bahn herrschte: „Das Orchester, das vielleicht tatsächlich zu den besten gehört, die man in Sommerfrischen hat, spielt neue Sachen. Es geht sehr steif und wohlerzogen zu, obwohl alles gewissermaßen einen familiären und fast intimen Charakter trägt. Alle bekannten Sommerfrischler treffen sich, um sich gegenseitig zu kritisieren. Viele tun das mit wahrhaftem Vergnügen und kommen nur deswegen her, manche kommen aber auch der Musik wegen.“

Die Eisenbahn als Beförderungsmittel und Ausflugsziel zugleich, als Bühne der höheren Gesellschaftsschichten – dies blieb jedoch Episode, denn der Neu- und Ausbau von Eisenbahnlinien machte die Zugreise bald auch für breitere Gesellschaftskreise attraktiv. Für Nikolaj A. Nekrasow (1821-1878), den berühmten Epigonen der Natürlichen Schule, ist gerade die Eisenbahn ein Symbol der krassen sozialen Unterschiede im Russland des 19. Jahrhunderts. In seinem Gedicht Schelesnaja Doroga (Eisenbahn, 1864) lässt der Sprecher als Passagier im nächtlichen Personenzug die unberührte Natur an sich vorüberziehen. Der mühelose „Flug“ über die eisernen Schienen weckt in ihm jedoch bald Gedanken über die massenhafte Zahl der Menschenleben, die dem Eisenbahnbau geopfert wurden. „Das Weglein ist gerade: Die Trassen sind schmal, / Kleine Masten, Geleise, Brücken. / Doch an den Seiten sind doch überall russische Knöchelchen ... / Wie viele es sind!“ In der Imagination des Sprechers erscheinen vor dem Abteilfenster die toten Eisenbahnarbeiter und klagen zähnekirschnend und mit drohender Stimme von ihren während des Streckenbaus durchlittenen Entbehrungen und Krankheiten.

In Leo N. Tolstojs (1828-1910) Roman Anna Karenina (1875/1877) spielen kritische Überlegungen über den Nutzen des neuen Transportmittels ebenfalls eine Rolle. Vor allem von Lewin, der Hauptfigur des zweiten Handlungsstrangs des Romans, wird dieser Nutzen in Frage gestellt. Lewin sieht in der Eisenbahn ein Element, das Unruhe in die ländliche Ordnung bringt und die Ungleichheit zwischen Land und Stadt, zwischen Hauptstadt und Provinz verstärkt. In erster Linie spielt die Eisenbahn in Anna Karenina hingegen die Rolle einer übergeordneten Schicksalsinstanz. Auf ihrer Reise von St. Petersburg nach Moskau begegnet Anna der Mutter ihres späteren Geliebten Wronski. Nach der Ankunft in Moskau erfährt Anna, dass sich kurz zuvor ein Mann auf die Schienen gestürzt hat und dabei zu Tode gekommen ist, und fasst diesen Zwischenfall als schlechtes Vorzeichen auf (und tatsächlich wird sie später ihr eigenes Leben unter den Rädern eines Eisenbahnwaggons beenden). Auch ihre folgenreiche Bekanntschaft mit Wronski findet in der Eisenbahn statt. Ihr Zusammentreffen wird von schlechten Vorzeichen begleitet: Während der Reise herrscht ein „schrecklicher Schneesturm“, der so dicht ist, dass ringsum nichts mehr erkennbar ist. Annas Selbstmord schließlich erhebt den einmal in Bewegung gesetzten Eisenbahnzug in die Rolle einer die Bestimmung des Schicksals unaufhaltsam ausführenden moralischen Instanz.

Auch Anton P. Tschechow (1860-1904) markiert die zwischenmenschliche Kommunikation als Hauptmerkmal der Eisenbahnreise, so in seine kurzen Erzählung W wagone (Im Waggon, 1881).Die hinreißend komische Skizze Im Waggon beginnt mit dem Satz: „Der Postzug Nummer soundso fliegt mit Volldampf von der Station ‚Fröhliches Trach-Tarach‘ zur Station ‚Rette sich, wer kann!‘“ Im Zug ist ein Panoptikum höchst individueller Reisender versammelt; Volkssprache, Dialekt und Jargon werden meisterhaft wiedergegeben und machen einen Großteil der Komik aus. Die Kondukteure, mit den Passagieren im Bunde, geben bereitwillig Auskunft über die ungefähre Anzahl der Schwarzfahrer („Vierzig Leute sollen‘s wohl sein“), woraus diese wiederum ihre Chancen abschätzen, selbst nicht erwischt zu werden. Bei einem Zwischenhalt steigen „zwei runzlige alte Weiblein“ zu, von denen das eine sogleich wieder aussteigt, um einem dritten Reisegenossen beim Billet-Kauf behilflich zu sein – doch sie kehrt bis zur Abfahrt des Zuges nicht zurück, und ihre Gefährtin entscheidet nach schwerer Gewissensnot im selben Moment: „Dann mag sie mit ihren Sachen zusammen dableiben!“ und wirft das Gepäck zum Fenster hinaus. Mit fataler Folgerichtigkeit findet sich kurz darauf die Vermisste wieder ein, die lediglich in den falschen Waggon eingestiegen war. Auch der Erzähler selbst bleibt nicht verschont: „Ich steige in den Waggon ... An mir vorbei saust der Unbekannte mit dem Strohhut und dem dunkelgrauen Hemd ... In seiner Hand hält er einen Koffer. Der Koffer gehört mir ... Lieber Gott!“

Eine gänzlich andere Weltanschauung ist dem Dichter Innokentij Annenskij (1856-1909) eigen. Sein Gedichtzyklus Das Kästchen aus Zypressenholz (1910) ist – in Anspielung auf die Gestalt des Zypressenlaubs als Symbol der Vergänglichkeit – zu Dreiergruppen zusammengefasst. Darunter befindet sich auch das Trilistnik wagonny (Waggon-Dreiblatt). In den Gedichten Toska woksala (Schwermut des Bahnhofs), W wagone (Im Waggon) und Simnij pojesd (Winterzug) dient der jeweilige Schauplatz lediglich als Ausgangspunkt bzw. Umgebung für die Reflexionen des Sprechers über die Existenz einer Welt jenseits des Alltäglichen und Gegenständlichen. So verwandeln sich die realen Erscheinungen mehr und mehr in einen Komplex aus Eindrücken und Assoziationen. Lokomotive und Waggons sind nur noch „Irgend etwas, doch nicht es ... / Krieche heran, du bist dazu verpflichtet; / Wie bist du heiß, verschmiert, / Und doch bist du nicht es!“ Schließlich löst sich die diesseitige Welt in ein Kaleidoskop aus akustischen und visuellen Eindrücken auf. Der Sprecher beabsichtigt gar nicht mehr, sie zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, sondern räumt ihnen in ihrer Wirkung auf die menschliche Wahrnehmung eine eigene Qualität ein, deren Resultat vom Individuum und seiner persönlichen Wahrnehmungsweise abhängt.

Auch im dichterischen Werk von Boris L. Pasternak (1890-1960) werden die Erscheinungen der Realität neu arrangiert – anders als bei Annenskij geschieht dies bei Pasternak jedoch nicht als Folge eines verstärkten Suchens nach dem Zugang zu einer der realen Welt übergeordneten Sphäre. Vielmehr preist Pasternak – besonders signifikant im Titelgedicht des Zyklus Sestra moja – schisn (Meine Schwester, das Leben, 1922) – den Reichtum des menschlichen Lebens, einschließlich sämtlicher darin eingeschlossener Empfindungen. So vermag der Dichter Erscheinungen miteinander zu kombinieren, die für ihn nicht aufgrund ihrer Ähnlichkeit miteinander identifizierbar sind, sondern dank ihres zufälligen gleichzeitigen Daseins an einem bestimmten Ort. Die Realität im Eisenbahnabteil wandelt sich auf diese Weise zu einer flirrenden Lebensfülle: Der Fahrplan einer Nebenstrecke erscheint „grandioser als die Heilige Schrift“, die Bahnhofsglocke „schwimmt“ läutend fort; die vom Zug durchfahrene „nächtliche Steppe stürzt von den Stufen zu einem Stern hinauf“, und das Herz dessen, der all dies erlebt, „plätschert“ durch die Gänge der Waggons und „streut“ die Abteiltüren in der Steppe aus.

Der einfache russische Mensch, der Dorfbewohner und Bauer nahm den durch seinen ländlichen Lebensraum hindurchrasenden Schnellzug als eine Kraft wahr, die nur unter Einsatz überdurchschnittlichen Mutes, hohen Könnens und großer Stärke zähmbar zu sein schien. Vor diesem Hintergrund wird die Verehrung verständlich, die das Eisenbahnpersonal beim einfachen Volk genoss – allen voran der Maschinist, der die Kräfte seiner Lokomotive zu bändigen und einzusetzen wusste. Diese Verehrung wird auch in der Literatur thematisiert, besonders augenfällig bei Andrej P. Platonow (1899-1951). In seiner Erzählung W prekrasnom i jarostnom mire (In der wunderbaren und grimmigen Welt) wird das Können der Hauptfigur, des Lokomotivführers Malzew, ausführlich beschrieben; es stößt erst an seine Grenzen, als Malzew infolge eines Unfalls erblindet und seine Arbeit aufgeben muss – bis er vom Erzähler, der seinerseits bei Malzew Lehrling den Beruf des Lokomotivführers erlernt hat, geheilt wird.

Doch der Zug kann auch zum alles verschlingenden Ungeheuer werden, wie dies etwa in der Erzählung Bronepoezd No. 14-69 (Panzerzug 14-69, 1922) von Wsewolod Iwanow (1895-1963) hochdramatisch und ungeschönt beschrieben wird. Im Fernen Osten verfolgt eine abgerissene, vom Bürgerkrieg gezeichnete Partisaneneinheit einen schwerbewaffneten, weißgardistischen Panzerzug. Unter hohen Verlusten auf beiden Seiten wird der Zug schließlich von den Partisanen gestoppt und eingenommen. Alle Beteiligten des Kampfes – auch die siegreichen Partisanen – werden als Gefangene des Stahlkolosses gezeigt, tatsächlich jedoch sind sie Gefangene ihrer eigenen angestauten Leidenschaften, die sich in ziel- und wahlloser Wut Bahn brechen. Hier findet kein Klassenkampf statt (was erst in der späteren Theaterfassung seitens der Obrigkeit vorgeschrieben wurde). Vielmehr mutiert die Masse der Soldaten, ungeachtet ihrer Zugehörigkeit, zu einer einzigen entfesselten, reißenden Bestie: „In der Nacht werden wir zum Tier, zum Tier!!“ ruft einer der Partisanen noch während der Siegesfeier aus.

Auch in der Zeit des Sozialistischen Realismus wurde die ‚literarische Eisenbahn‘ nicht ausschließlich als Metapher für den linear-kraftvollen Fortschritt verwendet, den sich die Sowjetunion auf die Fahnen geschrieben hatte. Wenjamin A. Kawerin (1902-1989), einer der bekanntesten Schriftsteller der 1920er Jahre, verlegte sich, nachdem er wie viele andere Literaten und Künstler des Formalismus beschuldigt worden war (dies kam zu jener Zeit einem Berufsverbot gleich), auf das Schreiben von Kinder- und Jugendbüchern. Sein Märchen Legkije schagi (Leichte Schritte, 1960) beginnt und endet mit einer Zugfahrt, und es ist das gleißende Licht des Scheinwerfers der elektrischen Lokomotive, in welchem die Hauptfigur des Märchens, das Schneemädchen – unverwundbar gegenüber der massiven Kraft des vorbeirasenden Zuges – wie aus dem Nichts auftaucht. Bezeichnenderweise findet es sich in der Welt der verwissenschaftlichten Erkenntnis, der Elektrizität und der ganzen Massivität des verordneten und institutionalisierten Fortschritts nicht zurecht.

In allen Ländern, in denen die Eisenbahn als neues Verkehrs- und Transportmittel das Leben revolutionierte, fand dies seinen künstlerischen Niederschlag. Die russische Literaturgeschichte stellt keine Ausnahme dar, und angesichts schon lange vor dem Bau der russischen Schienenwege bestehender Verbindungen zu Westeuropa verwundert es nicht, dass die Eisenbahn als Motiv auch in der russischen Literatur ähnlich dargestellt wurde wie in der westeuropäischen. Der hier versuchte kurze, keineswegs vollständige Überblick über die Spannweite, mit der ein durch und durch ‚reales‘ Motiv in der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts künstlerisches Schaffen inspiriert, beeinflusst und forciert hat, zeigt, dass das in der sowjetischen Epoche vorwiegend kultivierte Bild von der machtvoll voranstrebenden Lokomotive des Fortschritts keineswegs der einzige Widerhall war, den die Eisenbahn in der russischen Kunst erzeugt hat. Daneben gibt es viel zu entdecken – überraschenderweise auch und gerade in der russisch-sowjetischen Literatur der letzten fünf Jahrzehnte, in der die Wahrung der lebenswichtigen künstlerischen Unabhängigkeit, in wie geringem Maße sie auch realisierbar gewesen sein mag, höchst interessante Kunstwerke hervorgebracht hat.

Literaturhinweise

  • Martina Ernst: Phantastische Eisenbahn. Ein komparatistischer Blick auf Erscheinungsform und Funktion der Schienenwelt vornehmlich in der kurzen Erzählprosa. (Europäische Hochschulschriften. Reihe 18, Bd. 68). Frankfurt/Berlin 1991.

  • Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart. München 2000.

  • Günther Stökl: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1990.