Zwischen Integration und Isolation: Russische Juden in Deutschland
Im Sommer 1990 breitete sich in Moskau ein Gerücht aus: Honecker nimmt Juden aus der Sowjetunion auf, als eine Art Wiedergutmachung dafür, dass die DDR sich nie an den deutschen Zahlungen für Israel beteiligte … Es sprach sich schnell herum, alle wussten Bescheid, außer Honecker vielleicht.“
Dieses Zitat des russisch-jüdischen Schriftstellers Wladimir Kaminer beschreibt auf literarische Weise – wenn auch nicht unbedingt faktengetreu – eine für das deutsche Judentum wichtige Entwicklung: Über 200.000 Juden aus der ehemaligen Sowjetunion sind nach Deutschland eingereist, seit die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz 1991 ihre Aufnahme als so genannte Kontingentflüchtlinge beschlossen hat. Diese Zuwanderung hat das jüdische Leben in Deutschland grundlegend verändert: Einerseits hat sie viele jüdische Gemeinden wiederaufleben lassen, andererseits hat sie auch zu Problemen geführt.
Glasnost und Perestrojka in der Sowjetunion, die das politische und wirtschaftliche System im größten Land der Erde umstürzen sollten, führten zu einer allumfassenden Verunsicherung und Existenzängsten in der Bevölkerung. In dieser Zeit der extremen Mangelwirtschaft wurden unter anderem Juden zu Sündenböcken erklärt – der Antisemitismus nahm zu. Diese Entwicklung verstärkte unter den Juden in der Sowjetunion den Wunsch, das Land zu verlassen. Die Ausreisezahlen nach Israel und in die USA stiegen an. In dieser Zeit kursierte unter der jüdischen Bevölkerung das hinter vorgehaltener Hand verbreitete Gerücht „Deutschland nimmt.“
Ende der achtziger Jahre versuchten viele Sowjetbürger, mit Touristenvisa in die ehemalige DDR, vor allem nach Ostberlin, einzuwandern in der Hoffnung, vor Ort eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten. Unter diesen Einwanderern befanden sich auch viele Juden. In der DDR hatte nach dem Sturz des Systems eine bis dahin vermiedene Auseinandersetzung mit der Geschichte des Nationalsozialismus begonnen, darüber hinaus wurde die DDR-Politik des Antizionismus von der Regierung Lothar de Maizière aufgegeben. Bis Ende 1990 waren bereits 9.000 Juden aus der Sowjetunion in die DDR eingewandert. In der DDR machten Gerüchte die Runde, die Moskauer DDR-Botschaft werde von Juden belagert. Diese sich überstürzende Entwicklung setzte die Politik unter Handlungsdruck. Da die DDR niemals die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatte und über kein Asylgesetz verfügte, musste die Regierung de Maizière eine neue Regelung für die russischen Juden finden. Im Juli 1990 erklärte sich die DDR offiziell dazu bereit, bedrohte Juden unbürokratisch aufzunehmen. Aufgrund der außergewöhnlich hektischen politischen Situation – die DDR stand kurz vor ihrem Ende – fand diese Entwicklung kaum Beachtung in der Öffentlichkeit.
In der alten Bundesrepublik wurden die ankommenden sowjetischen Juden von offizieller Seite nur geduldet. Angesichts der zunehmenden Zahlen von Einwanderern sowie Einwanderungswilligen wies die Bundesregierung die deutschen Konsulate im August 1990 an, Aufnahmeanträge jüdischer Sowjetunionbürger vorerst nicht mehr zu bearbeiten. Trotz des verhängten Einreisestopps reisten alleine im Dezember 1990 1.600 Juden mit Touristenvisa nach Berlin ein, an manchen Tagen (auch an Heiligabend) kamen bis zu Hundert Menschen. Die Tatsache, dass diese ohne Wohnmöglichkeiten um jeden Preis in Westberlin bleiben wollten, erzeugte Aufmerksamkeit in den Medien. Dies nahm Heinz Galinski, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Berlins und des Zentralrats der Juden in Deutschland, zum Anlass, mit der Regierung über den dauerhaften Verbleib der russischen Juden in Deutschland zu verhandeln. Bekannte Künstler, Kirchenvertreter und Wissenschaftler setzten sich für die Einreise der Juden ein.
Bereits 1987 hatte sich die israelische Regierung mit der Bitte an die Weltgemeinschaft gewandt, Juden aus der Sowjetunion, die auf dem Weg nach Israel – ins „gelobte Land“ – einen Umweg über Transitländer nahmen, nicht dauerhaft aufzunehmen. So sagte der damalige israelische Generalkonsul Mordechay Lewy: „Alle Juden haben ein Heimatland. Und das ist Israel.“ Dieser Bitte kam Deutschland mit dem Verweis auf die eigene Geschichte nicht nach. In der jüdisch-amerikanischen Öffentlichkeit sowie in zionistischen Organisationen weltweit löste die Vorstellung, dass Juden ins „Land der Täter“ zurückkehren sollten, Empörung aus. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland wurde stark kritisiert. Deutschland befand sich also in einer außenpolitisch brenzligen Lage: Auf der einen Seite wollte man die ohnehin belasteten Beziehungen zu Israel nicht weiter gefährden, andererseits wollte man den Zentralrat der Juden im eigenen Land nicht verärgern und einem der deutschen Geschichte entsprungenen Verantwortungsgefühl gerecht werden. Eine Kompromisslösung fand man darin, nur eine begrenzte Zahl russischer Juden aufzunehmen.
Für die Bundesregierung stellte sich die konkrete Frage, welchen gesetzlichen Aufenthaltsstatus die russischen Juden bekommen sollten. Deutschland verstand sich damals nicht als ein Einwanderungsland. Die Aufnahme der russischen Juden musste sich also einerseits an der vorgegebenen Gesetzgebung orientieren; gleichzeitig stand die Regierung unter dem enormen Druck, der geschichtlich bedingten Verantwortung Deutschlands gerecht werden zu wollen. Darüber hinaus hegten die Politiker bei ihrer Suche nach einer unbefristeten Aufnahmeregelung parteiübergreifend die starke Befürchtung, diese Einwanderung könne zu einem Anstieg des Antisemitismus führen. Deswegen wurde von einer auf Juden gemünzten, religiös ausgelegten Gesetzgebung Abstand genommen. Eine politische Verfolgung der russischen Juden als Begründung kam wegen der dadurch eventuell gefährdeten diplomatischen Beziehungen zur Sowjetunion nicht in Frage. Ein Flüchtlingsstatus hätte außerdem zur Konsequenz gehabt, dass jeder Einwanderer einzeln auf seine Herkunft hätte überprüft werden müssen. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte war an diese Art der Überprüfung nicht zu denken. Auch der Gedanke, eine Quotenregelung für Juden einzuführen, schien unerträglich.
Nach zahlreichen Diskussionen wurde auf das Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge, das so genannte Kontingentflüchtlingsgesetz, zurückgegriffen. Nach wie vor wird diese Begriffswahl kritisiert, weil die jüdischen Einwanderer erstens keine Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention sind und zweitens keine Kontingentierung für ihren Zuzug existiert. Im Januar 1991 beschloss die erste gesamtdeutsche Ministerpräsidentenkonferenz die Aufnahme der jüdischen Migranten.
Dabei durften sich damals als Kontingentflüchtlinge all diejenigen bewerben, die ihre jüdische Identität nachweisen konnten, sowie deren Angehörige. Als Nachweis gilt entweder die Geburtsurkunde, die eine jüdische Mutter oder einen jüdischen Vater belegt, oder der so genannte „fünfte Punkt“. Dieser hielt in einem sowjetischen Pass die (gegebenenfalls auch jüdische) Nationalität fest. Damit richtet sich die Regelung nicht nach den Bestimmungen der jüdischen Halacha1, nach denen nur derjenige als jüdisch gilt, der eine jüdische Mutter hat.
Eine wichtige Rolle in dieser Debatte spielte das Argument, man wolle die kleinen und überalterten jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder zu neuem Leben erwecken. Gleichzeitig fiel die Debatte Anfang der neunziger Jahre in die Zeit ausländerfeindlicher Übergriffe (z. B. Solingen, Rostock, Mölln) und politischer Diskussionen um eine Verschärfung der Asylgesetze. Dabei fällt auf, dass die jüdischen Einwanderer in der öffentlichen Diskussion im Gegensatz zu Asylbewerbern nicht unter den Generalverdacht gerieten, den deutschen Sozialstaat ausnutzen zu wollen.
Das, was als spontane Auswanderung begonnen hatte, entwickelte sich zu einem Zuwanderungsprozess, den das Nicht-Einwanderungsland Deutschland bis dato so nicht gekannt hatte. Dass diese Zuwanderung von historischer Verantwortung geprägt ist, unterscheidet diese Migrantengruppe von anderen. Die Möglichkeit, russischen Juden Zuflucht zu gewähren, wurde in Deutschland als Chance zur Wiedergutmachung und öffentlichkeitswirksame Versöhnung wahrgenommen. Im Jahr 2002 sind bereits mehr Juden aus den GUS-Ländern nach Deutschland als nach Israel oder in die USA eingewandert. Diese Art der Zuwanderung hat das jüdische Leben in Deutschland von Grund auf verändert und auch diverse Probleme nach sich gezogen.
Verschiedene wissenschaftliche Studien haben die Auswanderungsmotive der jüdischen Zuwanderer untersucht. Einig sind sich alle Autoren darüber, dass ökonomische Gründe sowie die besorgniserregende Unsicherheit angesichts der instabilen politischen und wirtschaftlichen Situation in der ehemaligen Sowjetunion eine große Rolle bei der Auswanderungsentscheidung spielen. Auch die Angst vor ökologischen Krisen wie Tschernobyl und vor der zunehmenden Kriminalität spielt als Motiv eine Rolle. In den vergangenen Jahren kam zudem auch der Wunsch nach Familienzusammenführung als Begründung hinzu. Antisemitismus als Auswanderungsgrund spielt zwar auch eine, aber nicht die größte Rolle. Hinzu kommen das im Gegensatz zu Israel angenehme, gemäßigte Klima und die Tatsache, dass Deutschland in Europa und damit nicht weit entfernt von der Heimat liege.
Aus diesen Motiven lässt sich bereits das erste Problem herauslesen: Den jüdischen Zuwanderern wird oftmals vorgeworfen, mit einer Anspruchshaltung nach Deutschland einzureisen. Deutschland gilt in der ehemaligen Sowjetunion als das Land der Dichter und Denker, im positiven Sinne des Begriffs wird es als „europäisch“ bezeichnet, es wird aber auch als reich wahrgenommen. Die Erwartungen der Einwanderer sind oft unrealistisch: Sie erhoffen sich z. B. eine bessere ökonomische Stellung – die Bittsteller-Position, die sie stattdessen hierzulande erfahren, trifft sie unvorbereitet und führt zuweilen zu Lethargie oder psychosomatischen Erkrankungen. Die Lebensziele der Einwanderer unterscheiden sich zwar häufig gar nicht von denen der deutschen Gesellschaft, aber sie sind vom kommunistischen Erbe belastet: Es ist für Zuwanderer oft schwer, sich an westliche Verhaltensweisen anzupassen.
Der größte Teil der jüdischen Zuwanderer stammt aus dem städtischen Milieu und ist überdurchschnittlich hoch gebildet. Die meisten haben naturwissenschaftliche oder technische Berufe, sie sind entweder Ingenieure, Informatiker, Ärzte oder aber auch Künstler. Diese auffallend akademisch/künstlerische Berufstruktur geht jedoch mit einem gleichzeitig überdurchschnittlich hohen Einwanderungsalter einher: Der durchschnittliche Zuwanderer kommt mit 44,3 Jahren nach Deutschland, 27 Prozent der Zuwanderer sind über sechzig Jahre alt. Dies ist auch ein Grund dafür, dass die Arbeitslosenzahlen unter den Kontingentflüchtlingen alarmierend hoch sind. Man geht davon aus, dass über drei Viertel der Zuwanderer arbeitslos sind, während drei Viertel der arbeitenden Juden aus den GUS-Staaten einen Job ausüben, der nicht ihrem Beruf entspricht und unter dem jeweiligen Ausbildungsniveau liegt. Hierfür gibt es diverse Gründe. Zusätzlich zur momentan allgemein schwierigen Arbeitsmarktlage und dem hohen Durchschnittsalter der Zuwanderer sind an dieser Stelle ihre fehlenden marktwirtschaftlichen Erfahrungen sowie mangelnde Sprachkenntnisse zu nennen. Hinzu kommt die Tatsache, dass der deutsche Staat dieses „Greencard-Potenzial“ nicht nutzt und die meisten akademischen Abschlüsse nicht anerkennt, sodass die Wahrscheinlichkeit, einen der Ausbildung entsprechenden Job zu finden, sehr gering ist. Bedingt durch die Versorgungssicherheit durch den deutschen Staat ist es nur natürlich, dass die Anreize zur Arbeitssuche sinken. Einzelne Zuwanderer gehen illegalen Erwerbstätigkeiten nach oder suchen sich russischsprachige Arbeitgeber. Auf der anderen Seite sind aber viele auch dazu bereit, ihren Arbeitsmarktwert durch Praktika oder Umschulungen zu verbessern. Zwischen 75 und 80 Prozent der Zuwanderer sind auf soziale Leistungen des Staates angewiesen.
Ein weiteres Problem stellen die mangelnden Deutschkenntnisse der Zuwanderer dar und die partiell kaum vorhandene Bereitschaft, diese zu erwerben. Studien ergeben, dass nur etwa 15 Prozent der Zuwanderer die deutsche Sprache beherrschen. Hieraus resultiert die Tatsache, dass sie oft nur geringen Kontakt zu Deutschen haben. Es entstehen russische Kulturenklaven, so genannte „Russian Mini States“, die zu einer Abschottung von deutschem Leben führen. Mit dieser sprachlichen und sozialen Isolation gehen ein hoher Statusverlust und als dessen Konsequenz psychologische Probleme einher. Wie andere Migranten geben die Kontingentflüchtlinge ihre Heimat auf, finden in Deutschland aber nicht zwangsläufig eine neue.
Problematisch gestaltet sich auch das Zusammenleben in den jüdischen Gemeinden. Da Judentum in der ehemaligen Sowjetunion nicht als Religion, sondern als Nationalität galt und Religionsausübung vom sozialistischen Regime verhöhnt wurde, praktizierten die meisten Zuwanderer die jüdische Religion nicht und bringen höchstens kulturelles Wissen über das Judentum mit. Hinzu kommt die Tatsache, dass ein Teil der Zuwanderer gar nicht jüdisch ist und somit noch weniger über das Judentum weiß. Dazu gehören einerseits nichtjüdische Familienangehörige, andererseits aber auch die so genannten „Fälscher“, die sich die jüdische Zugehörigkeit in der ehemaligen Sowjetunion „gekauft“ haben. Darunter fallen auch diejenigen, die „nur“ einen jüdischen Vater haben. Die Auswanderer empfinden es fast schon als makaber, dass gerade diejenigen, die in Russland als Juden (und „Jude“ ist dabei als Schimpfwort gemeint) galten, hier in den Gemeinden zu hören bekommen: „Herr Grinblum, Sie sind kein Jude.“ Denn gerade die Kinder eines jüdischen Vaters, die also Namen wie Grinblum, Rosenbaum oder Mandelstein trugen und nicht Iwanow, wurden in Russland an Universitäten nicht zugelassen, in der Öffentlichkeit ausgelacht und bei der Beförderung übergangen.
Die alteingesessenen Gemeindemitglieder belächeln einerseits oft das so genannte „Küchenjudentum“ der Zuwanderer, andererseits werfen sie ihnen vor, die Gemeinden zu „russifizieren“. Dieser Vorwurf bezieht sich z. B. auf die Tatsache, dass viele Veranstaltungen in den jüdischen Gemeinden in russischer Sprache abgehalten werden. Die Gemeinden sind mit den unerwarteten Strömen von Kontingentflüchtlingen überfordert, eine Minderheit hat plötzlich die Aufgabe, eine Mehrheit zu integrieren. Zu Konflikten zwischen Alteingesessenen – zu einem Großteil Holocaust-Überlebende und deren Nachfahren – und Neueinwanderern führt auch die Tatsache, dass ältere Zuwanderer, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben, sich oft als dessen Sieger sehen und daher auch kein Opfer-Täter-Verhältnis zu Deutschen entwickelt haben. Den russischen Juden wird also vorgeworfen, sie sähen die Gemeinden nur als soziale Anlaufstellen und russische Kulturclubs.
Auf der anderen Seite widerstrebt es den Zuwanderern, dass sie sowohl in den Gemeinden als auch von den deutschen Behörden als Russen betrachtet werden. Sie, die in der Sowjetunion als Juden galten und wegen dieser Tatsache diskriminiert worden sind, werden hierzulande als Russen klassifiziert. Für viele findet in Deutschland eine Rückbesinnung auf die jüdische Religion statt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einwanderung von russischen Juden sich keinesfalls unproblematisch gestaltet, auch wenn sie das Ziel einer Renaissance des jüdischen Lebens in Deutschland zweifellos erreicht hat – wenn vielleicht auch nicht in der Form, wie es sich die Initiatoren erträumt haben.
Fußnote:
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„Halacha“ (vom hebräischen Verb für „gehen“) bezeichnet den auf den Geboten der Thora aufbauenden Lebenswandel (Anm. d. Redaktion). ↩︎