Albanien – Das Leben eines Volkes zwischen Sein und Schein

(Erfahrungen)

Vilma Filaj-Ballvora (geb. 1964 in Tirana) hat das albanische Programm bei der „Deutschen Welle“ in Bonn seit 1992 mit aufgebaut und ist seit 2009 Redaktionsleiterin.

Zusammenfassung

Das Ende des kommunistischen Systems lässt sich besonders gut an äußerlichen Veränderungen erkennen: Das Warenangebot explodierte förmlich, die Häuser wurden bunter, die Straßen voller. Die Errungenschaften des „siegreichen Kapitalismus“ überrollten die Gesellschaft förmlich – was aber geschah im Innern? Haben die Menschen die alten, jahrzehntelang eingeübten Verhaltensweisen abgelegt? Sind sie in der Lage, angemessen auf die neuen Herausforderungen zu reagieren? Folgende Beobachtungen aus Albanien stimmen nachdenklich.

„Fest und Trauerfeier“ – Paraden auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“

Tirana im Januar 2011! Die Sonne scheint, die südliche Wintertemperatur ist sehr passend für einen Bummel durch die Gassen im Herzen der Hauptstadt Albaniens. Diana Konstandin (D. K.) lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland und kehrt immer wieder in ihre Heimatstadt zurück, etwa zwei- bis dreimal im Jahr. Optisch hat sich vieles in Tirana während der letzten zwei Dekaden verändert, erzählt sie. Was ihr aber sofort störend auffällt, ist das totale Chaos im Straßenverkehr, die Fahrweise ohne Rücksicht auf die Fußgänger, die Müllberge, die an jeder Ecke in der Stadt herumliegen, die Straßenhunde, die überall in der Stadt herumlaufen, die kleinen Kinder, die Zigaretten, Feuerzeuge und anderen Kleinkram verkaufen. Aus den Cafés und Restaurants, die sehr dicht nebeneinander liegen, tönt Musik: Melodien zwischen Schlager, Pop und Techno mischen sich und werden unerträglich sowohl für die Einwohner als auch für manche Passanten. Die Besitzer dieser Läden kümmern sich überhaupt nicht um das Wohl der Nächsten; sie wollen durch die laute Musik unbedingt Kunden locken. Nur eines zählt heute in Albanien: Profit um jeden Preis.

In der Stadt sieht man überall zehn- bis zwölfstöckige Büro- und Wohnhäuser, die einem den Eindruck vermitteln, als ob sich hier keiner Gedanken um den Städtebau gemacht habe. Der einzige Teil der Stadt, bei dem alles so geblieben ist, wie es einmal war, ist der Hauptboulevard „Märtyrer der Nation“ von Tirana. Was sich an diesem Boulevard verändert hat, ist das Ritual der Spaziergänge, die vor zwanzig Jahren hier stattfanden.

Ein von der Autorin vor wenigen Jahren aufgenommenes Bild zeigt den „Boulevard der Märtyrer“ mit dem Verkehr einer modernen Metropole.1

D. K. erinnert sich an das Ritual der „Xhiro“ (um den Kreis drehen) auf dem Boulevard, wie man auf Albanisch sagte. Xhiro wurde während der 45 Jahre Diktatur bis Anfang der neunziger Jahre die einzige mögliche Freizeitaktivität einer Gesellschaft, die ansonsten gezwungen war, in erstickender Isolation zu leben.2 Jeden Abend strömten die Menschen stillschweigend in Gruppen auf den Boulevard, um auf und ab zu spazieren. Einem Außenstehenden schien dies wie ein absurdes Ritual einer in Agonie lebenden Gesellschaft. Im Spazierengehen auf dem Boulevard spielte sich aber das Leben, Sehen und Gesehen werden ab: Die Sigurimi (Staatssicherheit Albaniens) hatte die Menschen dabei unter Kontrolle und spürte sie auf: Wer mit wem und über was spricht. Andererseits jedoch wurden dort einfach Bekanntschaften und Freundschaften geschlossen, ja sogar Ehen gestiftet. Selbst die große Politik spielte sich auf diesem Boulevard ab: Für die Partei war er die Massenbühne, wo die „Erfolge“ pompös gefeiert wurden. Der Boulevard mit seinen Paraden – einer langen Tradition – ist heute eine der wichtigsten Verkehrsadern der Stadt. Er wurde Anfang der dreißiger Jahre von den Italienern gebaut und trägt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs den Namen „Märtyrer der Nation“.

Um einen Eindruck der wichtigsten „Erlebnisse“ des Volkes auf diesem Boulevard abzugeben, erinnert sich D. K. zunächst an das, was ihre Eltern ihr erzählt haben. Am 5. März 1953 ging die Todesnachricht von Josef Wissarionowitsch Stalin um die Welt. Die Eltern von D. K. waren noch im Kindes- und Jugendalter. Sie mussten mit tausenden anderen Schülern und Studenten dem sowjetischen Diktator aus dem fernen Bruderland die letzte Ehre erweisen. Die Trauerfeier in Tirana glich einer Massenhysterie. Zehn Jahre später, 1963, gab es wieder eine Parade auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“. Sie galt dem chinesischen Premierminister Tschou En Lai. Und wieder jubelten die Massen euphorisch und hysterisch in Tirana.

Am 1. Mai 1976 war D. K. zwölf Jahre alt. Zum ersten Mal durfte sie an der Maiparade teilnehmen. An der Feier des Internationalen Tags der Arbeit nahmen jährlich tausende Schüler, Studenten, Arbeiter, Beamte, Militärs aus dem ganzen Land teil. Die Mutter von D. K. war Lehrerin und musste selbst jedes Jahr ihre Schüler bei solchen Veranstaltungen begleiten. Ihrer Tochter aber sagte sie jedes Mal: „Du brauchst dort nicht hinzugehen, es gibt nichts Aufregendes bei dieser Demonstration.“ Aber an diesem Tag ging das Mädchen mit Erlaubnis der Mutter doch zur Parade. Gegen sechs Uhr morgens machte sie sich auf den Weg zum Boulevard. Zusammen mit ihren Schulkameradinnen und Schulkameraden wartete sie stundenlang auf dem Platz vor dem Universitätsgebäude. Punkt zehn Uhr begann die Parade. Als die Gruppe sich der Tribüne näherte, sah D. K., wie ihre Freundinnen, wie per Knopfdruck gesteuert, in hysterischen Jubel ausbrachen und die Fahnen schwenkten: „Partei, Enver, wir sind immer bereit!“ Ihr war es nicht danach, zu jubeln oder solche absurden Sprüche zu rufen, zumal sie zu Hause mitbekommen hatte, wie sich die Eltern über solche Sprüche lustig machten. Im Innersten zögerte sie mitzumachen. Sie blieb alleine auf dem Platz stehen, während ihre Gruppe schon fortging, um anderen Gruppen Platz zu machen. D. K. fragte sich: Was ist denn mit meinen Freundinnen los – oder stimmt mit mir etwas nicht? Sind die anderen wirklich aus innerer Überzeugung bei diesem Jubel dabei oder tun sie nur so, als ob?

Man muss sich die Situation für ein Kind bei einer solchen Parade einmal vorstellen: Dort, wo das Mädchen stand, war nichts zu sehen außer Polizeisperren. Etwa 20 bis 30 Meter entfernt sah man eine mit rotem Tuch zugedeckte Tribüne und ein etwa fünf Meter hohes Podium. Die Personen auf der Tribüne erschienen aus der Entfernung nur wie Figuren eines Schattenspiels. Jede menschliche Dimension fehlte. Alles war irreal. Damals konnte D. K. dieses Empfinden noch nicht analysieren, sie konnte auch nicht mit ihren Freundinnen darüber sprechen. Dennoch hat sie damals zum ersten Mal verstanden, wovor ihre Mutter sie schonen wollte. Heute ist sie ihr sehr dankbar dafür.

29. November 1978! Albanien beging den Tag der Befreiung seit 1944 mit dem jährlichen Ritual der Militärparade auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“.3 D. K. hat seit jenem Mai Tag an keiner anderen Parade mehr teilgenommen. Die Paraden konnte man inzwischen auch im Fernsehen verfolgen. Auf dem Bildschirm konnte man zumindest die „Schattenfiguren“ auf der Parteitribüne besser erkennen als auf dem Boulevard, außerdem konnte man sich ganz entspannt dabei amüsieren. Jedem Albaner war klar, dass es ein Wettrüsten zwischen den Großmächten gab. Diese Militärparade im kleinen Albanien musste jedem nüchternen Bürger wie ein wahnwitziges Schauspiel erscheinen.

15. April 1985! Enver Hoxha starb; im ganzen Lande war tagelang Trauer angeordnet. Alle Bürger „wollten“ dem „beliebten Staats- und Parteichef“ die letzte Ehre erweisen. D. K. war an diesem Tag wegen einer Erkältung nicht zur Schule gegangen. Sie hatte damit eine gute Rechtfertigung, nicht zum Trauerzug zu gehen. Trotzdem ging sie aus Neugier mit ihrer Mutter zusammen auf die „Trauerparade“. Dies war für sie das zweite und zugleich letzte Mal, dass sie eine Massenveranstaltung auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“ besuchte: Abertausende Menschen warteten wie zusammengepfercht brav darauf, vor dem Sarg ihre „Trauer“ zu demonstrieren. Stundenlange Wartezeiten waren angesagt. Plötzlich wandte sich eine Frau aus der Menge an D. K. und brüllte hysterisch: „Wieso trauerst du nicht? Was soll dieses Makeup in deinem Gesicht?“. D. K staunte und blieb still. Ihre Mutter, die neben ihr stand, staunte ebenfalls. Stilschweigend und unauffällig taten Mutter und Tochter so, als ob sie nichts mitbekommen hätten. Sie verständigten sich per Augenkontakt und beschlossen, sich aus dem Staub zu machen. D. K. erlebte damals wieder einen hysterischen Ausbruch auf dem Boulevard ihrer Heimatstadt: Während sie und ihre Mutter sich auf den Heimweg machten, kamen ihnen „Trauer-Demonstranten“ entgegen, die sich zu dem Ort bewegten, wo der Sarg stand. Plötzlich fingen die Menschen an zu laufen, wurden hysterisch und aggressiv, schubsten einander. Einige fielen dabei zu Boden. Es sah nach Massenpanik aus. Staunend fragte sich D. K: Was ist denn heute mit den Menschen los, trauern sie wirklich? Warum muss eine Trauerfeier so aggressiv verlaufen?

13. Juli 1990! Die letzte Parade auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“. D. K. hatte inzwischen zusammen mit vielen anderen Mitbürgern die Heimat verlassen und erfuhr durch die westlichen Medien von dieser Veranstaltung. In der Nacht auf den 12. Juli 1990 reisten etwa 5.000 ausreisewillige Albaner aus, nachdem sie sich etwa zwei Wochen lang in westlichen diplomatischen Vertretungen aufgehalten hatten.

Den Tag nach dem ersten Massenexodus beschreibt Albaniens renommiertester Schriftsteller, Ismail Kadare, in seinem 1991 erschienenen Buch „Albanischer Frühling“:

Was sich am Morgen danach ereignete, war widerwärtiger als die Entweihung eines Heiligtums, grausamer als ein Blutbad.
Es war eine Versammlung.
Eine von der Partei veranstaltete Versammlung.
Um über die Flucht von fünftausend jungen Albanern zu frohlocken.
Um der Trauer zu applaudieren.
Um den Albanern zu beweisen, dass die Partei stärker als die Nation war, dass sie nicht nur der Blutsbande spottete, sondern dass sie die Nation dazu zwang, zu dieser Beleidigung auch noch Beifall zu klatschen …
Die Diktatur, die auch hier wieder einmal ihren Riten gehorchte, schickte sich nach der Ausführung des Verbrechens an, es zu verkünden. Wie die Asche des Vesuvs musste das Verbrechen auf die Schultern vieler Einzelner fallen, wenn möglich auf die Schultern aller, sodass es sich in gewisser Hinsicht rechtfertigen ließ. Das wenigstens versuchte diese barbarische, ja vielleicht am stärksten von Unmenschlichkeit geprägte Versammlung, die je in diesem Land stattfand, zu beweisen. Die Albaner, schon daran gewöhnt, dass Festtage zugleich Trauertage sein können und umgekehrt, würden diese Demütigung noch einmal einstecken. Aber es würde bestimmt die letzte sein.“

Am 20. Februar 1991 strömen hundertausende Albaner über den Boulevard „Märtyrer der Nation“. Voller Wut, schreiend und schimpfend zerren sie die vergoldete Statue Enver Hoxhas, die sie vorher gestürzt haben, durch die Straßen. Es sind dieselben Bürgerinnen und Bürger, die sechs Jahre vorher dem Diktator noch hysterisch zugejubelt und danach getrauert haben.

Im Sommer 1991 jubelte das Volk auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“ US-Außenminister James Baker zu. Die Euphorie war unbeschreiblich. Sogar der Wagen des Gastes aus USA wurde von der Masse hochgehoben.

„Der neue Mensch“ – Hauptdarsteller auf der Bühne eines absurden Theaters

„Das Regime spielte eine Komödie, auf deren Cast Millionen von Laienschauspielern standen. Jeder hatte seine Rolle perfekt gelernt, denn ein Versprecher kostete das Leben. Es gab auch genügend Akteure. Wir und China sind 603 Millionen, sagte Enver Hoxha und meinte es auch“ – so fasst Dr. Werner Daum, der erste westdeutsche Geschäftsträger in Albanien in den Jahren 1987-1990, seine Eindrücke zusammen.4

D. K. hat diese Zeit genau so erlebt, wie der deutsche Diplomat sie beschreibt. Während der Kulturrevolution in Albanien in den siebziger und achtziger Jahren erreichte das Orwellsche Leben des Volkes den Höhepunkt. Das Land von 3 Millionen Einwohnern wurde während des kommunistischen Regimes unter Enver Hoxha zu einem einzigen „großen Gefängnis“ umgewandelt: In Albanien waren nach Schätzungen von Verfolgten etwa 50 Prozent der Bevölkerung direkt oder indirekt von der Repression betroffen. Das erzeugte ein Klima der Angst und der Lähmung, das beispiellos war. Zwar waren D. K. und ihre Familie nicht direkten Repressionen ausgesetzt, aber ihre Erlebnisse sind typisch für die Mehrheit der Bevölkerung, die unter schwierigsten seelischen Belastungen gelebt hat: Die Revolution hat im Innern stattgefunden, während man sich in der Öffentlichkeit diplomatisch verhalten hat.

„Die Schaffung des neuen Menschen“ mit sozialistischem Bewusstsein war das Ziel der Kommunisten in Albanien. Selbst der Glaube blieb den Albanern in dieser Zeit verwehrt. 1967 wurde ein totales Religionsverbot erlassen, somit war Albanien der erste atheistische Staat der Welt. Viele Beobachter halten die Unterdrückung der Religion, wie sie von den damals Verantwortlichen in brutalster Weise durchgesetzt wurde, für eine ewige Wunde in der Geschichte Albaniens.

… Die Schöpfungskraft und das Talent der Schriftsteller und Künstler müssen dazu beitragen, die Überreste der dunklen Interessen aus dem Bewusstsein des Volkes zu liquidieren und die großartige Schönheit der sozialistischen Welt in der Eigenschaft ihres neuen Menschen aufzuzeigen.“5

Juni 1978! D. K. hat gerade die Hauptschule abgeschlossen. Ihr Wunsch ist es, am Gymnasium für Fremdsprachen zu studieren. Dafür musste sie dem Bewerbungsschreiben eine Familienbiographie beifügen. Erwartet wurde eine „Biographie“ ungefähr folgenden Inhalts: „Mein Großvater L. K., geboren am … 1900, war von Beruf … und hat sich für das Vaterland verdient gemacht, indem er während des Zweiten Weltkrieges aktiv den Nationalen Befreiungskrieg unterstützt hat. Mein Vater V. K., geboren am ... 1935, arbeitet als ... Meine Mutter D. B., geboren am … 1944, arbeitet als ... Meine Familie ist der Parteilinie treu geblieben und wirkt aktiv am Fortschritt unseres Sozialistischen Staates mit.“

Nolens volens verfasste D. K. die Biographie so, wie es zu sein hatte, wohlwissend, dass ihr Großvater, der in Wien studiert hatte, während des Krieges als Übersetzer für die Deutschen tätig war. Deswegen stand er im Jahre 1945 vor einem Sondergericht für „Kollaborateure“. Er hatte aber das Glück, der Todesstrafe durch Begnadigung zu entgehen, weil er nämlich vielen Albanern das Leben gerettet hatte. D. K. stand bei solchen Bewerbungen immer wieder vor dem Dilemma: Ist es wahr oder gelogen, richtig oder falsch, was sie in dieser Biographie schreibt? Sie und ihre Familie haben sich damit abgefunden, im Schatten der Vergangenheit zu leben. Während bei D. K. zu Hause Musik aus aller Welt gespielt und sehr kritisch über die Absurditäten in Albanien diskutiert wurde, musste sie in der Schule unter anderem auch Zitate von Enver Hoxha auswendig lernen wie: „Die Albaner essen lieber Gras, als dass sie darauf verzichten, den Marxismus-Leninismus zu verteidigen!“

Jeder Bürger sollte „ein Soldat“ für den Schutz des Vaterlandes sein, wenn der „Feind“ Albanien angreifen sollte. Aus diesem Grund gab es bereits im Gymnasium ab der neunten Klasse bis zur Universität das Fach Militärunterricht. Verschiedene Verteidigungsmanöver, die in der Theorie gelehrt wurden, sollten einmal im Jahr durch simulierte Manöver in der Praxis geübt werden. Auswendig gelernt werden sollte unter anderem auch die Konstruktion des Sturmgewehrs Kalaschnikow, Modell 56. Die „Krönung“ dieses Faches war eine Schießübung, an der nur Abiturienten teilgenommen haben. Am 15. Juni 1983 musste die Klasse von D. K., die inzwischen 18 Jahre alt war, an einer solchen Schießübung teilnehmen. Manche ihre Schulkameraden fanden Spaß daran, während es für sie und einige andere Freundinnen ein sehr unangenehmer Tag war. Auf einem Militärgelende voller Bunker sollte man auf Zielscheiben schießen. Falls man drei Treffer schaffen würde, gab es eine 10, die beste Note. D. K. schaffte es, aber sie weiß nicht mehr, wie. An den Schock von damals kann sie sich noch heute erinnern.

Freiheit will gelernt sein – „Paraden“, die man auf Albaniens Hauptboulevard vermisst

Mai 2010! Viele Menschen haben sich auf dem großen Boulevard „Märtyrer der Nation“ versammelt, und es sieht fast nach einem Protest aus. Gegenüber dem Sitz des demokratischen Premierministers Sali Berisha sind etwa 200 Abgeordnete und Anhänger der oppositionellen Partei der Sozialisten unter dem Vorsitzenden Edi Rama für vierzehn Tage in einen Hungerstreik getreten. Transparenz der Parlamentswahlen vor einem Jahr verlangen sie.6 Ihnen gegenüber versammeln sich Hungerstreikgegner und Anhänger der regierenden Partei, die den Protest der Sozialisten für übertrieben halten. „Die Partei hat uns aufgerufen zu protestieren“, hört man jemand mit lauter Stimme auf dem Boulevard rufen. Und dieser Spruch „Die Partei hat uns gerufen ...“ weckt Erinnerungen bei D. K.: Es scheint, als ob sich kaum etwas geändert hat, genauso wie damals: Immer wenn die Partei sie ruft, sind die Albaner bereit, auf dem Boulevard „Parade“ zu halten.

21. Januar 2011! Es wird wieder demonstriert auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“. Es ist eine Demonstration, zu der die sozialistische Opposition aufgerufen hat. Zwar soll sich die Protest friedlich gegen die Mitte-Rechts-Regierung und die zunehmende Korruption im Land richten, aber sie nimmt ein blutiges Ende: Die Bilanz: drei Tote, ein vierter Demonstrant schwebt noch in Lebensgefahr im Krankenhaus, und Dutzende von Verletzten. Die drei Leichen der Opfer und mehrere Verwundete liegen auf dem Hauptboulevard unmittelbar vor dem Amtssitz des Premierministers Sali Berisha, der sich zu diesem Zeitpunkt nach eigenen Angaben in seinen Amtsräumen aufhielt. Auch nach den blutigen Ereignissen bleibt die Stimmung weiterhin aufgeheizt. Die führenden Politiker der großen Parteien können keine Sprache der Vernunft und der Versöhnung finden – im Gegenteil: Gerade aus der Politik wird immer mehr Öl ins Feuer gegossen, indem man die Schuld auf den Gegner zu schieben versucht.

Das, was man im Kindes- und Jugendalter erlernt hat, ist nicht mehr zu verlernen, meint die Psychologin Barbara Hawellek: „Die Strafe des Kommunismus besteht nicht nur darin, dass die Menschen traumatisiert werden. Er nimmt den Menschen die Basis der Persönlichkeit, mit der sie sich außerhalb des Systems das Leben selbst gestalten können. Neigung zu Extremen und Mangel an eigener Verantwortung sind die Folgen. Viele sind nicht mehr in der Lage, die eigene Autonomie zu leben und Entscheidungen zu treffen, um einen Entwurf zu schaffen, sowohl für das eigene Leben als auch für das Leben im sozialen Umfeld.“7

Zwei Generationen, die in Albanien die kommunistische Diktatur miterlebt haben, nehmen heute noch aktiv am Leben teil. Die Schicksale des Landes werden jetzt von Politikern bestimmt, die noch im alten System erzogen worden sind und deren Persönlichkeit auch sehr stark davon geprägt wurde. Die politische Debatte wird nicht mit Sachargumenten geführt, sondern läuft sehr oft auf der Ebene persönlicher Anfeindungen ab.

Das Leben zweier Generationen zwischen dem seelischen Spagat, im Privaten frei und kritisch zu sein, aber brav und bejahend in der Öffentlichkeit, hat tiefe Spuren hinterlassen: Es hat dazu geführt, dass die Menschen sich auch heute nicht trauen, Position zu beziehen und sich über das, was sie wirklich denken, zu äußern. Deswegen vermisst man heute auf dem Boulevard „Märtyrer der Nation“ in Tirana die „Parade“ eines echten bürgerlichen Protestes: gegen die Armut, gegen die Korruption, gegen das zurückgebliebene Bildungssystem, gegen den Mangel an Wasser- und Energieversorgung, gegen die katastrophale Lage der Krankenhäuser, gegen unkontrolliertes Bauen, gegen das Versinken des Landes im Müll … Es sind genau dies die Gründe, weshalb viel zu viele Albaner aufgegeben und der Heimat den Rücken gekehrt haben. Durch den Exodus der neunziger Jahre hat Albanien einen brain drain ohnegleichen erlebt – heute lebt ein Drittel der Bevölkerung Albaniens im Ausland.

Tirana im Jahre 2011! Der Boulevard „Märtyrer der Nation“, umgeben von Regierungsgebäuden, die in den gleichen Farben wie damals frisch gestrichen sind. Heute fahren hier in beide Richtungen sechsspurig Tausende von Autos. Das Ritual „Xhiro“ findet nicht mehr statt. Als Freizeitaktivität haben die Albaner die Cafés von nebenan entdeckt. In den überfüllten Cafés sitzen Gymnasiasten, Studenten, Rentner, Geschäftsleute, Arbeitslose und Staatsbeamte. Das Leben, die Politik und die Geschäfte finden heute in den schicken Lokalen statt. Man möchte schnell nachholen, was einem lange verwehrt war: Man träumt von einem Leben in Wohlstand, ohne sich allzuviel anstrengen zu müssen. Der Verantwortung, die die Freiheit mit sich bringt, will man sich nicht unbedingt stellen.

Für eine Außenstehende – und so fühlt sich D. K. heute in ihrer Heimatstadt – scheint all das wieder Symptom einer Gesellschaft in Agonie: Man lebt zwar in einem demokratischen Albanien, wo der Lebensstandard sich deutlich verbessert hat, aber das Trauma des Kommunismus verfolgt die Menschen auch noch, nachdem das System vergangen ist.


Fußnoten:


  1. Ein weiteres Bild ist unter http://static.panoramio.com/photos/original/14647812.jpg (Aufnahme von 1988!) einsehbar (letzter Zugriff: 26.11.2015). ↩︎

  2. Vgl. zum Hintergrund der folgenden Schilderung auch OST-WEST. Europäische Perspektiven 11 (2010), H. 4 „Albanien“, besonders die Beiträge von Michael Schmidt-Neke, Fabian Schmidt und Lindita Arapi↩︎

  3. Das Foto unter http://farm3.static.flickr.com/2586/3728707062_83d715a967.jpg (letzter Zugriff: 26.11.2015) zeigt einen Ausschnitt einer solchen Parade. ↩︎

  4. Vgl. ausführlich Werner Daum (Hrsg.): Albanien – zwischen Kreuz und Halbmond. Innsbruck 1998. ↩︎

  5. Zitat aus der Rede von Enver Hoxha auf dem 4. Plenum des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Albaniens 1974 (Text abgedruckt in Auszügen in: „Roter Morgen“, Nr. 8, 22.02.1975, nach Vorlage der Albanischen Nachrichtenagentur ATA). ↩︎

  6. Vgl. dazu auch Michael Schmidt-Neke: Albaniens Geschichte in acht Leitfragen. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 11 (2010), H. 4, S. 243-251, bes. S. 250 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  7. Aussage im Interview mit der Autorin. ↩︎