Ein normales und anormales Albanien – zwanzig Jahre nach Ende der letzten stalinistischen Diktatur

aus OWEP 4/2010  •  von Lindita Arapi

Dr. Lindita Arapi ist eine albanische Schriftstellerin. Sie arbeitet für die „Deutsche Welle“ und lebt in Bonn.

Das Erwachen eines Volkes

„Wir wollen Albanien wie Europa! Wir wollen Albanien wie Europa!“ Dieser lautstarke Ausruf tausender Albaner vor zwanzig Jahren brachte das plötzlich erwachte Bewusstsein eines Volkes zum Ausdruck, den Wunsch nach dem ersehnten Europa – einem Europa, das es nur aus Büchern und Bildern kannte. Es war ein emotionsgeladener Wunsch. Er klang damals dramatisch, leidenschaftlich, hoffnungsvoll, ungeduldig, ja sogar naiv für all diejenigen, die ihre Augen vor der Realität nicht verschlossen. Dennoch sollte er zum politischen Programm aller Parteien und zum Leitgedanken einer neuen Epoche werden.

Dieser Ausruf erweckte eine ganze Gesellschaft aus fast einem halben Jahrhundert der Lähmung – einer gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, psychischen, am Ende auch politischen Lähmung. Die dramatischen Folgen einer jahrzehntelangen systematisch paranoiden, selbstisolierenden und ausrottenden Politik kulminierten in den nicht vergessenen Bildern von Schiffen eines Massenexodus nach Italien im Jahr 1990.

Das, was danach kam, war nicht der goldene Löffel, den der Westen jedem Albaner bot. Es war kein leichter Prozess, sich auf das eigene Trauma zu besinnen, es zu überwinden und ein würdiges, freies und sicheres Leben im eigenen Land aufzubauen, ganz ohne Fluchtgedanken. Die folgenden turbulenten Jahre offenbarten es. Sie waren von Tiefen geprägt, Tiefen eines in allen Winkeln der Gesellschaft durchgreifenden, notwendigen Wandels, dem aber die albanische Gesellschaft nicht gewachsen war. Erst nachdem diese Schmerzensjahre überstanden waren – damit ist das erste Jahrzehnt der Wende gemeint –, zeichnete sich allmählich eine Besserung ab, wohlgemerkt: noch keine Höhe.

Bezeichnungen für Normalität

Zwanzig Jahre nach der Wende fällt die Bilanz positiv aus. Die Transformation gestaltete sich erfolgreich. Was am Ende der neunziger Jahre schwer zu glauben schien, ist heute Realität. Das Land Albanien ist zur Normalität zurückgekehrt, und wer das verwahrloste Land 1990 kannte oder sich das dunkle Jahr 1997, in dem bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, in Erinnerung ruft, versteht, dass das Wort Normalität eine besondere Bedeutung für Albanien erhalten hat und dass es erwähnenswert ist, sie erreicht zu haben. Gewiss heißt das nicht, dass für jeden Albaner gute Zeiten angebrochen sind, nein. Aber die Hoffnung, die in der Stabilität aufkeimte, ist da.

Aber was bedeutet Normalität in einem Land, in dem immer noch Armut und Korruption grassieren, niedrige Löhne und Arbeitslosigkeit an der Tagesordnung sind und obendrein die Politik sich selbst boykottiert und oft in Kämpfe um die Beseitigung des politischen Gegners verwickelt ist, statt sich um eine konstruktive Gestaltung der Politik für das Land zu kümmern?

In einem Staat, der vor dem Abgrund stand, zählt zur Normalität, wenn die Bürger wieder Vertrauen in das eigene Land gewinnen, Vertrauen, dass es sich in diesem Armenhaus Europas weiterzuleben lohnt trotz des harten Überlebenskampfes. Die Schwelle wurde überwunden, längst sind die Nachrichten über Bootsflüchtlinge Richtung Italien aus den Schlagzeilen verschwunden. Was sich innerhalb der Normalität bewegt, wird nicht mehr erwähnt und ist keine sensationelle Nachricht mehr wert. Für das Land Albanien ist „nicht mehr erwähnt zu werden“ eine gute Nachricht.

Gehört es nicht zur Normalität, Häuser zu bauen, Wohnungen zu kaufen, kleine Geschäfte zu eröffnen, auch wenn es nur darum geht, sich selbst zu beschäftigen, oder kleine Firmen zu gründen und Serviceleistungen anzubieten, auch wenn die Einkünfte vielleicht gerade reichen, dass die Familie über die Runden kommt?

Ein Schritt zurück zur Normalität ist es auch, wenn die letzten Wahlen, die in der Vergangenheit die Achillesferse dieses Landes darstellten, zwar noch in Spannungen verliefen, aber nicht mehr in Gewalt ausarteten. Die Bürger sind ihren Politikern vorausgegangen, sind klüger und verhaltener gewordenen. Die Straße ist nicht mehr der Hauptschauplatz der politischen Kämpfe. Diese haben sich in die inflationären Polittalkshows verlagert, in denen alle ihren Frust kundtun, und die Zuschauer an einer Kakophonie mit typisch albanischen Klängen teilhaben lassen.

Normalität ist es auch, wenn man ein eigenartiges albanisches Lebensgefühl wie die Kaffeemanie entwickelt und stilisiert hat. Cafés und kleine Lokale ringsumher vermitteln die Leichtigkeit des sonnigen Albanien, von morgens bis abends mit Menschen gefüllt, die den Tag angenehm mit einem kleinen Mokka zu starten wissen und dann den Alltagspflichten nachgehen, oder anderen, die ihre Geschäftstermine nur in Cafés erledigen, oder wieder anderen, die einfach deshalb in Cafés sitzen, weil draußen unter Freunden die Arbeitslosigkeit leichter zu ertragen ist.

Endlich eingekehrte Normalität für dieses Land bedeutet auch, wenn der Strom nicht mehr stundenlang ausbleibt, die Städte nicht mehr in einer hoffnungslosen Tristesse versinken und die Kinder nicht mehr gezwungen sind, Kerzenlicht zum Lernen zu benutzen. Wenn die Frauen, sich selbst feiernd, auf hohen Schuhen tänzelnd, in den späten Stunden auch alleine auszugehen wagen und nicht mehr von der ansteckenden Angst der neunziger Jahre bedrückt werden, Opfer von kaum zu zähmenden Männern zu werden. Ein gutes Zeichen ist es auch, wenn Kleinverdiener ihre Ersparnisse zusammentun, um dem Kind eine gute Schule ermöglichen, sei es um dazuzugehören, oder einfach, um dem Sprössling mehr Chancen zu verschaffen oder sich mit ihm einen Urlaub in Montenegro oder in der Türkei zu gönnen.

Der neueste und vielleicht wichtigste Beweis der Normalität könnte im Herbst dieses Jahres das erhoffte visumfreie Reisen nach Europa werden.1 Die Europäer offenbaren damit auch ihr Vertrauen in dieses Sorgenkind Europas, das früher nur Flüchtlinge produzierte – ihre Zustimmung dafür, dass der vieldiskutierte Integrationsweg gut geebnet ist trotz der Steine, die das zügige Vorwärtskommen noch behindern.

Die Kehrseite der guten Nachrichten

So entsteht fast ein Katalog von guten Nachrichten über ein neues Albanien! Diese gibt es tatsächlich, das neue Albanien ist keine Täuschung. Doch ist dies nur die halbe Wahrheit. Schält man die guten Nachrichten, eine nach der anderen heraus, kommen andere Wahrheiten ans Tageslicht und die Einsicht, dass das ganze Land zwar im Aufbruch ist, aber dennoch nur halbfertig.

Immer noch produziert die Politik zu viele Konflikte und besetzt herrisch das öffentliche Leben. Sie ist die einzig große Show des Landes, in der die Politiker sich wie berühmte Popstars verhalten. Sie sind in ihre medialen Selbstdarstellungen geradezu verliebt. Vor ihren zahllosen Reden kann man sich kaum retten. Morgens, mittags, abends, in Cafés, bei der Arbeit, im Familienleben, überall wird über ihre Politmetaphern gesprochen. Zeitgemäß lesen sie furchtlos ihre Reden ab vor einem statischen Parteiplakat, live, Reden, die in demagogische, manchmal in populistische Rhetorik ausarten, was aber keinem auffällt. Albaner lieben das Spektakel, Inhalte sind zweitrangig. Der Gegner im anderen politischen Lager wird verdammt, mit bildhaftesten Beschimpfungen belegt, die Erlösung und die Lösung aller Probleme wird versprochen. Die Aussagen der Gegner unterscheiden sich wie Tag und Nacht. Während einer vom ökonomischen Aufstieg berichtet, beklagt der andere den ökonomischen Ruin. Wenn einer immer in Weiß malt, kontert der andere mit regelmäßigem Schwarz. Alle üben fleißig das Zauberwort „Kompromiss“, aber keiner ist bereit, seinen Kampf aufzugeben, weil Politik ja bekanntlich nicht Zusammenarbeit zum Wohle des Bürgers sei, sondern Kampf um Gewinnung der Macht.

Hinter den allgegenwärtigen Politstars stehen die neuen albanischen Wirtschaftsoligarchen, die ihre Interessen mit allen Mitteln durchsetzen wollen, egal, ob durch Korruption oder drohende Destabilisierung. Diesen Stars leisten unsichtbar die Medien Beistand, geteilt in politische Lager, je nach Interessen ihrer Bosse polarisiert. Nun wollen sie sich wenigstens raffinierter zeigen, und das erlauben die Bosse, denn vom Ausland wird man beobachtet, und auf den guten Ruf legt der Albaner wert. Sie tarnen nun die Parteinahme, und das, was die Politik nicht tut, tun jetzt die Medien: Sie lassen auch mal Andersdenkende zu Wort kommen oder konfrontieren die politischen Gegner in Medienshows.

Die Medien haben sich weiter entwickelt, sie bieten nicht nur HD-Qualität, sondern haben auch einen neuen Beruf geschaffen, den des unabhängigen Analysten. Rührend ist er in seinem Versuch, den Eindruck des Unabhängigen zu hinterlassen, und gleichzeitig seine Mission, den politischen Gegner zu schwächen – wofür der Chef ihn ja bezahlt – zu erfüllen. Der neue Typus des Analysten, der traumatisiert seine Journalistenzeit durch monatelanges unbezahltes Arbeiten absolviert hat, ist aufgestiegen. Er ist finanziell besser gestellt, aber dennoch schwach, ungeschützt und käuflich. Er behandelt ein Phänomen nicht im Namen seiner Berufsethik, sondern weil er in unmittelbarem Auftrag eines Verbands agiert. Und wenn doch ein Korruptionsfall aufgedeckt wird, dient das nicht zur Bekämpfung der Korruption, sondern als Waffe, um den politischen Gegner zu schwächen.

Und so wütet alltäglich die Regellosigkeit, die die Eliten des Landes – wer auch immer sie sein mögen – befallen hat. Sie ist die Regel geworden. In anderen Schichten herrscht die Überzeugung, dass es einen nicht weiter bringt, ehrlich zu leben, tüchtig zu sein, sondern man versucht nach Kräften und Möglichkeiten, ein bisschen korrupt zu spielen, um ein Ziel zu erreichen. Sei es, indem man den Arzt für eine bessere Behandlung unter dem Tisch bezahlt, einen Stadtbeamten mit Trinkgeld korrumpiert, um schnell einen Bescheid zu erhalten, dem Straßenpolizisten Geld in die Hand drückt, um der Geldstrafe zu entkommen, oder den Professor bezahlt, um die Prüfung zu bestehen. Egal wie, wichtig ist es, das erwünschte Ziel zu erreichen, darin liegt das Motto der Zeit.

Und die, die auf dieser Skala ganz unten sind, müssen mit ca. 30 € Sozialleistung im Monat ihr Leben fristen, sich als Rechenkünstler erweisen, um im Monat genug zum Essen zu haben. Wenn das nicht klappt, kennt man zum Glück die Nachbarn, oder der Brotverkäufer um die Ecke gibt weiterhin unbezahlt Brot zum Leben, setzt ihren Namen auf eine lange Liste, die meterlang aus dem Geschäft herauslaufen würde, wenn nicht regelmäßig Wahlen stattfinden würden und ein gütiger Politiker sich fände, diese Liste wettzumachen und die Kosten zu übernehmen, freilich ohne eine Gegenleistung …


Fußnote:


  1. Das EU-Parlament hat sich am 7. Oktober 2010 mit breiter Mehrheit für die Aufhebung der Visumpflicht ausgesprochen. Da mit der Zustimmung der EU-Innenminister im November 2010 zu rechnen ist, wird die Neuregelung zum 1. Januar 2011 in Kraft treten (Anm. d. Redaktion). ↩︎