Die geistliche Patrouille vom Majdan

aus OWEP 4/2014  •  von Katarina Nowikowa

Katarina Nowikowa ist Absolventin der Päpstlichen Theologischen Akademie in Kraków (jetzt Universität Johannes Paul II.) und Aspirantin des Instituts für Religionswissenschaft der Jagiellonenuniversität in Kraków. Sie unterrichtet Religionsphilosophie am Institut für Religionswissenschaften des Hl. Thomas von Aquin in Kiew.

Zusammenfassung

Die öffentlichen Proteste in der Ukraine auf dem Kiewer Majdan im Herbst und Winter 2013/14 bildeten nicht nur einen Wendepunkt für die Geschichte des ukrainischen Staates, sondern auch für die Kirchen. Der vorliegende Beitrag beschreibt das Engagement der unterschiedlichen Bekenntnisse in dieser Zeit und erörtert die Möglichkeiten ihrer künftigen Rolle in der Gesellschaft.

Angelpunkt des Protestes, der in eine echte Revolution mündete, war der Kampf für das Recht auf Freiheit der Selbstbestimmung und auf Würde, die zu den europäischen Werten gehören und die Grundlage der Europäischen Union bilden. Unmittelbarer Auslöser war die Nachricht von der Weigerung des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch eine Woche vor dem EU-Gipfel in Vilnius, das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben.

Die Bezeichnung „Majdan“ leitet sich vom Namen des Platzes her – auf Ukrainisch „Majdan der Unabhängigkeit“ –, auf dem sich die Protestierenden versammeln. Aber das Wort bekam die Bedeutung eines Massenprotestes, fast eines Befreiungskampfes. Zu einer Besonderheit des heutigen Majdan wurde sein neuer Name – „Euromajdan“. Das hatte nicht nur mit dem Protest gegen die Aussetzung des europäischen Integrationsprozesses im Land zu tun, sondern auch damit, dass zum ersten Mal Menschen für die europäischen Werte starben. Die Ereignisse dieser Revolution zeigten ohne Zweifel die erstaunliche Kraft einfacher Menschen, die Fähigkeit der Selbstorganisation und der Entsagung in einer kritischen, lebensbedrohenden Grenzsituation.

Zivilgesellschaft und Kirche

Wenn wir von einer Zivilgesellschaft und dem Staat sprechen, dann sprechen wir von Politik. Welche Rolle aber spielt in diesem Prozess die Kirche? Der Zusammenhang und die Beziehungen zwischen Staat, Politik und Kirche erweisen sich als eine der schwierigsten Fragen nicht nur in Verbindung mit den Protestaktionen des Majdan. Wo liegt die Grenze zwischen Wechselbeziehung und Einmischung? Soll die Kirche neutral bleiben?

Die erste Antwort liegt in der Definition dessen, was man unter Politik versteht. Wenn man sie breiter fasst, nicht nur als die staatliche Verwaltung eines Landes, sondern auch als Handlungsmuster, das die gesellschaftliche Struktur bestimmt, dann ist die Rolle der Kirche ein wichtiger Teil davon. Doch auch die Religion selbst setzt eine Form gesellschaftlicher Organisation voraus mit dem gemeinsamen Ziel, zum Transzendenten zu streben. Die christliche Kirche ist ihrerseits eine gesellschaftliche Institution, die auf die Bildung der gegenwärtigen staatlichen Strukturen und insbesondere auf das europäische Wertesystem Einfluss nimmt. Die Geschichte zeigt, dass die Kirche durch Ausnutzung ihrer Struktur in schwierigen Momenten die Rolle eines Organisators des gesellschaftlichen Lebens und eines Sicherheitsgaranten auf sich genommen hat, wie zum Beispiel in der Zeit mittelalterlicher Fehden. Zur Zeit der kommunistischen Herrschaft in Polen war sie faktisch die Opposition, die für die Rechte der Bürger kämpfte.

Aktiver Einsatz der Kirchen auf dem Majdan

Von den ersten Tagen an funktionierte der Euromajdan mit aktiver Teilnahme der ukrainischen Kirchen. Die ukrainische griechisch-katholische Kirche (UGKK) und die ukrainische orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK KP) gaben von Anfang an offizielle Erklärungen zur Unterstützung des europäischen Integrationsprozesses der Ukraine ab. Der „Allukrainische Rat der Kirchen und der religiösen Organisationen“ rief dazu auf, Gewalt nicht zuzulassen und das Recht der Bürger auf friedliche Versammlungen zu garantieren. Und am 29. November 2013 segneten die Geistlichen der UGKK, der UOK KP und der römisch-katholischen Kirche (RKK) den Euromajdan. Mehr noch, der römisch-katholische Bischof Stanislav Szyrokoradjuk erklärte, dass die Teilnahme daran die Pflicht eines jeden Christen sei.

Nach dem brutalen Auseinanderjagen der Protestierenden in der Nacht vom 30. November 2013 wurde der Majdan zum Protest auch gegen Gewalt und zum Schutz der Bürgerrechte, indem er die Bestrafung der Verantwortlichen und den Rücktritt des Präsidenten forderte. Die Jugend, die in der Nacht vor den Schlägen der Angehörigen der Spezialeinheit „Berkut“ („Steinadler“) geflohen war, fand eine Zuflucht hinter den Toren des Klosters des Erzengels Michael der UOK KP neben dem Hauptplatz. Es ist daran zu erinnern, dass der heilige Michael Patron der Stadt Kiew ist, und der Klang der Glocken seiner Kirche war in den tragischen Augenblicken des Majdan für die Teilnehmer des Protestes ein Zeichen göttlicher Unterstützung. Der Euromajdan selbst erlangte einen gewissen religiösen Charakter beim Kampf von Anhängern der Kräfte des Guten und des Lichtes gegen die verbrecherische Macht, die Anhänger des Bösen und der Dunkelheit. Darum ist eine seiner Bezeichnungen „Revolution der Würde“.

Am 1. Dezember 2013 trat in Kiew neben dem Denkmal Taras Schewtschenkos auf Initiative gesellschaftlich Tätiger, aktiver Teilnehmer und Vertreter der Opposition eine Versammlung zusammen, die die ganze Nation repräsentierte. Am Abend kam es durch Auftreten von Provokateuren zu weiteren brutalen Auseinandersetzungen. In der Nacht wurde das Gebäude der Kiewer Stadtverwaltung eingenommen und eine kleine Zeltstadt auf dem Hauptplatz errichtet, die auch eine Kapelle enthielt, in der die Geistlichen aller Bekenntnisse die Liturgie feierten und beteten. Die den evangelischen Christen zugehörenden Baptisten errichteten ebenfalls ein Gebetszelt, das zu einem wirklichen Zentrum lebendiger Ökumene wurde. Die Geistlichen beschlossen gemeinsam mit den Gemeindemitgliedern ihrer Kirchen, nicht von der Stelle zu weichen. In der Nacht führten Gläubige eine „Gebetspatrouille“ durch, indem sie das ganze Territorium des Majdan und der eroberten Gebäude der Kiewer Verwaltung und des Gewerkschaftshauses betend abschritten und für Ordnung sorgten. Der Majdan wurde zu einem Ort nicht nur des Protests, sondern auch zahlreicher Bekehrungen zu Gott und zu einer Belebung des Glaubens. Bemerkenswert war, dass die Menschen die Anwesenheit von Kirchenvertretern hier als etwas Natürliches wahrnahmen, und von der Tribüne, die mit Ikonen geschmückt war, erklangen Gebete und Segnungen.

Die Kirchen, die sich in der Nähe des Majdan befinden, öffneten ihre Türen, um dort Orte der Hilfe, des Aufwärmens und der Stärkung zu organisieren. Unter ihnen sind besonders erwähnenswert die lutherische Kirche der Hl. Katharina im Regierungsviertel, die römisch-katholische Kirche des Hl. Alexander auf dem Hauptplatz und das bereits erwähnte Michaelskloster. Die beiden letzteren wurden anschließend in Feldhospitäler umgewandelt, in die man die Verwundeten brachte und in denen die Ärzte operierten.

Diese Periode bis Mitte Januar 2014 lässt sich als ein friedliches Köcheln des Lebens im Herzen der Hauptstadt bezeichnen. Der Majdan erinnerte an eine kleine Stadtgemeinde, in der man einen freundschaftlichen Empfang finden, etwas essen und beten konnte, wo man seine Gedanken und Erlebnisse mitteilen und sogar an einer „Freien Universität“ Neues erlernen konnte, wo man die Bibliothek besuchen und an Lyrikabenden, Vorträgen und Konzerten auch von Gästen aus dem Ausland teilnehmen konnte. Nichtsdestoweniger wurde eine solch ruhige, sogar müßige Periode des Majdan mitunter belastend. Die Teilnehmer erfuhren besonders in den Zeiten der nächtlichen Patrouillen Verzweiflung und das Gefühl völliger Hoffnungslosigkeit. Die Obrigkeit reagierte nicht, das Zeltstädtchen lebte sein Leben und alles Weitere, so schien es, verlor seine Bedeutung und Kraft. Auf die Frage nach der schwierigsten Periode des Majdan nannte die Mehrheit der Aktiven die Phase der Untätigkeit. Das lässt sich vergleichen mit der Versuchung des Verlustes der Hoffnung und dem Gefühl vollkommener Gottverlassenheit, das man als „Nacht des Geistes“ bezeichnet.

Das Kultusministerium der Ukraine vermeldete am 13. Januar 2014 die Möglichkeit, der UGKK wegen ihrer Teilnahme und ihrem Dienst auf dem Majdan die Registrierung abzuerkennen. Diese Entschließung rief eine Flut von Erschütterungen in der Gesellschaft hervor. Am 15. Januar fand der interkonfessionelle Runde Tisch „Theologie in Anwesenheit des Majdan“ statt, und am 17. Januar ein zweiter Runder Tisch „Der Majdan und die Kirche“, der von den evangelischen Christen organisiert worden war. Das waren Versuche, die Anwesenheit der Kirchen auf dem Euromajdan theoretisch zu überdenken und die Möglichkeiten eines koordinierteren gemeinsamen Handelns zu erörtern.

Die ambivalente Rolle der ukrainischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats

Eine besondere Position in den beschriebenen Ereignissen nimmt die ukrainische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK MP) ein, indem sie sich zu einer klaren Neutralität gegenüber der Protestbewegung entschloss. Die Vertreter der UOK MP traten offiziell nicht auf der Bühne des Majdan auf und nahmen auch nicht an den oben erwähnten Runden Tischen teil. Es ertönte eine Reihe von Aufrufen und Erklärungen der führenden Hierarchen dieser Kirche, in denen diese ihre neutrale Position begründeten und mahnten, den politischen Kampf nicht in einen „heiligen Krieg“ zu verwandeln. Diese Kirche war jedoch die einzige, die den Einsatz von Gewalt gegenüber den Teilnehmern des Protestes durch die Obrigkeit nicht verurteilte.

Zum ersten Mal erschienen Geistliche der UOK MP offiziell auf dem Majdan, als die starken Proteste begannen. Gewiss, früher hatten einzelne Geistliche an dem Protest teilgenommen, aber ausschließlich privat. Am Abend des 19. Januar – dem orthodoxen Feiertag der Taufe des Herrn – kam es zu einem Umschwung des friedlichen Widerstandes, nachdem ein Scharmützel mit den bewaffneten Sperrposten der Streitkräfte des Innenministeriums stattgefunden hatte, die den Weg zum Obersten Sowjet und zum Regierungsgebäude in der Gruschewska-Straße abgesperrt hatten. Dieser Tag wurde als „blutige Taufe“ bezeichnet. Am 21. Januar erschienen auf dem Niemandsland zwischen den Protestierern und den Streitkräften des Innenministeriums und der Spezialeinheit „Berkut“ Geistliche mit Kreuzen und Ikonen. Das waren Mönche der Zehnt-Kirche (das ist eine illegal gebaute Kirche neben dem historischen Fundament der gleichnamigen altrussischen Kirche, dem ersten in Kiew nach der Christianisierung errichteten Gotteshaus). Ihnen schlossen sich andere an, sowohl Laien als auch Geistliche anderer Kirchen und sogar Buddhisten. Leider stoppte das nicht den gewaltsamen Widerstand.

Es erscheint auf den ersten Blick merkwürdig, aber dieses Verhalten rief erneut einen Sturm von Kontroversen unter den Teilnehmern des Majdan und in der Gesellschaft hervor. Wie oben angemerkt, führte die neutrale Haltung, die die UOK MP gegenüber dem Protest eingenommen hatte, zum Rückgang ihrer Autorität in der Gesellschaft. Wie die Teilnehmer der Ereignisse auf der Gruschewska-Straße bezeugen, wandten sich die Mönche zunächst an eine Reihe von Vertretern der Machthaber, segneten sie und gaben zu verstehen, dass sie sie vor den aggressiv gestimmten Protestierenden schützen würden. Die Vertreter dieser Kirche erweckten Argwohn auch aufgrund der Erklärungen einiger Hierarchen, die den Majdan negativ bewerteten und die Obrigkeit unterstützten. Aus dem Mund des Erzpriesters Tkatschev kam sogar eine Verwünschung der Majdanaktivisten, obwohl man einräumen muss, dass er dafür sofort von seiner Kirche getadelt wurde.

Vermittlung und Hilfseinsatz während der Kämpfe

Besonders herauszustreichen ist die aktive Teilnahme der UOK KP, der UGKK und der RKK. Die Geistlichen fühlten im Protest nicht nur durch das Gebet und die Beichte mit, sondern fanden sich auch in allen Augenblicken des Majdan bei den Menschen, selbst während der gewaltsamen Auseinandersetzungen. Alle Kirchen riefen zum Frieden und zur Gewaltlosigkeit auf, und niemand segnete die gewaltsame Variante. Die Rolle der Kirche im gewaltsamen Widerstand führt auch zu dem Gedanken, ob wir es nicht im vorliegenden Fall mit einer Art von Befreiungstheologie zu tun haben. Vielen Seelsorgern, die auf den Barrikaden ausgehalten haben, fällt es jetzt schwer, über die Vorgänge zu sprechen. Oftmals kam, wenn sich die Lage zuspitzte, den Hierarchen und Kirchenleitern die Rolle von Friedensstiftern zu, indem sie die Seiten während der Kämpfe auseinander brachten und die Verwundeten versorgten. Die Seelsorger waren bei den Menschen auf den Barrikaden – nahmen die Beichte ab, feierten die Liturgie und halfen den Menschen, mit ihren schweren seelischen Erschütterungen fertig zu werden.

Der gewaltsame Widerstand erreichte einen tragischen Höhepunkt in der zweiten Januarhälfte, besonders seit dem Auftauchen von Scharfschützen am 20. Januar 2014. Der 21. und der 22. Januar wurden zu Gedenktagen der „Himmlischen Hundert“ – so nannte man die Euromajdan-Teilnehmer, die in der Hölle der aufgeloderten Gewalt umgekommen waren. Diese Bezeichnung, die im Volk spontan gleich nach den Erschießungen aufgekommen war, unterstreicht nochmals den religiösen Charakter des Widerstandes – jetzt wurden die Umgekommenen zu himmlischen Heerscharen, die vom Himmel aus alle lebenden Majdanteilnehmer schützten. Dieses Phänomen von Heiligen der Zivilreligion bedarf noch einer theologischen Betrachtung. Schon am 3. September 2014 weihte der Patriarch der UOK KP in Kiew das „Denkmal der Himmlischen Hundertschaft“.

Theologische Bedeutung des Majdan

Betrachtet man die Teilnahme der Kirche an der Revolution unter diesem Blickwinkel, muss man anmerken, dass der Majdan außer einer starken ökumenischen Bewegung auch Streitigkeiten und Konflikte innerhalb der Kirchen selbst hervorbrachte. Zum Beispiel teilten sich die Baptisten in Anhänger und Gegner der Teilnahme am Widerstand. Eines der Hauptargumente war dabei die Nichteinmischung in weltliche Angelegenheiten. Wie kann man jedoch das Weltliche und das Göttliche im Falle der Kirche trennen, einer irdischen Institution, die aufgerufen ist, den Menschen hier auf der Erde zu helfen, zu Gott zu gelangen und zugleich wirkliche Bürger dieser irdischen Gesellschaft zu sein? Der Grat ist ungewöhnlich schmal, und die Kirche kann leicht ihre Kompetenzen überschreiten. Die Kirche besteht – und daran ist stets zu erinnern – auch aus Menschen, die unterschiedliche politische Ansichten und ein unterschiedliches Verständnis von ihrer patriotischen Pflicht haben. Wie ist in diesem Zusammenhang das Wort des Apostels Paulus im Brief an die Römer zu deuten, dass alle Macht von Gott stammt (vgl. Röm 13,1)? Was ist unter „Macht“ zu verstehen – die aktuellen Machthaber oder die Macht als Institution in der Gesellschaft?

Der Majdan ist auch ein innerer Majdan, der Ort eines geistigen Kampfes, einer Revision der eigenen Handlungsweisen in der Gesellschaft, der aktiven Rolle und Befähigung zur Selbstaufopferung bis zum Tod. Der Euromajdan wird nicht nur als Beginn der Bildung einer Zivilgesellschaft angesehen, sondern auch als Aufschwung einer nationalen Idee. Aber die Religion spielte immer eine wesentliche Rolle in diesem Prozess. Mit der neuen Kraft wuchs auch die Notwendigkeit zu einer einheitlichen orthodoxen Kirche. Jetzt, in der Situation der Okkupation der Krim und des Krieges mit Russland im Donbass, sind neue Bewährungsproben auf die Ukraine und die Kirchen hinzugekommen. Die Menschen sterben erneut für europäische Werte, indem sie die Grenzen Europas schützen.

Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Friedemann Kluge.