Karelien – eine oder mehrere Regionen?
Karelien (karelisch und finnisch Karjala, russisch Карелия [Karelija] liegt in Nordosteuropa und verteilt sich auf Finnland und Russland. Der wesentlich größere russische Teil (ca. 85 Prozent von ca. 200.000 km²) bildet die Republik Karelien (vom Ladogasee und Onegasee bis zum Weißen Meer) mit ca. 700.000 Einwohnern (Hauptstadt: Petrozavodsk, 265.000 Einwohner). Die Bevölkerung setzt sich überwiegend aus Russen, Kareliern, Samen sowie kleineren Gruppen (Wepsen, Finnen u. a. ) zusammen; im finnischen Teil leben große Teile der infolge des Zweiten Weltkriegs vertriebenen 400.000 Einwohner Ostkareliens. Landschaftlich zeichnet sich die dünnbesiedelte Region durch zahlreiche Seen und große Wälder aus. – Historisch bildete Karelien nie eine Einheit, sondern war immer zwischen Schweden bzw. Finnland und Russland geteilt. Die heutige Grenzziehung besteht seit Ende des Zweiten Weltkriegs.
Jedem, der schon einmal etwas mit Finnland zu tun hatte, sagt der Name „Karelien“ etwas. Viele waren schon einmal in Südkarelien und seiner „Hauptstadt“ Lappeenranta, einige haben Joensuu, das Zentrum Nordkareliens, besucht. Vielleicht kennt auch manch einer Ilomantsi, wo die letzten Sänger des finnischen Nationalepos Kalevala noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dessen Verse beherrschten. Jene, die sich mit der Vergangenheit und Gegenwart Finnlands auskennen, haben vielleicht schon von einer Vereinigung ehemaliger Bewohner des Vorkriegs-Finnisch-Kareliens gehört, die kürzlich noch immer ihren Wunsch zum Ausdruck brachten, Karelien von den Russen zurückzuerhalten, die es im Laufe des Zweiten Weltkrieges annektiert haben.
Sprachliche und begriffliche Vielfalt
All dies ist kompliziert genug, um Verwirrung über die Bedeutung des Namens „Karelien“ zu stiften. So sprechen die Menschen im finnischen Südkarelien (Lappeenranta, Imatra usw.) den so genannten karelischen Dialekt, der ganz anders als der im finnischen Nordkarelien klingt. Tatsächlich aber sprechen die meisten Menschen im finnischen Nordkarelien überhaupt keinen karelischen Dialekt, sondern eindeutig den Dialekt der historischen Region Savo, der der Sprache großer Teile Ostfinnlands stark ähnelt. Die meisten Flüchtlinge (oder Migranten, finnisch „siirtolaiset“), die aus dem Finnisch-Karelien der Vorkriegszeit stammen (der karelischen Landenge und den Gebieten rund um den Ladogasee), sprechen den karelischen Dialekt, der in Lappeenranta und Imatra gesprochen wird. Linguisten stellten fest, dass dieser dem Savo-Dialekt sehr nahe kommt, wobei eine Differenzierung sehr leicht fällt. Er ist wesentlich „heller“, „fließender“ und „musikalischer“. Traditionell wird auch vermutet, dass die Sprecher des „karelischen“ Dialekts einen fröhlichen, verspielten Charakter haben und bestimmte künstlerische Talente besitzen.
Das finnische „Nordkarelien“ und das finnische „Südkarelien“ sind also ganz unterschiedlich und weder durch einen gemeinsamen Dialekt noch durch eine gemeinsame Geschichte miteinander verbunden. Südkarelien war seit dem 13. Jahrhundert ein Teil von Finnland, Nordkarelien jedoch wurde vom schwedischen Reich, zu dem Finnland seit dem Mittelalter gehörte, erst im 17. Jahrhundert annektiert. Aber dies ist nur ein Teil der Geschichte. Zufällig gibt es auch in Russland ein Karelien – vielmehr mehrere „Karelien“. Eines, das jeder kennt, nennt sich heutzutage Karelische Republik (Respublika Karelija). Es ist das Staatsgebiet jener „karelischen“ Volksstämme, die die nordrussischen Wälder zwischen dem Ladogasee und dem Weißmeer seit Menschengedenken bewohnen. Ihr Schicksal hängt mit dem der orthodoxen Russen zusammen, sie befanden sich niemals unter schwedischer oder finnischer Herrschaft.
Ein weiteres „Karelien“ befindet sich im Bezirk Twer, einer Region unweit von Moskau, in die orthodoxe Bewohner aus den schwedischen Territorien im 17. Jahrhundert auswanderten, nachdem ein Teil Russisch-Kareliens vom schwedischen Staat annektiert worden war. Diese Menschen wollten damit der zwangsweisen Bekehrung zum Luthertum entgehen.
Aber auch das ist noch nicht alles. Das Gebiet der heutigen Karelischen Republik ist linguistisch gesehen sehr vielfältig. So ist die karelische Sprache kein finnischer Dialekt, sondern durchaus eigenständig innerhalb der finno-ugrischen Sprachfamilie und setzt sich aus drei Hauptkomponenten zusammen: im Norden sprechen die Menschen das eigentliche Karelisch (varsinaiskarjala), im Süden die Lyydi- und Livvi-Dialekte, die ihrerseits vom Wepsischen1 und Russischen beeinflusst sind.
Diese Übersicht verdeutlicht, dass „Karelien“ und „karelisch“ viele verschiedene Dinge bezeichnen. Ein vereintes Karelien gab es nie und wird es wahrscheinlich auch nie geben. Wenn wir dem Wort „Karelien“ Beiworte wie „Finnisch, Nord/Süd“ oder „Russisch/Ost“ hinzufügen, so werden wir das Wort vermutlich missbräuchlich verwenden. Sehr häufig geschieht es, dass Menschen – selbst solche, die in Finnland oder Russland leben – einfach nicht die Fülle an Bedeutungen verstehen, die das Wort Karelien trägt. Statt dessen denken die Menschen in den meisten Fällen, dass es ein vereintes Karelien gibt oder gab. Missverständnisse, politische wie auch wissenschaftliche Streitigkeiten sind die Folge.
Die „Karelien-Frage“ als Politikum
Als der Gründer der schwedischen Wasa-Dynastie, Gustav I., 1560 starb, enthielt der Festschmuck zu seinem Begräbnis unter anderem das karelische Wappen, das zwei bewaffnete Hände zeigte, die gegeneinander gerichtet sind. Eine hielt ein gerades – westliches – Schwert, die andere einen – morgenländischen – gebogenen Säbel. Die Waffen der Karelier (natürlich des Schwedisch-Kareliens) symbolisierten den Konflikt zwischen Ost und West an der östlichen Grenze des Königreichs Schweden. Seit 1323 verlief die Grenze zwischen Schweden und Russland vom Finnischen bis zum Bottnischen Meerbusen, sodass finnisch sprechende Volksstämme beiderseits der Grenze lebten. Jene, die unter russischer Herrschaft standen, waren orthodoxe Christen, die auf der schwedischen Seite Katholiken und seit dem 16. Jahrhundert Lutheraner.
König Gustav II. Adolf (reg. 1611-1632) gewann im Krieg gegen Russland einen Großteil des russischen Territoriums, der damals von orthodoxen Kareliern bewohnt wurde, die ganze karelische Landenge und das Umland des Ladogasees. Schweden hatte damit zehntausende neuer Staatsbürger, die sich zum orthodoxen Glauben bekannten. Wie oben erwähnt, wanderte ein Teil dieser Bürger nach Russland aus, einige blieben jedoch. Auf diese Weise kam Finnland zu seiner orthodoxen Bevölkerung. Diese Menschen sprachen ebenfalls die karelische Sprache (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Dialekt) und waren größtenteils Bewohner der Nordseite des Ladogasees. 1809 wurde ganz Finnland russisches Großfürstentum.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich dann unter Duldung der russischen Obrigkeit ein finnisches Nationalbewusstsein, das als Gegengewicht zu separatistischen Bestrebungen der schwedischen Minderheit innerhalb Finnlands angesehen wurde. In der romantischen Atmosphäre jener Zeit sahen viele Finnen im rückständigen, archaischen Karelien ein halbmythisches „Heiliges Land“, das einige zentrale Elemente des ursprünglichen finnischen Nationalgeistes zu repräsentieren schien. So entstand die Idee eines „Großfinnlands“, also einer Vereinigung des eigentlichen Finnlands mit dem orthodoxen Ostkarelien.
In den Wirren des Russischen Bürgerkrieges (ab 1917) unternahm Finnland einige Anstrengungen, um Ostkarelien zu gewinnen, jedoch letztlich erfolglos. Der Friedensvertrag von Tartu (1920) beließ Ostkarelien bei Russland, jedoch wurde ihm nationale Autonomie versprochen.
Aufstieg und Niedergang des finnisch-sowjetischen Kareliens
Im Sommer 1920 wurde eine „Karelische Arbeiter-Kommune“ gegründet, mit Petrozavodsk als Hauptstadt. Damit hatten die Russen ihr Versprechen, ein autonomes Karelien einzurichten, erfüllt. Nun gehörten die Karelier einer einzigen administrativen Einheit an, ein nationales Sowjet-Karelien war entstanden. Allerdings waren die führenden Persönlichkeiten hauptsächlich finnischer und nicht karelischer Nationalität. Zu erklären ist dies als Folge der Flucht zehntausender bolschewistisch gesinnter Finnen nach Sowjetrussland nach dem Finnischen Bürgerkrieg von 1918, von denen nach und nach viele in Sowjet-Karelien angesiedelt wurden, das als Basis für die erwartete Revolution in Finnland und ganz Skandinavien dienen sollte.
Von der Weltwirtschaftskrise in den frühen dreißiger Jahren war auch Finnland stark betroffen, während die Sowjetunion wirtschaftlich florierte und ausländische Arbeitskräfte anwarb, um die Errichtung der „sozialistischen Gesellschaft“ zu forcieren. Nicht weniger als 15.000 Menschen aus Finnland überschritten damals die Grenze Richtung Osten. Die meisten von ihnen taten dies illegal; größtenteils ließen sie sich im „finnischen“ Ostkarelien nieder. Insgesamt stieg die Zahl der Finnen in Sowjet-Karelien von rund 2.500 im Jahre 1926 bis auf 20.000 Mitte der dreißiger Jahre.
Zufällig war die Führung in Karelien, die fest in den Händen finnischer Immigranten lag, der Meinung, dass die Karelier als finnischer Volksstamm Dialekte der finnischen Sprache sprächen. Deshalb wurde die finnische Sprache in Schulen, der Literatur und anderen kulturellen Institutionen eingeführt. In der Presse und innerhalb der Behörden fanden Finnisch und Russisch Verwendung. Die Gründe waren offensichtlich: Ein beträchtlicher Anteil der Einwohner in Karelien sprach inzwischen Finnisch. Während es keine einheitliche karelische Sprache gab, war das Finnische als Hochsprache entwickelt und einsatzbereit. Fast nichts wurde in Karelisch veröffentlicht, und es wäre äußerst schwierig gewesen, eine gesamte nationale Kultur auf Karelisch einzurichten.
Karelisch: eigene Sprache oder nur Dialekt des Finnischen?
Dennoch sahen nicht alle das Karelische als einen Dialekt der finnischen Sprache an. Der angesehene Linguist Dmitrii Bubrich, Professor in Leningrad und später in Petrozavodsk, betrachtete Karelisch und Finnisch als zwei eindeutig verschiedene Sprachen, so unterschiedlich wie Polnisch und Russisch. Ferner lehrte Bubrich, dass das Finnische die Sprache eines bürgerlichen („bourgeoisen“) Landes wäre, und der führende sowjetische Linguist und Akademiker Nikolai Marr hatte bewiesen, dass alle Sprachen eine Klassennatur besitzen. Wäre es dann richtig, die finnische Sprache als bürgerliches Element in Karelien einzuführen? Offensichtlich nicht. Eine solche Politik könnte nur in die Hände der finnischen Nationalisten spielen, die sich immer noch nach der Angliederung Sowjet-Kareliens an das bürgerliche, „faschistische“ Finnland sehnten. Statt das Finnische weiterzuentwickeln, schlug Dmitrii Bubrich vor, eine einheitliche karelische Sprache zu schaffen, die sowohl in den südlichen und nördlichen Teilen der „Autonomen Republik Karelien“ (so der Name seit 1923) als auch im Bezirk Twer – wo tatsächlich die meisten Karelier lebten – verstanden werden würde.
Bubrichs Ideen erlangten zunächst keine politische Bedeutung, bis dann ab Mitte der dreißiger Jahre die Nationalitätenpolitik in der gesamten Sowjetunion eine völlig neue Richtung einschlug. An die Stelle einer Förderung der einheimischen Bevölkerung und ihrer Sprachen trat eine konsequente Russifizierung. Das Schicksal der Finnen in der Autonomen Republik Karelien war sogar noch brutaler. In der düsteren Zeit zwischen 1937 und 1938 wurden tausende Finnen als mutmaßliche Spione und „Strandräuber“ des sozialistischen Wirtschaftssystems erschossen. Die komplette ehemalige finnische Führung der Republik wurde ermordet, der Gebrauch der finnischen Sprache Ende des Jahres 1937 gänzlich eingestellt. Aufgrund von Massenverhaftungen und Deportationen ging die Zahl der Finnen in Sowjet-Karelien stark zurück; 1939 waren es nur noch etwa 8.000. Das Schicksal der finnischen Nationalität in Sowjet-Karelien schien besiegelt. Finnen hätten – so eine feierliche Proklamation – in Karelien, das zur Familie der Sowjet-Nationen gehörte, in der die Russen die „ältesten Brüder“ waren, nichts zu suchen.
Die neue, von Professor Bubrich entwickelte karelische Sprache, geschrieben mit kyrillischen Buchstaben, erwies sich – wie kaum anders zu erwarten – als ein ziemlich plumpes und kaum gebrauchsfähiges Medium zur kulturellen Entwicklung der Karelier. Niemand war sich über eine angemessene Grammatik und das geeignete Vokabular im Klaren, und die meisten Menschen verstanden die Sprache überhaupt nicht. Ihr Schöpfer fiel in Ungnade und verschwand von der Bildfläche. Zur Regel wurde nun das lexikalische Entleihen aus dem Russischen. Die neue karelische Sprache wurde mehr oder weniger einfach zur russischen, die sich der karelischen Grammatik bediente.
Der Krieg im Winter 1939/1940: Wiederauferstehung des finnischen Volkstums in Sowjet-Karelien
Nur selten erinnern sich die Menschen daran, dass die Sowjetunion während ihres Angriffs auf Finnland am letzten Novembertag 1939 vorgab, nicht der Angreifer zu sein, sondern ein Helfer und Verbündeter der so genannten finnischen „Volksregierung“. Diese war jedoch eine von Moskau gebildete Marionettenregierung. Um zu zeigen, dass der Propaganda auch Taten folgten, unterzeichneten die sowjetische Regierung und die Volksregierung, die Moskau als einzig rechtmäßige Regierung Finnlands ausrief, ein Abkommen, in dem die Sowjetunion die Schenkung eines umfangreichen ostkarelischen Gebietes an Finnland in Aussicht stellte. Offiziell wurde verkündet, dass der „jahrhundertealte Traum der finnischen und karelischen Nationen einer Wiedervereinigung hin zu einem unabhängigen finnischen Staat“ nun endlich zur Wirklichkeit geworden war. Finnland erhielt von der Sowjetunion all jene Teile Sowjet-Kareliens, in denen die karelische Nationalität eine Mehrheit darstellte. Vom ideologischen Standpunkt aus betrachtet und in scharfem Kontrast zu dem, was noch vor einigen Monaten die offizielle sowjetische Grundhaltung gewesen war, galten Finnen und Karelier nun als enge Verwandte mit dem Recht, im gleichen Staat vereint zu sein.
Dieser sowjetisch-finnische Vertrag war keinesfalls ein propagandistischer Kunstgriff. Hätte die Sowjetunion den Krieg gewonnen und wäre sie in der Lage gewesen, mit der Roten Armee in Helsinki einzumarschieren, so wäre das Abkommen ordnungsgemäß ratifiziert und Finnlands Hoheitsgebiet wäre vergrößert worden. Es hätte sich ein „Großfinnland“ unter kommunistischer Schirmherrschaft gebildet, das für immer Bestand gehabt hätte. Statt dessen verlor Finnland an der karelischen Landenge und in Ladoga-Karelien beträchtlich an Territorium. In Finnland heißen diese Landstriche bis heute das „zedierte Karelien“; sie wurden vollständig evakuiert, die gesamte Bevölkerung (über 400.000 Menschen) nach Finnland umgesiedelt.
Was nun in der Sowjetunion geschah, war vielleicht der seltsamste Abschnitt in der gesamten absonderlichen Geschichte Kareliens. Die sowjetische Regierung gliederte das abgetretene, ehemals finnisch-karelische Gebiet nicht an Russland an, sondern an die Autonome Karelische Republik. Außerdem wurde diese Republik nun zum Status einer Sowjetrepublik erhoben, also zu einem scheinbaren Nationalstaat, der im Prinzip auch das Recht auf eine Abspaltung von der Sowjetunion hatte. Aber das Seltsamste von allem war, dass das finnische Volkstum in der neuen Republik unverzüglich wiederbelebt wurde. Professor Bubrichs karelische Sprache wurde nun plötzlich aufgegeben, um nie mehr wieder aufzuerstehen. Schulen stellten erneut ihren Betrieb auf Finnisch um, und die finnische Presse trat wieder in Erscheinung, während die karelische verschwand. Einmal mehr war Finnisch nun die zweite Verwaltungssprache.
Während des finnisch-sowjetischen Krieges von 1941 bis 1944 besetzten finnische Truppen fast das gesamte Gebiet der neuen Karelo-Finnischen Republik. Finnland gab offiziell nicht zu, dass es das Gebiet in sein Territorium eingliedern würde, doch wurde dies tatsächlich vorbereitet. Ursache der offiziellen finnischen Zurückhaltung war die Tatsache, dass die westlichen Alliierten der Sowjetunion keinerlei finnische Gebietsansprüche akzeptierten.
Am Ende des Krieges hatte Finnland ungefähr die gleichen Grenzen, die ihm im Moskauer Friedensvertrag von 1940 blieben. Man sagte, Finnland hätte „Karelien verloren“. Die über 400.000 Einwohner des „abgetretenen Gebietes“ kamen nie wieder in ihre Heimat zurück. Wenn bestimmte finnische Senioren-Organisationen manchmal über ihren Wunsch sprechen, Karelien zurückzubekommen, beziehen sie sich auf dieses verlorene ehemals finnische Gebiet und nicht auf Sowjet-Karelien, das während des Krieges von den Finnen besetzt war, aber niemals zu Finnland gehört hat.
„Karelien“ heute. Wiederherstellen einer geteilten Region oder mehrere Gesellschaften mit gleichem Namen?
Die 1940 mit großem Pomp gegründete Karelo-Finnische Sowjetrepublik existierte ab 1956 nicht mehr. Die Finnen sahen darin ein Zeichen, dass der große östliche Nachbar keine Pläne mehr hatte, sich seinen kleinen Nachbarn einzuverleiben. Dennoch bestanden die finnische Sprache und das kulturelle Leben weiterhin in Sowjet-Karelien, das einmal mehr den Status einer Autonomen Republik erhielt. Die geringe Anzahl der Finnen nahm durch die Zuwanderung ethnischer Finnen aus dem so genannten Ingermanland (Bezirk Leningrad) zu, in dem das Finnische nach 1937 nie mehr wiederbelebt worden ist. Gleichwohl verblieb die Anzahl der Finnen in bescheidener Größe (1959 ungefähr 28.000), und der Schulunterricht in Finnisch wurde erneut eingestellt.
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg schritt die Assimilierung der karelischen und finnischen Minderheiten äußerst rasant voran; sie war die schnellste in der gesamten Sowjetunion. Im Ergebnis ist die „Karelische Republik“, wie sie seit dem Fall der Sowjetunion genannt wurde, fast vollständig russifiziert. Es gibt zwar eine echte karelische Sprache, einige ältere Menschen sprechen sie immer noch, aber man kann mit Sicherheit sagen, dass es keine ernsthaften Forderungen gibt, das Karelische zur Zweitsprache in Schulen und in der Verwaltung zu machen. Die Zahl der Veröffentlichungen in Karelisch ist gering, und ebenso verschwindet allmählich die finnische Sprache.
Was die „Karelische Frage“ anbetrifft, so gibt es seit dem Zweiten Weltkrieg keine öffentlichen Äußerungen in Richtung eines Anschlusses an Finnland. Eine Bewegung, die Karelien von Russland zurückhaben wollte, hatte immer jenes Gebiet im Sinn, das 1940 – und dann erneut 1944 – an die Sowjetunion abgetreten wurde. Jedoch konnte sie sich bezüglich der offiziellen finnisch-sowjetischen Beziehungen niemals das entsprechende Gehör verschaffen; auch politisch gesehen ist sie ohne Einfluss.
Existiert ein Karelien überhaupt? Die Antwort lautet eindeutig „Nein“. In der Geschichte gab es niemals ein vereintes Karelien; auch bestand nie das Verlangen, Finnisch- und Russisch-Karelien zu „vereinen“. Der 1617 geschlossene Friedensvertrag zwischen Schweden und Russland führte zu einer gewissen Überlappung der zwei Karelien und hinterließ orthodoxe und karelisch-sprechende Bevölkerungsteile auf der finnischen Seite. Im Gegenzug dazu vertrieb der Zweite Weltkrieg einige tausend Finnisch-Karelier und ebenso hunderttausende Finnisch-sprechende Finnen aus Finnisch-Karelien, das danach von russischen, belarussischen und ukrainischen Zuwanderern besiedelt wurde. Nichts mehr außer den landschaftlichen Besonderheiten und einigen Gebäuden erinnert in diesem Gebiet an das ehemalige Finnisch-„Karelien“. Ein Teil des Territoriums gehört nun zum Bezirk Leningrad, ein anderer zur Karelischen Republik.
Nach dem Fall der Sowjetunion entwickelten sich sehr schnell grenzüberschreitende Kooperationen. So wurde im Jahre 2000 zwischen der Karelischen Republik und den finnischen Regionen Nord-Kareliens, Kainuu und Pohjois-Pohjanmaa (wo die Menschen überhaupt kein Karelisch sprechen) eine neue institutionelle Verbindung, die „Euregio Karelia“, gegründet. Unter ihrer Schirmherrschaft werden gemeinsame wirtschaftliche, ökologische, touristische und kulturelle Projekte durchgeführt. Die Menschen auf beiden Seiten der Grenze profitieren davon. Dennoch kann man nicht von einer Art Erneuerung eines ehemals vereinten, grenzenlosen Kareliens sprechen. Die Grenze spaltet tatsächlich keineswegs eine homogene karelische Nation – solch ein Karelien hat es niemals gegeben. Man spricht nicht von einem östlichen und einem westlichen Teil des gleichen Kareliens, sondern von verschiedenen Finnlands und Russlands, die sich nun heutzutage über die Grenze hinweg treffen.
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.
Fußnote:
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Die wepsische Sprache (vepsan kel’) gehört zum ostseefinnischen Zweig der finno-ugrischen Sprachen und wird nur noch von rund 9.000 Menschen östlich von Sankt Petersburg und am Ladogasee gesprochen wurde (Anm. d. Redaktion). ↩︎