Die Weichsel: „Unbändiger“ Naturstrom oder „zivilisierte“ Kulturstraße?

aus OWEP 4/2006  •  von Eva-Maria Stolberg

Priv.-Doz. Dr. Eva-Maria Stolberg ist Osteuropahistorikerin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn und arbeitet vor allem zur Natur- und Raumgeschichte Osteuropas.

Anknüpfend an das Themenheft „Flüsse machen Geschichte“ (Heft 3/2004) stellt der vorliegende Beitrag die von Mensch und Natur geschaffenen strukturellen Bedingungen der Flusserschließung am Beispiel der Weichsel vor. Flüsse definieren geografische Räume. Der Ansatz der modernen Humangeografie, Interaktionen von Naturräumen und Mensch zu untersuchen, bietet sich auch für den Historiker an. Anthropogene Faktoren wie Siedeln und Wirtschaften stellen Eingriffe in den Naturraum dar, sie lösen Prozesse aus, die wiederum menschliche Aktionen hervorrufen. Erschließung von Naturräumen diente der Orientierung und der Nutzbarmachung. Gleichzeitig wurde die Weichsel in der Geschichte Ostmitteleuropas zu einer „mental map“. Ihre Erschließung war im Mittelalter religiös (Ostmission), im 19. Jahrhundert national motiviert.

Der Name Weichsel stammt vom lateinischen Vistula und weist darauf hin, dass die Weichsel bereits in der Antike ein bekannter Handels- und Verkehrsweg war. Über die Weichsel, Moldau und Donau entwickelte sich ein florierender Bernsteinhandel von der Ostseeküste in den Mittelmeerraum und zum Schwarzen Meer. Im Mittelalter folgten Christianisierung und Siedlungsbewegung entlang der Weichsel und ihrer Nebenflüsse. Die Geschichte der Ostkolonisation und die Bedeutung der Weichsel als besonderer historischer „Landschaft“ Ostmitteleuropas an der Nahtstelle deutscher und polnischer Nationsbildung im 19. und 20. Jahrhundert greift ohne Berücksichtigung der physisch-geografischen Rahmenbedingungen zu kurz. Ein Blick auf die Karte zeigt, dass sich ein östliches Mitteleuropa kaum abgrenzen lässt, ein wichtiger, bestimmender Raumfaktor ist jedoch die Weichsel.

Die Weichsel durchfließt den nördlich der Karpaten gelegenen Teil des östlichen Mitteleuropas in seiner ganzen Ausdehnung, vom Hochgebirge des Südens bis zur Ostseeküste. In der deutschen und polnischen Nationalgeschichte stellte sie eine Imagination dar, die der ideologischen Instrumentalisierung diente. Jenseits des Nationalismus wurde das Alltagsleben von Deutschen und Polen vom Fluss bestimmt, der die Anwohner vor gleichermaßen schwierige Lebensbedingungen stellte, denn die Weichsel verlegte wie auch ihre Nebenflüsse bzw. Mündungsarme (Nogat, Elbing) seit dem Mittelalter immer wieder ihren Lauf.

Im 10. Jahrhundert folgte die Missionierung im Zuge der ottonischen Herrschaftsausdehnung nach Osten über Flüsse, zunächst entlang der Elbe-Saale-Linie, dann entlang der Oder und Weichsel mit ihren Nebenflüssen. Es handelte sich um ein sich allmählich vorschiebendes Siedlungsgebiet durch Bildung von Stützpunkten. Beim Vorgang der Umgestaltung der Landschaft, bei der Waldrodung, der Besiedlung, Ausweitung und Ausnutzung der Ackerbaufläche hat die Weichsel eine wesentliche Rolle gespielt. Die Agrarisierung erforderte jedoch Schutzmaßnahmen gegen Überschwemmungen. Seit 1288 wurden in sechs Jahren die Sümpfe der Weichsel durch Eindeichungen und Entwässerungsanlagen zu ertragreichem Kulturboden umgewandelt. Städtische Siedlungskeime entstanden an den Ufern der Weichsel, von denen aus der Getreideanbau im Hinterland erschlossen wurde. Polen wäre ohne die Weichsel nie in dem Maße Getreideland geworden. Noch im 17. Jahrhundert – vor den Teilungen – wurden nach Berichten des englischen Reisenden Peter Mundy über die Weichsel und den Hafen Danzig jährlich ungefähr 160.000 bis 200.000 Tonnen Getreide exportiert.

Nimmt man eine Gegenüberstellung der Weichsel mit anderen europäischen Flüssen (Rhein, Donau) für die Neuzeit vor, so schneidet die Weichsel nicht schlecht ab, weil damals die meisten Ströme kaum reguliert und die Anforderungen, die von der Schifffahrt an die Beschaffenheit eines Flusses als Wasserstraße gestellt wurden, gering waren. Die Transportleistung der Schifffahrt schnitt gegenüber dem bescheidenen Netz schlechter Landstraßen besser ab. Ins 19. Jahrhundert fällt die Hochphase der technischen Erschließung des Weichsellandes: Landstraßen wurden ausgebaut und ein Schienennetz gelegt. Gleichzeitig fand ein „technischer Wettlauf“ zwischen den Teilungsmächten Polens statt, der nicht frei war von nationalen Untertönen. So symbolisierte die Weichsel als „unbändiger Strom“ das Fremde, d. h. Slawische. Die wirtschaftliche Erschließung, die technische Bezwingung der Flussnatur (Eindeichung, Kanalbau, Schifffahrt) machte die Weichsel zu einem Grenzgebiet und Streitobjekt nicht nur zwischen Deutschen und Polen, sondern auch zwischen den drei Teilungsmächten Preußen, Österreich-Ungarn und Russland. Mit der Industrialisierung und Technisierung im 19. Jahrhundert kam der Gedanke an eine wasserwirtschaftliche Nutzung von Flüssen auf, und zwar nicht nur als Verkehrsweg. Hochwasser sollten durch Eindeichung verhindert werden, neues Ackerland für eine wachsende Bevölkerung erschlossen werden, das Wasser der Weichsel die Energieversorgung der Industrie sicherstellen. Die Teilung Polens und die imperialen Rivalitäten zwischen Preußen, Österreich und Russland, später die auf rücksichtslose Ausbeutung angelegte NS-Besatzungspolitik haben jedoch eine effektive wasserwirtschaftliche Nutzung der Weichsel verhindert. Doch sprach nicht nur die politische Lage, sondern auch die naturräumliche Gegebenheit dagegen. Wenig geeignet für die Schifffahrt war die Weichsel in Galizien, in Kongresspolen in begrenztem Maß, am besten in Westpreußen. Sandbänke, Überschwemmungen und Eisgang im Frühjahr erschwerten eine wirtschaftliche und technische Erschließung. Der durch ein Hochwasser im Jahre 1888 verursachte Schaden an der preußischen Weichsel betrug nach amtlichen Feststellungen rund 11,7 Millionen Mark. Ebenso wurde der Schiffsverkehr während des Eisganges behindert. Man rechnete mit einer durchschnittlichen Sperrzeit von rund 110 Tagen. Auch die Zeiten des Niedrigwassers dehnten sich oft über ein viertel Jahr aus und beeinträchtigten die Verkehrsmöglichkeiten.

Als Verkehrsweg verband die Weichsel Deutsche und Polen ebenso wie in der Abwehr von Überschwemmungen. Trennendes und Verbindendes in der deutsch-polnischen Kulturgeschichte waren wechselhaft wie die Weichsel selbst.

Die Weichsel, poln. Wisła, entspringt im Jablunka-Gebirge und mündet mit einem weit verzweigten Delta (Danziger Werder) in die Danziger Bucht. Von den 1.059 Kilometern sind heutzutage 800 Kilometer schiffbar. Der Augustowo-Kanal verbindet die Weichsel mit der Memel, der Bromberger Kanal mit der Oder.