Serbien und seine Nachbarn

aus OWEP 4/2008  •  von Thomas Bremer

Der Verfasser ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Im sozialistischen Jugoslawien gab es ein Scherzwort, wonach der Staat „brigama“ (oft geschrieben: B.R.I.G.A.M.A.) umgeben sei. Das Wort bedeutete in der Landessprache „mit Sorgen“ und war aus den Anfangsbuchstaben der sieben Nachbarländer Jugoslawiens zusammengesetzt – Bulgarien, Rumänien, Italien, Griechenland, Albanien, Ungarn (Madjarska) und Österreich (Austrija). Schulkinder nutzten diese Eselsbrücke zuweilen, um sich die Nachbarstaaten zu merken. Mit jedem dieser Länder gab es ein politisches Problem: Während die Bulgaren die jugoslawischen Makedonen als Westbulgaren betrachteten, gab es mit Rumänien Schwierigkeiten wegen der gegenseitigen Minderheiten im Banat. Mit Italien hatte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg um Triest und Istrien gestritten, später um Fischereirechte, mit Griechenland um die Teilrepublik Makedonien, die auch heute, als selbstständiger Staat, noch ein Gegenstand politischer Auseinandersetzung ist. Albanien unterstellte man die Unterstützung separatistischer Tendenzen der Kosovo-Albaner, den Ungarn revisionistische Absichten hinsichtlich der zu Serbien gehörenden Provinz Wojwodina, die bis 1918 ungarisch gewesen war. Österreich schließlich warf man vor, die slowenische Minderheit in Kärnten und in der Steiermark nicht angemessen zu behandeln.

Fragt man nach den Nachbarn des heutigen Serbien, so ergibt sich das Problem, dass nicht einmal die Grenzen dieses Staates klar sind. Eine Reihe von Staaten hat inzwischen Kosovo als selbstständigen Staat anerkannt, andere halten sich damit zurück; auch die serbische Regierung unterstreicht zwar ihren Willen, mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, fordert aber zugleich die territoriale Integrität Serbiens, und das heißt: einschließlich des Kosovo. Doch auch ungeachtet dieses Problems hat Serbien in den letzten Jahren mehrfach seine staatliche Form geändert. Nach dem Zerfall des sozialistischen Jugoslawien bildete es zusammen mit Montenegro die „Bundesrepublik Jugoslawien“, dann den Doppelstaat „Serbien-Montenegro“, und heute ist es ein unabhängiger Staat, weniger aus eigenem Willen als vielmehr dadurch, dass alle anderen Staaten die staatliche Gemeinschaft mit Serbien aufgekündigt haben.

Die Republik Serbien wird heute von folgenden Staaten umgeben: Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Makedonien, Kosovo, Montenegro, Bosnien und Herzegowina und Kroatien. Drei Nachbarstaaten sind identisch mit den früheren Anrainern, und zu einem von ihnen, Rumänien, ist die Grenze identisch mit der früheren Grenze zu Jugoslawien. Die übrigen Nachbarn sind aus der jugoslawischen Konkursmasse hervorgegangen. Im Folgenden sollen die Beziehungen Serbiens zu seinen Nachbarn betrachtet werden.

Ungarn hat nach dem Ersten Weltkrieg erheblich an Territorium verloren, sodass heute überall jenseits seiner Grenzen Ungarn leben. Die verschiedenen Regierungen in Budapest haben die Auslandsungarn immer im Blick; diese haben die Möglichkeit, relativ einfach einen ungarischen Pass zu erwerben und sich auch in Ungarn anzusiedeln. Für die Ungarn aus der Wojwodina hatte diese Möglichkeit große Attraktivität, da sie so schon vor dem EU-Beitritt Ungarns einfach Zugang zu den Ländern der Europäischen Union hatten. Mit Rücksicht auf die ethnischen Ungarn in Serbien hat die ungarische Regierung auch nie eine Visumpflicht für Serben eingeführt. Daher war Ungarn in der Zeit des Embargos gegen Serbien eines der wenigen Länder, in das serbische Staatsbürger relativ einfach reisen konnten.

Die Bevölkerungsstruktur der Wojwodina hat sich in den Kriegsjahren erheblich geändert. Waren 1991 noch knapp 17 Prozent der Bewohner Ungarn, so sind es jetzt nur noch etwas mehr als 14 Prozent. Grund dafür sind die Abwanderung der Ungarn sowie die Ansiedlung von Serben, vor allem von solchen, die wegen der Kriegsereignisse aus Kroatien, Bosnien und Herzegowina und dem Kosovo fliehen mussten oder vertrieben wurden. Wegen dieser veränderten demographischen Situation wird zuweilen beklagt, dass das ursprüngliche gutnachbarliche Verhältnis zwischen Serben, Ungarn und den vielen anderen Nationen in der Wojwodina (Slowaken, Kroaten, Deutsche, Tschechen und viele weitere) nicht mehr so unbelastet sei wie früher. Mit dieser Vielfalt von Nationen geht eine Vielfalt von christlichen Kirchen und Bekenntnissen einher. Gerade Vertreter der Kirchen betonen jedoch häufig, dass man in guten Beziehungen miteinander lebe. Es gibt in der Wojwodina weniger separatistische als eher föderalistische Bewegungen, deren Anführer aber vor allem Serben sind, die damit die regionale Besonderheit der Region betonen.

Der nächste Nachbar im Uhrzeigersinn ist Rumänien. Der jugoslawische Staatschef Tito und sein rumänischer Kollege Ceauşescu unterhielten zwar gute Beziehungen, die von einem gewissen Widerstand gegen die sowjetische Dominanz ebenso geprägt waren wie von feudalen Jagdausflügen, doch gab es auch Verstimmungen zwischen beiden Ländern. Im serbischen Teil des Banats lebt eine kleine rumänische Minderheit. Das größte gemeinsame Projekt aus sozialistischen Zeiten ist die Stauung der Donau und das Wasserkraftwerk „Eisernes Tor“, das den Fluss hinter Belgrad staut. In der Zeit des Embargos gegen Serbien war der Weg über die Donau, die teilweise mehrere Kilometer breit ist, ein beliebter Weg für den Schmuggel von Zigaretten, Benzin und anderen einträglichen Gütern.

Wo die Donau den serbischen Raum verlässt, beginnt die Grenze zu Bulgarien. Auf der serbischen Seite gibt es Bulgaren sowie Angehörige anderer Ethnien, die eine dem Bulgarischen sehr nahe Sprache sprechen, sich aber nicht als Bulgaren verstehen. Die Beziehungen zwischen beiden Ländern lassen sich heute als korrekt und problemlos beschreiben. Alle bisher genannten Nachbarländer Serbiens waren im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Achsenmächte und hatten Teile des damaligen Königreichs Jugoslawien besetzt. Auch diese historischen Umstände tragen dazu bei, dass das serbische Verhältnis zu diesen Ländern nicht ungetrübt ist; bei Bulgarien gibt es zudem noch ältere Belastungen, nämlich aus den Zeiten der Balkankriege vor dem Ersten Weltkrieg.

Mit Makedonien grenzt ein jugoslawischer Nachfolgestaat an Serbien, und zwar (neben Montenegro) der einzige, der seine Selbstständigkeit ohne kriegerische Ereignisse erlangt hat. Traditionell bezeichneten die Serben Makedonien als Süd-Serbien und betrachteten die Sprache als serbischen Dialekt, was linguistisch keineswegs richtig ist. Makedonien hat sich von Anfang an sehr bemüht, die Bedingungen der internationalen Gemeinschaft zu erfüllen, und die kleine Republik wäre wohl schon Mitglied der EU, wenn Griechenland nicht wegen des Namensstreits die Aufnahme blockieren würde.

In Makedonien gibt es eine orthodoxe Kirche, der die Mehrheit der Bevölkerung angehört und die sich 1967 für autokephal, also selbstständig, erklärt hat. Bis dahin gehörten die Orthodoxen Makedoniens zum serbischen Patriarchat, das diese Selbstständigkeit ebenso wenig anerkannt hat wie irgendeine andere orthodoxe Kirche. Doch haben sowohl der jugoslawische Staat als auch die jetzige Republik Makedonien die Kirche immer massiv unterstützt, um damit die Existenz der makedonischen Nation (die es auch erst seit 1945 offiziell gibt) gegen serbische Ansprüche zu unterstreichen. Das führt dazu, dass andere orthodoxe Kirchen in Makedonien nicht zugelassen sind, während sich westliche Konfessionen relativ großer Freiheit erfreuen und einer der früheren Staatspräsidenten sogar Methodist war. Doch wird etwa serbischen Klerikern, die mit dem Auto nach Griechenland unterwegs sind, die Durchfahrt verweigert, wenn sie in Amtstracht sind, und ein Bischof der serbischen Kirche wurde in Makedonien sogar zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, die er zum Teil absitzen musste. Diese Ereignisse belasten nicht nur die Beziehungen zwischen den Kirchen, sondern auch die zwischen beiden Staaten.

Grenzt Serbien im Südwesten an das Kosovo oder an Albanien? Allein die Antwort auf diese Frage verrät eine grundsätzliche politische Position, nämlich hinsichtlich der Frage, ob Kosovo zu Serbien gehört oder nicht. Während immer mehr Regierungen das Kosovo als eigenen Staat anerkennen, gibt es gewichtige juristische Gründe für die Annahme, dass dieser Schritt eigentlich völkerrechtswidrig war und nur deswegen vollzogen wurde, weil er politisch gewollt wurde. Das russische Abwarten und die Drohung in Bezug auf die Anerkennung abtrünniger Kaukasusrepubliken durch Russland sollte man nicht so sehr unter der russischen Solidarität mit Serbien subsumieren, sondern eher als eine weitere Instrumentalisierung der schwierigen Situation Serbiens durch Russland. Bei all dem dürfen die massiven Menschenrechtsverletzungen nicht übersehen werden, die Serbien vor 2001 im Kosovo begangen hat. Ob sie das Eingreifen der NATO rechtfertigen konnten, ist ein großes Problem, weil damit indirekt die Frage nach dem „gerechten Krieg“, die eigentlich schon als erledigt betrachtet wurde, neu auf die Tagesordnung gekommen ist.

Auch zu jugoslawischen Zeiten war die Beziehung Serbiens zu Albanien sehr problematisch. Albanien propagierte unter Enver Hodscha einen Radikal-Kommunismus und lehnte das jugoslawische System als „revisionistisch“ ab. Die jugoslawischen Behörden verdächtigten Tirana, separatistische Bestrebungen im Kosovo zu unterstützen. Da das mittelalterliche Zentrum Serbiens südlicher, nämlich auf dem heutigen Gebiet des Kosovo, lag, wurden die Albaner von den Serben häufig als expansionistisch wahrgenommen, und sie wurden als illegitime Bewohner eines „eigentlich“ serbischen Gebietes betrachtet. Aufgrund der politischen und militärischen Entwicklungen gibt es heute kaum Beziehungen zur Regierung des Kosovo; dagegen werden die Serben im Nordteil von Mitrovica aus Belgrad stark unterstützt.

Mit seinem Nachbarn Montenegro war Serbien bis vor kurzer Zeit noch in einer staatlichen Gemeinschaft verbunden. Doch schon vor der Unabhängigkeitserklärung des Adrialandes gab es dort starke Tendenzen, von Belgrad wegzukommen und sich als demokratischer und nicht nationalistischer Staat zu profilieren. Tatsächlich aber ist die Bevölkerung Montenegros gespalten, nämlich in einen Teil, der sich als Serben betrachtet, und einen anderen, etwas größeren, der sich als Montenegriner definiert. Während Montenegro im Krieg gegen Kroatien noch aktiv mitwirkte, dominierte später die montenegrinische Richtung, deren Anführer allerdings mit ihrer Politik häufig auch massive eigene wirtschaftliche Interessen verbanden. Jedenfalls setzte sich der kleine Staat mehr und mehr von Serbien ab, führte eine eigene Währung ein (die an die D-Mark und später an den Euro gekoppelt war), verbesserte die Beziehungen zu Kroatien und dem Kosovo und erklärte schließlich seine Unabhängigkeit. Schon vorher hatte sich eine montenegrinische orthodoxe Kirche konstituiert, die zwar kirchenrechtlich in jeder Hinsicht irregulär ist und von keiner anderen Kirche anerkannt wird, aber durch die Regierung und einen Teil der Bevölkerung eine gewisse Unterstützung erfährt. Die kanonische orthodoxe Kirche im Lande ist eine Metropolie innerhalb des serbischen Patriarchats.

Mit den beiden verbleibenden Nachbarn, Bosnien und Herzegowina und Kroatien, verbindet Serbien nicht nur die gemeinsame jugoslawische Zeit, sondern vor allem die Geschichte der Kriege in den neunziger Jahren. Die Grenze zu Bosnien und Herzegowina wird zu einem großen Teil durch den Fluss Drina gebildet, der nach Auffassung serbischer Nationalisten nicht die Grenze Serbiens sein dürfe, sondern sein Rückgrat (also seine Mitte). Auf der serbischen Seite liegt die Region Sandschak, in der viele Bosniaken leben; auf der anderen Seite der Grenze lebten vor dem Krieg Serben in Dörfern und kleinen Orten, Bosniaken vor allem in den Städten – das hängt mit der Geschichte der osmanischen Zeit zusammen, als Muslime als Händler, Handwerker und Verwaltungsleute die Städte bewohnten, während die Bauern Christen waren. Die Massaker des Jahres 1995 (vor allem mit dem Namen Srebrenica verbunden) fanden in diesen Gebieten statt; die Belagerung von Städten mit vorwiegend muslimischer Bevölkerung durch serbische Truppen war ein häufiges Erscheinungsbild während des Krieges, am ausgeprägtesten in Sarajewo.

Noch immer sind die Beziehungen zwischen beiden Staaten problematisch. Bosnien besteht aus zwei „Entitäten“, der „Republika Srpska“ und der „Bosniakisch-kroatischen Föderation“. Der serbische Landesteil wird von vielen seiner Bewohner (die als Folge des Krieges in ihrer großen Mehrheit Serben sind) als künstliches Gebilde verstanden, das eigentlich in einer staatlichen Einheit mit Serbien stehen sollte, zumal es an Serbien grenzt. Der Widerstand gegen den bosnischen Staat wird auch von höchsten Repräsentanten dieser Entität formuliert. In manchen Überlegungen war sogar ein Tausch der Republika Srpska gegen das Kosovo in Erwägung gezogen worden. Heute gibt es zwar diplomatische Beziehungen und Reisefreiheit, aber die Wunden des Krieges sind keineswegs verheilt. Besonders problematisch ist dabei, dass keine Übereinstimmung hinsichtlich der Frage der Kriegsschuld und auch nicht in Bezug auf den Kriegsausgang besteht: Beide Seiten fühlen sich als ungerecht behandelte Opfer eines Krieges, in dem sie sich nur gegen die anderen verteidigt haben.

Schließlich bleibt noch der Nachbar Kroatien, mit dem Serbien eine relativ kurze Grenze, aber eine lange Nachbarschaftsgeschichte verbindet. In Kroatien lebt bis heute serbische Bevölkerung, allerdings zu einem geringeren Anteil als vor dem Krieg; aus historischen Gründen konzentrierte sich diese Minderheit vor allem auf die Grenzgebiete zu Serbien und zu Bosnien und Herzegowina. Ein großer Rückstand in der Modernisierung, schwierige wirtschaftliche Verhältnisse sowie historische Belastungen machten diese Bevölkerung anfällig für nationale Propaganda aus Belgrad und aus der eigenen Mitte, sodass mit der beginnenden Auflösung des jugoslawischen Gesamtstaates hier 1990/91 die ersten Auseinandersetzungen zwischen den lokalen Serben, unterstützt durch Belgrad und vor allem durch die jugoslawische Volksarmee, und den kroatischen Behörden stattfanden. Die Serben riefen eigene „Staaten“ aus, vor allem die „Republik Serbische Krajina“. Erst im Zusammenhang mit dem Ende der militärischen Aktionen in Bosnien und Herzegowina konnte Kroatien die Kontrolle über diese Teile seines Staatsgebietes zurückgewinnen. Ob der Abzug des größten Teils der serbischen Bevölkerung in die serbischen Gebiete von Bosnien sowie nach Serbien „Flucht“ oder „Vertreibung“ war, wird in der kroatischen und serbischen Öffentlichkeit bis heute konträr beurteilt.

Nach dem Krieg haben sich die Beziehungen langsam wieder normalisiert. Allerdings hat Kroatien ein natürliches Interesse, sich mehr nach Nordwesten, also nach „Europa“, zu orientieren, während Serbien wegen seiner Politik und seiner internationalen Isolierung kein attraktiver Partner ist. Nach wie vor sind die wechselseitigen Beziehungen stark von Emotionen geprägt, was sich bei internationalen Sportbegegnungen ebenso zeigt wie an den Reaktionen auf politische Ereignisse – nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wurde in Belgrad von Demonstranten neben der amerikanischen Botschaft auch die kroatische angegriffen, obwohl Kroatien mit diesen Ereignissen nichts zu tun hatte.

Serbien ist also ein Staat, der zu fast allen Nachbarn problematische Beziehungen hat, die entweder mit komplizierten Bevölkerungsverhältnissen oder mit der schwierigen jüngeren Vergangenheit zusammen hängen. Dabei ist Serbien aufgrund seiner Größe und seiner geographischen Lage eigentlich dazu prädestiniert, eine Mittlerfunktion zu übernehmen und als regionale Ordnungsmacht zu fungieren – wobei „Macht“ nicht im Sinne von militärischer Stärke oder politischer Überordnung missverstanden werden darf. Die seit Juni 2008 amtierende neue serbische Regierung hat sich – trotz massiver Widerstände aus der Bevölkerung – dazu entschlossen, das Land wieder in die Gemeinschaft der europäischen Staaten zu führen. Ob dieser Kurs gelingen wird und ob er der serbischen Bevölkerung zum Vorteil gereicht, wird vor allem von dieser selbst abhängen.