„Ich spreche nicht die Sprache der Okkupanten!“

Zur Sprachenfrage in der Ukraine
aus OWEP 4/2014  •  von Anja Lange

Anja Lange ist Slawistin mit dem Schwerpunkt Literatur- und Kulturwissenschaft und arbeitet seit September 2014 als DAAD-Lektorin an der Nationalen Technischen Universität Kiew.

Zusammenfassung

Die Ukraine ist zweifellos ein mehrsprachiges Land, aber lassen sich klare Grenzlinien zwischen ukrainisch- und russischsprachigen Bewohnern ziehen? Eine Auswertung verschiedener Statistiken soll versuchen, ein wenig Licht ins Dunkle zu bringen und einige Aspekte der Sprachenfrage in der Ukraine zu umreißen.

Die Sprachenproblematik ist ein hochbrisantes Thema in der Ukraine, um das im Parlament auch mit Fäusten gekämpft wird. Die Pro-Ukrainer wollen die ukrainische Sprache als alleinige Staatssprache behalten, die Pro-Russen sehen in der Verabschiedung des Gesetzes „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik“ (Pro sasady derzhawnoj movnoj polityky) vom 10. August 2012 eine Stärkung der russischen Sprache. Die Akademie der Wissenschaften der Ukraine gab eine Publikation mit dem Titel „Zwischen Konflikt und Kompromiss“ heraus; der Titel fasst die Sprachensituation der Ukraine sehr treffend zusammen.1 Die Frage, welche Sprache in der Ukraine gesprochen werden soll, ist emotional sehr aufgeladen. Die aufschreienden Plädoyers für die ukrainische Sprache werden mit Hinweisen auf ihre „tragische Geschichte“ (Dijak, 2000) oder ihre „Diskriminierung“ (Kononenko, 1999) gehalten, Radešč-Vynnyckyj (2003) spricht von einem „linhvocyd“ (also einem „Linguozid“) in der Ukraine, der das Ziel eines „etnocyds“ des ukrainischen Volkes hätte. Man müsse gar zur Rettung der ukrainischen Sprache schreiten, so Macjuk (2004). Diese Liste ließe sich beliebig weiterführen.

Wenn es in der aktuellen Krise um Sprachen geht, ist meist von zwei Lagern die Rede: Die Westukrainer sind pro-europäisch und sprechen Ukrainisch, die Ostukrainer sind hingegen für Russland und sprechen Russisch. Dabei ist die Sprachensituation viel komplexer und die Einteilung längst nicht so klar. Ohne Zweifel gibt es in der Ukraine eine Art „Sprachgrenze“, die in etwa dem Verlauf des Dnjepr entspricht. Im Osten überwiegt Russisch, im Westen Ukrainisch. Was ist jedoch mit denen, die beide Sprachen sprechen? Wozu gehören die, die die Mischsprache Suržyk sprechen?

Der umstrittene Zensus von 2001

Zur Sprachenfrage gibt es eine Unmenge Publikationen und Statistiken, die jedoch nicht ohne Weiteres vertrauenswürdig bzw. tendenzfrei sind. Der Zensus von 2001 wird wahrscheinlich erst im Jahr 2016 wiederholt werden. Bis dahin sind die Zahlen von 2001 die umfassendsten Angaben, die auf dem Gebiet der Sprachenfrage existieren. Der Zensus ist allerdings nicht unumstritten, da bei der Erhebung erhebliche Fehler gemacht worden seien. Darin gaben 67,5 Prozent der Ukrainer Ukrainisch als ihre Muttersprache an, 29,6 Prozent nannten Russisch.2 Ein Kritikpunkt am Zensus liegt in der Fragestellung. „Welche Sprache ist Ihre Muttersprache?“ Dabei konnte man sich nur zwischen Russisch und Ukrainisch entscheiden; beide Sprachen anzugeben war nicht möglich. Das entspricht indes nicht der tatsächlichen Sprachensituation.

Muttersprache = Nation?

Die Muttersprache ist eng mit der Nationalität bzw. der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verbunden. Eine Umfrage aus dem Jahr 2006 fragte, welcher Kultur man sich zugehörig fühlte.3 Über die Hälfte der Befragten gab an, sich mit der ukrainischen Kultur verbunden zu fühlen, nur 11 Prozent standen der russischen Kultur nahe. 16 Prozent bezeichneten sich gar der Sowjetunion verbunden. Nach Tadeusz Olszański ist die Prozentzahl derer, die nur Ukrainisch zu Hause sprechen, zwischen 2007 und 2011 von 40 auf 47 Prozent gestiegen.4

Viele Ukrainer behaupten von sich, sie seien zweisprachig. Was bedeutet das? Eine Selbsteinschätzung gibt darüber Aufschluss.

Die Tabelle zeigt, dass nur ganz wenige Menschen in der Ukraine wirklich einsprachig sind und die Mehrheit beide Sprachen unterschiedlich gut beherrscht oder zumindest versteht.

Das Gesetz „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik“

Da viele Ukrainer sowohl Ukrainisch als auch Russisch sprechen, brachte die ukrainische Regierung 2012 ein Gesetz auf den Weg, das Minderheitensprachen schützen sollte. Das eingangs bereits erwähnte Gesetz „Über die Grundlagen der staatlichen Sprachenpolitik“ vom August 2012 löste gemischte Reaktionen aus. Kurz nach der Fußball-Europameisterschaft 2012 wurde ein Gesetz diskutiert, das die Sprachenfrage auf die Ebene der Oblaste (Bezirke) verlagerte. Wird in einem Bezirk eine andere Sprache als Ukrainisch von über 10 Prozent der Bevölkerung gesprochen, ist sie automatisch zweite Amtssprache. Amtssprache bedeutet in diesem Falle, dass nicht mehr nur die Alltagskommunikation auf Russisch erfolgt (was in vielen Teilen des Ostens und des Südens bereits der Fall ist), sondern dass auch wissenschaftliche Arbeiten an Universitäten und Schulen auf Russisch verfasst und verteidigt werden können. Auf Behörden könnte ebenfalls alles auf Russisch erledigt werden. Faktisch lief das Gesetz auf eine Stärkung der russischen Sprache hinaus, allerdings stärkte es auch den Status von Minderheitensprachen wie Rumänisch oder Ungarisch, die in Teilen der Ukraine ebenfalls gesprochen werden. Am 23. Februar 2014 wurde das Gesetz in einer außerordentlichen Sitzung des Parlaments außer Kraft gesetzt, was unter anderem ein Grund zur Eskalation der Krimkrise war.

Die Mischsprache „Suržyk“

Die Mischsprache Suržyk ist möglich „dank der Koexistenz von zwei gegenseitig verständlichen Sprachen im selben Gebiet.“5 Der Terminus geht auf den Ausdruck „sumisch riznych seren s zhytom“ zurück. Suržyk ist seit einiger Zeit Thema wissenschaftlicher Arbeiten und auch polemischer und emotionaler Diskussionen. So habe es beispielsweise dazu verholfen, dass die russische Sprache stärker werden konnte.6 Die Ursache der Mischsprache sei eine dominante Sprache (= Russisch) und eine unterdrückte Sprache (= Ukrainisch bzw. Weißrussisch), wobei Suržyk mit der Mischsprache Trasjanka in Weißrussland gleichgesetzt wird. Es gibt bisher nur wenige Statistiken, die die Mischsprache explizit erfragen, da viele Sprecher des „Suržyk“ sich ihres Kauderwelsches selbst nicht bewusst sind und glauben, sie sprächen eine Sprache (meist handelt es sich um Russischmuttersprachler, die Ukrainisch zu sprechen meinen). Aus einer Statistik aus dem Jahr 2003 geht hervor, dass in der Zentralukraine bis zu 20 Prozent der Menschen diese Mischsprache sprechen. Sie kommen im Zensus von 2001 nicht vor.

Eigene Beobachtungen

In der Hauptstadt Kiew werden beide Sprachen gesprochen. Im Zuge der aktuellen Entwicklungen gibt es verschiedene Ansichten, wie die politischen Ereignisse mit der Sprachenfrage zusammenhängen. Einige sind für Ukrainisch als alleinige Sprache und meinen, es gäbe den Konflikt ohne die Zweisprachigkeit der Ukraine nicht. Das radikalisiert sich zu der Ansicht „Ich spreche nicht die Sprache der Okkupanten“; Russisch wird dann generell abgelehnt. Viele besinnen sich auf die Nationalsprache, die ukrainische Identität und Geschichte. Andererseits sehen sich viele russischsprachige Ukrainer missverstanden, wenn sie automatisch als pro-russisch eingestellt bezeichnet werden. Vor allem junge Menschen sehen in der Zweisprachigkeit des Landes eher eine Chance als einen Nachteil. Viele haben sowohl russische als auch ukrainische Freunde und wechseln auch dementsprechend die Sprache. Einer Umfrage zufolge sieht die Mehrheit der Ukrainer die Sprachenfrage nicht als Problem: 2001 meinten 7 Prozent, dass die Sprachenfrage schnell gelöst werden müsse, 2011 sagten 70 Prozent der Befragten, dass die Sprachenfrage für sie keine Rolle spiele.7

Generell ist zu sagen: Die Sprachenfrage wird im Ausland und in der ukrainischen Politik schärfer diskutiert und problematischer bewertet, als dies im ukrainischen Alltag der Fall ist. Besonders vor Wahlen wird die Thematik auf die Agenda gebracht, um damit von anderen Problemen abzulenken.8 Es bleibt abzuwarten, wie sich die Zweisprachigkeit des Landes angesichts der aktuellen Ereignisse weiter entwickeln wird.


Fußnoten:


  1. NAN Ukrajiny: Movna sytuacija v Ukrajini: Miž konfliktom i konsensusom. Kiew 2008. ↩︎

  2. Ausführliches Material findet sich unter http://database.ukrcensus.gov.ua /MULT/Database/Census/databasetree_en.asp (letzter Zugriff: 27.11.2015). ↩︎

  3. Institute of Sociology. The National Academy of Sciences of Ukraine and the company Socis, Zerkalo Nedeli, nr. 31, 2006; zit. nach Tadeusz A. Olszański: The Language Issue in Ukraine – an Attempt at a New Perspective. Warschau 2012, S. 19. ↩︎

  4. Ebd., S. 20. ↩︎

  5. Ebd., S. 12. ↩︎

  6. Sergij Tereschenko: Die Konzeption des „Suržyk“ half der russischen Sprache in der Ukraine: http://gazeta.ua/articles/sergij-tereschenko/_koncepciya-surzhiku-dopomogla-rosijskij-movi-v-ukrayini/428903 (letzter Zugriff: 27.11.2015). ↩︎

  7. Olszański (wie Anm. 3, oben S. 300), S. 23. ↩︎

  8. Matthias Guttke und Hartmut Rank haben untersucht, wie in der Ukraine „Mit der Sprachenfrage auf Stimmenfang“ gegangen wird: http://www.bpb.de/internationales/europa /ukraine/144396/analyse-mit-der-sprachenfrage-auf-stimmenfang-zur-aktuellen-sprachgesetzgebung-in-der-ukraine?p=all (letzter Zugriff: 27.11.2015). – Der Text ist auch an anderer Stelle einsehbar, vgl. dazu oben S. 293, Anm. 3. ↩︎