Literatur aus Ungarn

aus OWEP 2/2007  •  von Christina Kunze

Die Autorin ist Hungarologin und Übersetzerin ungarischer Literatur und lebt in Berlin.

Grundsätzlich kann man sagen, dass die ungarische Literatur nicht sehr bekannt ist, aber das ist nicht so schlimm. Das Zustandekommen ist wichtig.“
Péter Esterházy

In diesem Artikel soll es um ungarische Erzählprosa gehen.1 Der vorgegebene Umfang ließ es ratsam erscheinen, das Material zu begrenzen, und angesichts der Übersetzungslage ist diese Begrenzung zugunsten der Prosa und damit leider zu Ungunsten der Lyrik ausgefallen. Dennoch musste auch innerhalb der Erzähltexte eine Auswahl getroffen werden, um auf die einzelnen Werke eingehen zu können.

1986 erschienen Péter Esterházys Einführung in die Belletristik und Péter Nádas’ Buch der Erinnerung, die jedes auf seine Weise exemplarisch für Entwicklungen in dieser neuen Literatur stehen. Die Jahreszahl bezeichnet keinen Bruch, sondern eher einen Höhepunkt; die letzte „Epochenschwelle“ in der ungarischen Literatur, die sogenannte „Prosawende“, zog sich durch die siebziger und achtziger Jahre. In Abgrenzung zur ideologisch-politisch festgelegten Literatur der Nachkriegsjahrzehnte setzten sich junge Schriftsteller mit den ästhetischen Traditionen der ungarischen Klassik und Spätmoderne auseinander: Schriftsteller wie Sándor Márai, Dezső Kosztolányi, Géza Ottlik und Miklós Mészöly wurden ihnen als Vorbilder wichtig.

Márai ist in den vergangenen Jahren auch im deutschen Sprachraum als großartiger Erzähler (wieder-)entdeckt worden, Kosztolányi hatte die ungarische Literatur der Zwischenkriegszeit stark geprägt. Ottlik und Mészöly schufen in bzw. seit den fünfziger und sechziger Jahren parabelartig lesbare Werke, für die sie die Gattungstraditionen des Bildungs- und Erinnerungsromans nutzten. Züge Ottlikscher Prosa, beispielsweise die „Vervielfachung der Perspektive“ und das „Wiederschreiben“, finden sich in Péter Esterházys Produktionsroman (1979) und Harmonia Caelestis (2000), in Péter Nádas’ Buch der Erinnerung und im Roman eines Schicksallosen (1975) von Imre Kertész.

Charakteristisch für die Literatur der „Prosawende“ sind ein Verschwimmen der Grenzlinien zwischen angenommener Wirklichkeit und Fiktion, ein großzügiger Umgang mit Zeit- und Raumverhältnissen, die Aufspaltung der Erzählstimme sowie die Thematisierung des Lesers und des Erzähltseins. Dadurch fordert die Literatur dieser Zeit auf eine neue Weise zu sehr aktivem Leseverhalten auf.

In den achtziger Jahren gab es eine Tendenz zur Relativierung des Erzählens, es entstanden postmoderne Bricolage-Texte. In den Neunzigern kehrte das traditionelle Erzählen teilweise wieder. Für die achtziger Jahre ist in der ungarischen Literatur der Roman, für die neunziger Jahre die Kurzgeschichte charakteristisch; gegen Ende der neunziger Jahre nahm die Zahl der Romane wieder deutlich zu.

Der Erinnerungsroman hat in der ungarischen Literatur des zwanzigsten Jahrhundert eine starke Tradition, teils in Kombination mit Figuren des Familienromans, teils in Verbindung mit autobiographischen Komponenten, wobei hier unter „autobiographisch“ nicht die Biographie des Autors, sondern das Leben des Erzählers zu verstehen ist.

Ebenfalls die ganze Zeit präsent waren (und sind) Lektüremöglichkeiten als Parabel, vor allem in Texten der siebziger und achtziger Jahren. Mit diesem Stilmittel konnten Bereiche des sozialen Umfelds und auch der Geschichte angesprochen werden, die vom herrschenden ideologischen Diskurs nicht zugelassen waren. Dabei ging es aber nicht nur um eine einfache Zweideutigkeit zur Umgehung der Zensur. So wurde schon in Schule an der Grenze (1959) von Géza Ottlik und Texten von Miklós Mészöly die Parabelhaftigkeit unbestimmt, d. h. diese Texte lassen sich nicht auf eine einzige Deutung festlegen. Der Besucher (1969) von György Konrád kann als Parabel auf das Verhalten osteuropäischer Intellektueller gegenüber den politischen Systemen gelesen werden. Steine fallen in versiegende Brunnen (1975) von István Szilágyi, einem siebenbürgischen Autor, demonstriert die Übermacht des von der Geschichte bedingten Schicksals. Ein weiterer, sehr erfolgreicher Roman aus dieser Gruppe ist Schutzgebiet Sinistra (1992) von Ádám Bodor. Schon in Bodors Novellistik lag eine Lektüre als systemkritische Parabel nahe; in diesem Roman geht es um die konkreten Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse in einem Gebirgsgebiet in Osteuropa, wobei kein Zeitkontinuum gegeben ist und der Unterschied zwischen Wahrscheinlichem und Phantastischem verschwimmt.

Das Parabelhafte ist aber mit dem Ende des Sozialismus keineswegs aus der ungarischen Literatur verschwunden, es ist vielmehr noch heute aktuell und produktiv. Meines Helden Platz (2000) von Lajos Parti Nagy schildert, wie eine fanatische Taubenorganisation die Macht an sich reißt; der Erzähler des Textes, zufällig Wohnungsnachbar des Obertäuberichs Tubitza, wird zur Umoperation auserkoren: ihm werden Flügel eingepflanzt, und er soll fliegen lernen. Im Gegenzug wird ihm die Haut abgezogen, für die Tauben ist sie ein begehrtes Objekt und gilt als edel. Als Versuchskaninchen lebt er unter ständiger Beobachtung im Zentrum der neuen Macht, wo er auch einige Freiheiten genießt. Die anfängliche Abscheu vor den totalitären Fanatikern weicht nach und nach einem Genießen der eigenen Position, obwohl die Erinnerung an sein Leben zuvor und das eigene Ich nicht verloren gehen. Die Beziehung zur fiktiven Außenwelt bleibt in diesem Roman offen, ebenso wie das Ende, an dem der Erzähler sein Tagebuch der Ereignisse per E-Mail (diese Möglichkeit hatte er die ganze Zeit, aber wurde er überwacht?) abschickt …

Ein postmoderner „Flicktext“ ist die eingangs erwähnte Einführung in die Belletristik von Péter Esterházy, die seit 2006 auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Hinter diesem ironischen Titel – hat doch die schöne Literatur, in die hier eingeführt wird, so gut wie nichts mit der damals in Ungarn akzeptierten Literatur zu tun – verbirgt sich eine Komposition aus großen und kleinen Prosaformen. Das Buch umfasst mehrere Romane, die zum Teil bereits selbstständig erschienen waren, beispielsweise Kleine ungarische Pornographie (1984) und Hilfsverben des Herzens (1985), und zahlreiche kleinere Prosatexte. Gekennzeichnete oder nicht gekennzeichnete Zitate aus eigenen und fremden Werken, Marginalien und bildliche Darstellungen verknüpfen die verschiedenen Texte miteinander. Esterházy hat dieses Buch einmal mit einem Gebäude verglichen, in dem die großen Texte die Räume darstellen, die durch „Treppen, Querkorridore, Fenster, kleine Gesimse“ in Verbindung stehen. Diese Verbindung ist aber keine Folge in Zeit oder Raum, sondern sie besteht beispielsweise aus Zitatzusammenhängen oder gleichen Bezügen. Der Erzähler ist durch Wechsel in Erzählmodus und Tonlage schwer zu fassen, eigentlich entsteht die Erzählstimme erst aus dem Zusammenspiel der verschiedenen sprachlichen Welten. Die Inhalte sind nur im Zusammenhang mit ihrer Darstellung zu denken, der Text ist gleichsam mit seinem Medium verwachsen. Nur bei visueller Aufnahme des Textes wird das Gebäude begehbar, räumlich erfahrbar, nur so kann sich eine Orientierung einstellen.

Ende eines Familienromans (1977) von Péter Nádas fordert mit anderen Mitteln aktives Leseverhalten ein. Die Handlung spielt Ende der fünfziger Jahre und beschreibt die Geschichte des Sohnes eines Offiziers des Staatssicherheitsdienstes aus der Perspektive des Jungen selbst, der Halbwaise ist. Die Familie ist jüdisch, der Junge lebt bei seinen Großeltern, den Vater sieht er nur selten. Der Großvater beharrt auf jüdischen Traditionen und bürgerlichen Werten, der Vater will sich von eben diesen Traditionen und Werten lösen. Als die beiden Großeltern kurz hintereinander sterben und der Vater verhaftet wird, bringt man den Jungen ins Heim. Auch in diesem Roman finden sich Zitate, vor allem aus der Bibel. Durch die kindliche Perspektive und Sprache bleiben politische Ereignisse im Hintergrund, Wirkliches und Imaginäres vermischen sich. Ebenso gehen die Stimmen verschiedener Vorfahren in den Erzählungen des Großvaters ineinander über. Die innere Welt der Protagonisten ist wenig charakterisiert; dies und der offene Schluss des Romans – es fällt keine Entscheidung, ob Tradition oder Schicksal vorzuziehen sei – schreiben eine aktivere Leserrolle vor, als es die Leser aus der vorhergehenden ungarischen Literatur gewohnt waren.

Sowohl Familien- als auch autobiographischer Erinnerungsroman ist Harmonia Caelestis von Péter Esterházy. Der Text besteht aus zwei Teilen, die durch ein ausgefeiltes Zitat- und Verweissystem miteinander verbunden sind. Gegenstand des Romans ist die Familie Esterházy, eine für die ungarische Geschichte bedeutende Adelsfamilie. Im ersten Teil, den „nummerierten Sätzen aus dem Leben der Familie Esterházy“, sind anekdotenhaft Begebenheiten aus der Familiengeschichte aufgezählt, wobei sowohl die Rolle des Erzählers als auch die der erzählten Personen undeutlich ist. So ist mehrfach davon die Rede, wie sich die Eltern des Erzählers zum ersten Mal begegnen, aber es sind offenbar viele Väter, die viele Mütter kennenlernen, und so stellt sich die Frage nach dem unmittelbaren Bezug auf die historische Familiengeschichte nicht. Die einzelnen Erzählungen dieses Kennenlernens stehen in keiner Chronologie und beziehen sich überhaupt nur selten aufeinander. Geht der Leser von der Annahme aus, es handle sich hier um eine abbildende Beschreibung, so wird diese Vermutung sehr rasch widerlegt.

Der zweite Teil mit dem Titel „Bekenntnisse einer Familie Esterházy“ – nicht ganz ohne Bezug auf Sándor Márais Bekenntnisse eines Bürgers –, ähnelt trotz dem unbestimmten Artikel eher einem Familienroman: Die Anekdoten beziehen sich konkreter auf eine und dieselbe Familie, man glaubt immer demselben Erzähler gegenüberzustehen. Wie schon in seinen früheren Werken zitiert Esterházy ausgiebig: seine eigenen und fremde literarische Werke, Witze und Zeitungsmeldungen. Eine wichtige Figur in diesem Roman ist der Vater; nachdem Esterházy mit den Hilfsverben des Herzens der Mutter einen Roman gewidmet hatte, gilt dieser nun seinem Vater.

Als Harmonia Caelestis gerade im Druck war, erfuhr Esterházy, dass sein Vater Informant des Staatssicherheitsdienstes gewesen war. So ließ er Harmonia Caelestis als „Anlage“ die Verbesserte Ausgabe (2002) folgen, in der er von seiner Lektüre des Dossiers mit den Berichten seines Vaters erzählt. Damit hat Esterházy wieder einmal als erster einen wichtigen Schritt getan, wenn auch diesmal im Bereich des Erzählinhalts und nicht der Erzählweise: Verbesserte Ausgabe ist das erste große literarische Werk, das die Problematik der Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst thematisiert. Sicher trug auch Esterházys Bekanntheit dazu bei, dass das Thema der informellen Mitarbeiter nach Erscheinen des Buches in der Öffentlichkeit in nie dagewesenem Ausmaß diskutiert wurde.

Der autobiographische Roman eines Schicksallosen von Imre Kertész erschien 1975. Zunächst fand Kertész für sein Manuskript im sozialistischen Ungarn keinen Verlag. Als das Buch dann doch erschien, wurde es kaum zur Kenntnis genommen. Zu größerer internationaler Bekanntheit gelangte Kertész mit dem Erscheinen der deutschen Übersetzung des Romans. In Ungarn stellte sich der Ruhm erst mit der Verleihung des Nobelpreises für Literatur 2002 ein. Grund dieser fehlenden Würdigung im eigenen Land war das Thema seines Werkes: die Mitwirkung Ungarns bei der Verfolgung der Juden in der Zeit des Nationalsozialismus. Vor diesem Thema hatten die Ungarn bis dahin gern die Augen verschlossen und den Deutschen die alleinige Schuld gegeben. In dem Roman wird die Deportation eines vierzehnjährigen Jungen aus Budapest ins Konzentrationslager Auschwitz beschrieben. Der Roman hat dadurch beeindruckt, dass die Erlebnisse des Jungen in sachlichem und gelassenem Ton, ohne Urteil, erzählt werden, der in so auffallendem Widerspruch zu den Inhalten seiner Erzählung steht. Wechsel in der Erzählperspektive lassen den Erzähler unbestimmbar, die Handlung unabgeschlossen werden. Auschwitz ist nicht zu Ende, es wirkt bis in die Gegenwart fort.

Alle Werke von Kertész erzählen auf unterschiedliche Weise von dieser sein Leben prägenden Zeit im Konzentrationslager Auschwitz. Fiasko (1988) handelt von einem alten Schriftsteller, der einen Roman über seine Erlebnisse in den Vernichtungslagern geschrieben hat, dessen Manuskript aber vom Verlag abgelehnt wird. Das stürzt den fiktiven Autor in eine Krise, aus der er sich rettet, indem er einen Roman schreibt, dessen Held, ein Journalist, zufällig in eine Diktatur gerät, wo er sich nicht zurecht findet, weil er die Regeln nicht kennt, die er aber kennen muss, um zu überleben. Als ein Aufstand ausbricht und der Journalist fliehen könnte, bleibt er in der Diktatur, weil er sich nur noch in ihrer Sprache ausdrücken kann. Eine Flucht würde Sprachlosigkeit und den Verlust der eigenen Geschichte bedeuten.

Von einem anderen Umgang mit dieser traumatischen Kindheitserfahrung ist in Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (1989) die Rede. Ein Mann verweigert sich dem Kinderwunsch seiner Frau. Er ist der Ansicht, nach Auschwitz könne man keine Kinder mehr zeugen. In einer Apologie, die das ganze Buch einnimmt, begründet er das damit, dass er, der selbst als Kind das Grauen der Konzentrationslager erlebt hat, so etwas seinem eigenen Kind nicht zumuten will.

Die andere wichtige Neuerscheinung des Jahres 1986, Buch der Erinnerung von Péter Nádas, zählt ebenfalls zu den autobiographischen Romanen. In Form von mehreren ineinander verschachtelten Memoiren wird von verschiedenen Personen aus verschiedenen Zeiten erzählt. Die Memoiren sind durch Parallelen in Motiven und Inhalt miteinander verknüpft. Drei Erinnerungsstränge ziehen sich durch das ganze Buch. Ein Mann, dessen Namen der Leser nicht erfährt, lebt in den siebziger Jahren in Ost-Berlin und unterhält eine homoerotische Beziehung zu einem Dichter. Als es diesem gelingt, in den Westen zu gehen, begeht der Erinnernde in Heiligendamm einen Suizidversuch. Der zweite Erinnerungsstrang hat auch Berlin und Heiligendamm zum Ort, allerdings am Ende des 19. Jahrhunderts. Der dritte Strang handelt von den Kinderjahren des Erinnernden in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts in Ungarn. Am Schluss des Romans erinnert sich Krisztián Somi Tóth, eine Figur aus diesen Kindheitserinnerungen, daran, dass der verzweifelte, von seinem Freund Verlassene wieder nach Ungarn kam und bei der Familie Somi Tóth eine Bleibe fand. Dort fing er an, seine Memoiren aufzuschreiben, die aber erst nach seinem Tod von seinem Freund Somi Tóth zusammengestellt werden. So thematisiert der Roman nicht nur die Erinnerungsarbeit dreier Personen, sondern auch sein eigenes Entstehen.

Péter Esterházys autobiographischer Roman Siebzehn Schwäne [Tizenhét hattyúk] (1987) erschien unter dem Namen des fingierten Autors Lili Csokonai, was in der ungarischen Öffentlichkeit mit einigem Befremden aufgenommen wurde, weil man mit dem Spielcharakter des Pseudonyms nichts anfangen konnte. In dem Roman erzählt das einfache Mädchen Lili sein Leben. Unablässig bemüht, „rauszukommen“, etwas zu erreichen, erleidet sie ebenso ständig Niederlagen, bis sie endlich seelisch wie körperlich zerstört in der völligen Hoffnungslosigkeit landet. Sie berichtet davon in einer Sprache, die an die ungarische Memoirenliteratur des 18. Jahrhunderts erinnert, wobei die Inhalte durchaus dem zwanzigsten Jahrhundert angehören. Zwischen der alten, stilhohen Sprache und den Erlebnissen der Erzählerin, die im zwanzigsten Jahrhundert und in sehr einfachem Milieu angesiedelt sind, entsteht eine starke Spannung, die den Leser auffordert, sich der Zeit und der Stimme der Erzählenden immer wieder neu bewusst zu werden.

In den neunziger Jahren erschienen mehrere historische Romane. Ein besonders bemerkenswerter stammt aus der Feder von László Darvasi: Die Legende von den Tränengauklern (1999), ein schillernder Roman mit phantastischen Elementen. Die Handlung spielt in der Zeit, in der Teile Europas von den Osmanen besetzt waren; überall herrschen Tod und Vernichtung, mitten in diesem Chaos ist eine Gauklertruppe unterwegs, die nicht den Gesetzen von Leben und Tod unterworfen ist, die in die Geschichte eingreifen und Menschen retten kann. Der Roman besteht aus einem Gewebe von einzelnen Episoden, zwischen denen zahlreiche Verweise und die Personen der Gaukler die Verbindung schaffen.

In den letzten Jahren beschäftigt sich ein Teil der ungarischen Literatur zunehmend mit gesellschaftlichen Problemgruppen. Sándor Tar schrieb schon seit Anfang der achtziger Jahre soziographische Kurzgeschichten und Romane, beispielsweise Langsame Güter [Lassú teher] (1998). Darin schildert er das Leben der einfachen armen Leute. Unverschnörkelt und beinahe teilnahmslos beschreibt er die vielen kleinen Katastrophen ihres Lebens und stellt so ihre Perspektivlosigkeit dar.

In derselben Tradition bewegt sich Kriszta Bódis, deren erster Roman Harte Butter [Kemény vaj] (2003) ein Romamädchen vom Dorf zur Protagonistin hat, das es zu etwas bringen soll und will und in der Prostitution landet, das alle Leidenswege geht, sich dabei aber die Hoffnung auf einen Ausweg bewahrt. Zugleich arrangiert es sich aber so mit seiner Situation, dass ein Ausbrechen immer schwieriger zu werden scheint. Der Roman lässt den Ausgang offen, auch, was in der entstandenen Situation für die Protagonistin von größerem Vorteil ist und ob man ihr das Recht zubilligen sollte, das selbst zu entscheiden.

Ein ganz junger Autor ist Tamás Jónás, selbst ein Rom. Seine Texte – vor allem Gedichte und Kurzgeschichten – haben die Welt der Roma zum Gegenstand. Manchmal beinahe märchenhaft, andernorts sehr zurückhaltend, nüchtern und beinahe verbittert erzählt er von (s)einem Leben am Rand der Gesellschaft und eröffnet dem Leser auf diese Weise einen Zugang zu einer Welt, die ihm sonst verschlossen bliebe.


Literaturhinweise:

An dieser Stelle muss der Leser ein wenig vertröstet werden: einerseits auf die Neuauflage von Kindler’s Literaturlexikon, in dem die neuesten Werke der ungarischen Literatur vertreten sein werden, andererseits auf eine Geschichte der ungarischen Literatur, die 2009 im Verlag de Gruyter erscheinen wird.

Über die im Text erwähnten und im Druck erschienenen Titel hinaus bietet auch das Internet einiges an ungarischer Literatur in deutscher Sprache:

  • Einige Klassiker sind in der Ungarischen Elektronischen Bibliothek zu finden: http://mek.oszk.hu/indexeng.phtml

  • Neue Kurzgeschichten von jungen Autoren gibt es unter http://www.literatur.hu/ (Anm. d. Redaktion: Link nicht mehr aktiv)

Fußnote:


  1. Werke, deren Titel nur auf Deutsch angegeben ist, sind unter diesem Titel auf Deutsch erschienen; gibt es keine Übersetzung, so ist in eckigen Klammern der ungarische Titel angegeben. Der deutsche Leser ist in der glücklichen Lage, die wichtigsten Werke der ungarischen Erzählprosa der vergangenen dreißig Jahre in deutscher Übersetzung lesen zu können, zumindest die Romane. Alle Erscheinungsdaten beziehen sich auf die ungarische Originalausgabe. ↩︎