Episoden aus der Seelsorge in der ungarischen Provinz

aus OWEP 3/2011  •  von András Koncz

András Koncz ist Mitarbeiter der ungarischen katholischen Laienorganisation „HÁLÓ“ (Netz Katholischer Gemeinschaften).

Zusammenfassung

Abseits der großen Städte hat sich besonders in den Grenzregionen Ungarns im Nordosten die demografische Lage in den letzten zwanzig Jahren dramatisch verändert. Wenn die Kirche in den aussterbenden Dörfern die Menschen erreichen will, sind neue Wege der Seelsorge gefragt. Immer wichtiger werden kleinere Laiengemeinschaften, doch auch das traditionelle Priesterbild ist im Wandel begriffen.

Zum Gedenken an Miklós Tomka (1941-2010)

Jesus Christus ist derselbe gestern,
heute und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8]

Miklós Tomka, einer bedeutendsten ungarischen Religionssoziologen, veröffentlichte 2009 die Ergebnisse seiner Forschungen über Religiosität auf dem Land und in der Stadt. Danach stagniert der Anteil der Gläubigen in den jüngeren Altersgruppen in den Städten seit der politischen Wende – auf dem Land hingegen zeigt sich dieses Phänomen bei der älteren Generation. Ursache dafür ist zum einen die Tatsache, dass die älteren und eher religiös eingestellten Dorfbewohner verstorben sind, zum anderen die Abwanderung vieler jüngerer Bewohner in die Städte, weil sie dort Arbeit gefunden haben. Gleichzeitig blieben der Stolz auf die Kirche und Bemühungen zu ihrer Erhaltung typisch für das Land – allerdings verbunden mit geringerem Kirchenbesuch. Kurz gesagt: Die traditionelle Religiosität im Dorf ist in den letzten zwanzig Jahren in sich zusammengebrochen.

Was gilt als zu viel und was als zu wenig?

„Das Komitat Borsod-Abaúj-Zemplén, wo ich lebe, steht von den 19 Komitaten in Ungarn auf dem hundertzwanzigsten Platz … In Anbetracht seiner Überalterung, seines schrumpfenden wirtschaftlichen Niveaus und seiner geringen geistigen Potenz gilt es als eine Region im Niedergang.1 In diesem Prozess führt die zurückgehende Geburtenrate, die steigende Sterberate sowie die massive Abwanderung dazu, dass … sich die kleineren Dörfer vollkommen entvölkern. Einst große Gemeinden, aus denen sogar Priesterberufungen hervorgingen, sind zu Gehöften mit 20-30 Einwohnern verfallen. Besonders ältere Leute sind geblieben, ihre fromme Anhänglichkeit an der Kirche bleibt unbestritten. Der Bedarf für die Seelsorge ist eindeutig – aber wie soll das der Priester schaffen, wenn er gleichzeitig in fünf oder sechs anderen Dörfern zur Messe erwartet wird, außerdem noch karitativ arbeiten muss und nicht mehr ganz jung ist …“ – sagt Rita Orosz, Ehefrau eines griechisch-katholischen Priesters.2

Episode 1: Dámóc
Der frühere Priester Atanáz (Athanas), seit März 2011 Exarch (Bischof) für die grechisch-katholischen Gläubigen, hat vor kurzem in der überfüllten Kirche von Dámóc den Dorfbewohnern seinen Dank für die unermüdliche Zuneigung und Treue ausgedrückt. Obwohl die Kirchengemeinde in Dámóc aufgrund ihrer Größe als wichtig erscheinen mag, ist die Kirche heutzutage nur selten gut besucht. Von den 400 Einwohnern besuchen acht bis zehn alte Frauen sowohl bei Regen, Schnee als auch bei Hitze die tägliche Göttliche Liturgie, den Gottesdienst der griechisch-katholischen Christen. Wie lange kann wohl diese kleine „Herde“ in Zeiten des Priestermangels noch von ihrem eigenen „Hirten“ betreut werden?

Nicht weit von hier, nur eben auf der anderen Seite der Grenze in den teils von Ungarn bewohnten Gebieten der Slowakei (Oberungarn) und Transkarpatien (Ukraine) gibt es mehr Berufungen zum Priestertum in der griechisch-katholischen Kirche als Pfarrstellen. Körtvélyes (Hrušov, Slowakei) ist eine winzige Dorfgemeinde, deren 280 Einwohner je zu einem Drittel ungarischer, slowakischer und ruthenischer (ukrainischer) Abstammung ist. Nach Konfession und Ritus gehört ein Drittel dem römisch-katholischen, ein Drittel dem griechisch-katholischen und ein Drittel dem evangelisch-lutherischen Bekenntnis an. „Sie haben bei Ihrer Ankunft bestimmt schon gesehen, dass das Tor der Pfarramtes weit geöffnet steht. Wir versuchen, in aller Offenheit eine Gemeinschaft aufzubauen, und … hoffen, den Menschen … sowohl in guten als auch in schlechten Zeiten zur Seite stehen zu können. Für uns selbst besteht die größte Herausforderung im kompletten Mangel an intellektuellem Leben: Es gibt keinen Lehrer und keinen Arzt im Dorf. Es gibt niemanden, mit dem wir über die wesentlichen Fragen des Lebens diskutieren könnten. Ich möchte mich aber nicht beklagen, nachdem wir das Glück haben, dass griechisch-katholische Priester heiraten dürfen und wir uns somit zumindest gegenseitig unterstützen können“ – so beschreibt Erzsébet Kosztura ihre Lage in der netten kleinen Parochie, wo sie mit zwei kleinen Kindern lebt.

Kleingemeinschaften und gemeinschaftsinterne persönliche Kontakte

Dorfgemeinschaften haben noch bis vor kurzem als Musterbeispiel für die Städte und Gegenentwurf zur dortigen Anonymität gedient. Allerdings befinden sich heute eher die Dörfer in Not, nachdem das Bild der Großfamilie und der alten Dorfgemeinschaften schon lange der Vergangenheit angehört und die Dörfer nicht mehr in der Lage sind, neue Gemeinschaften zu bilden, obwohl der Mensch in der heutigen Welt seelischer Unterstützung und Führung bedarf. Rita Orosz beschreibt das Verlangen des heutigen Menschen nach einer Gemeinschaft wie folgt: „Die in unserem Umkreis lebenden Menschen haben in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten viele Enttäuschungen erleben müssen. Die Folgen der vierzigjährigen Diktatur sind noch immer stark präsent. Heutzutage ist das freundschaftliche und unterstützende Zusammensein in vielen Familien nicht mehr vorhanden. Sogar beim Sport, im Chor oder an sonstigen Stellen trauen sich immer weniger Menschen, sich gegenseitig zu öffnen – diese Gemeinschaften können sich somit zu keiner echten Gemeinschaft entwickeln, obwohl Gott den Menschen als Gemeinschaftswesen geschaffen hat. Zeitweise glaubt man, alles individuell lösen zu können – schade.“

Zsuzsa Gaga, Mitarbeiterin der Organisation „HÁLÓ“ (Netz Katholischer Gemeinschaften) berichtet von ihren Erfahrungen auf dem Lande wie folgt: „In der vergangenen Dekade wurde es üblich, dass sich die kleinen Gemeinschaften bei den Mitgliedern zuhause treffen. Damit möchten sie die Bedeutung der Gemeinschaft in ihren Alltagen und in ihrem Leben betonen. Diese Art des Zusammenkommens ist für die städtischen Gemeinschaften zwar selbstverständlich, nicht aber für eine Kleingemeinschaft im Dorf. Ein jeder wird schon einmal die große Gastfreundlichkeit von Dorfbewohnern erlebt haben, denn sie freuen sich, wenn sie von Verwandten oder Freunden besucht werden, und lassen gerne einen Einblick in ihr Leben zu.“

Episode 2: Diesseits des Glasbergs
Langsam konnten die Mitglieder der katholischen Kleingemeinschaft im Dorf davon überzeugt werden, wie massiv ihr Leben sich verändern würde, wenn sie von nun an immer bei dem einen oder anderen zusammenkommen würden. Somit würde jeder der Reihe nach die Rolle des Gastgebers übernehmen. Es gab wohl einige, die nicht überredet werden konnten, aber sie haben die Gemeinschaft danach auch verlassen. Die anderen haben sich für einen solchen Versuch entschieden. Das erste Treffen fand bei einer Familie statt, in der sowohl Mann als auch Frau Mitglied der Gemeinschaft waren. (Normalerweise werden die Gemeinschaften im Dorf nur von einem Ehepartner besucht.) Die Ehegattin in dieser Familie hatte bereits zwei Tage vor dem Treffen mit dem Kochen und Backen angefangen, weil das Anbieten von Köstlichkeiten nun einmal zur Gastfreundschaft gehört. Der Ehegatte hat mit den Kindern zwei Tage lang nichts anderes als Staubsaugen, Staubwischen und Hoffegen gemacht …
Und plötzlich war es soweit. Es klingelte! Der Ehegatte ging hinaus, um das Tor für die Gäste zu öffnen, und die Ehegattin folgte ihm. Plötzlich bemerkte sie Staub am unteren Rande der Eingangstür. Rasch eilte sie mit einem ins Haus zurück und wetzte die Scharte aus. Froh – sich zwar für die „Unordnung“ einigermaßen entschuldigend – empfing sie die Gäste.
Am darauffolgenden Tag wurde sie von den Verkäufern im Laden angesprochen, das Rezept des leckeren Kuchens, der den Gästen beim Besuch angeboten worden war, mitzuteilen. Froh nahm sie zur Kenntnis, dass der Besuch offensichtlich doch erfolgreich gewesen war, stellte aber auch fest, dass die Dorfnachbarn sich gar nicht oder nur wenig verändert haben: Sie erzählen immer noch gerne weiter, was man als Gast bei einem Besuch gegessen, gesehen und gehört hat.

Zigeuner und Ungarn nebeneinander

Hören wir noch einmal Rita Orosz zu, die von einer typischen Siedlung im Komitat Borsod-Abaúj-Zemplén erzählt: „Die Sommer habe ich immer bei meinen Großeltern im Dorf Rakaca verbracht. Das Dorf hatte damals 1.100 Einwohner, 1.000 ungarische Bauern und 100 Zigeuner. Heute leben in Rakaca immer noch 1.100 Einwohner, aber 1.000 davon sind Zigeuner und 100 ungarische Bauern! Diese Veränderungen haben große Spannungen verursacht. Die Ungarn neigen dazu, die Schuld für alle negativen Entwicklungen und die laufende Verschlechterung der öffentlichen Sicherheit den Zigeunern in die Schuhe zu schieben und diese dafür verantwortlich zu machen. Die Zigeuner verstehen nicht ganz, wo das Problem liegt, weil sie ihr übliches Leben entsprechend ihren Bedürfnissen weiterführen können.“

Auf allen Ebenen der Gesellschaft ist es wichtig, sich mit Empathie zu begegnen. Die gleiche ernsthafte Herausforderung bedeutet die Harmonisierung von zwei Nationalitäten innerhalb einer Religion! Tut man beiden – Ungarn und Zigeunern – einen Gefallen, wenn man gemeinsame Gottesdienste anbietet, oder sollte es getrennte Gottesdienste geben, wie etwa in dem „gemischten“ Dorf Hodász? Für beide Alternativen gibt es Beispiele. Rita Orosz fährt fort: „Ich erzähle über die Zigeuner deswegen so offen, weil ich mit ihnen zusammenarbeite. Ich bin nämlich Wohnheimleiterin. In Budapest kann sich wohl niemand vorstellen, was die Zigeunerfrage mit Wohnheimen zu tun hat, nachdem dort die Erziehungsheime mit den vernachlässigten Kindern von Fabrikarbeitern aufgefüllt werden … In unserem Komitat kommen ausschließlich Zigeunerkinder in diese Heime. Über sie habe ich die Dorfzigeuner und damit Schicksale kennen gelernt, die im normalen Umfeld unvorstellbar wären. Ich bin mir ganz sicher: Jeder Mensch ist auf der Suche nach Gott. Es ist unsere Aufgabe, Gott unabhängig von nationaler Zugehörigkeit zu vermitteln. Alles kommt auf die eine Sache an – ob wir zur Liebe zum Nächsten fähig sind.“

Der Seelsorger als Fachmann für mentale Probleme aller Art

Rita Orosz und ihr Ehegatte haben gemeinsam mit ihren fünf Kindern rund 20 Jahre in Transkarpatien (Ukraine) gelebt: „Bereits dort haben wir gelernt, dass das Leben eines Priesters sich nicht in der traditionellen Seelsorge erschöpft. Wir haben uns ernsthaft in die Vermittlung von Kultur, in die Themen Gesundheit, Arbeit und Bildung eingearbeitet. Das Gleiche sehen wir auch in Ungarn: Unsere klare Haltung und unser Ersatz werden erwartet und verlangt.“

Wenn man über Seelsorge nachdenkt, so lohnt es sich, die Frage über die möglichen Tätigkeiten der Pfarrer und Ansprüche der Gläubigen über das aktuelle Potenzial der Seelenhirten hinaus auch vom Blickwinkel der Erwartungshaltung anzugehen. Das größte Problem im Komitat Borsod-Abaúj-Zemplén bedeutet die Arbeitslosigkeit und die daraus folgende allgemeine Depression in der Gesellschaft. Würden die Priester über ihre theologischen Studien hinaus Kenntnisse zum Umgang mit diesem Phänomen besitzen, so könnten sie auch mehr konkrete Hilfe leisten. Aus dieser Überlegung heraus wurde durch eine Kooperation dreier Budapester Universitäten die Fortbildungsfakultät für Seelsorge gegründet, an der immer mehr Geistliche entsprechende Kurse belegen. Einige Kurse richten sich speziell an Krankenhausseelsorger, andere an Militärgeistliche; besonders wichtig sind Ausbildungsgänge für Familien- und Jugendpastoration. Die Seelsorger müssen ein umfangreiches Wissen erwerben, das sie befähigt, mit den Problemen der Menschen umzugehen, ihnen aber auch zeigt, wo die Grenzen der Seelsorge liegen, damit sie Menschen je nach Krankheitsbild an einen Arzt vermitteln können. Entscheidend ist, wie Rita Orosz betont, der echte und unvoreingenommene Dialog: „Es ist ein Erlebnis, manchen Gesprächen zuzuhören, in denen für den Laien oft ungewohnte Begriffe verwendet werden. Häufig erwartet man schlüssige und direkte Ratschläge vom Priester, etwa bei der Beichte. Für mich ist es ein besonderes Wunder, dass sich immer mehr Geistliche von dieser Erwartung trennen und in den Gesprächen eher aufmerksam zuhören.“

Priestergemeinschaften

„Der Enthusiasmus des Seelsorgers wird insbesondere durch das Desinteresse der Gläubigen, die Apathie der priesterlichen Mitbrüder und die unpersönlich gewordene kirchliche Verwaltung sowie durch den Mangel an Anerkennung gebrochen. Wie der Sportler von den Fans angefeuert wird, so sollen sich auch die Ordensmitglieder gegenseitig ermutigen, weil sich Werte im Menschen immer aus der Begeisterung der Anderen entfalten können …“ – Diese Gedanken sind im Gründungsdokument der Gemeinschaft „Apostel Sankt Johannes und Eremit Sankt Paul“ zu lesen.3 Die Gemeinschaft wurde offiziell 1996 von Bischof Béla Balás von Kaposvár gegründet; er hat die Gemeinschaft dann auch mit der Seelsorge in elf Dörfern beauftragt. Die Vorgeschichte der Gemeinschaft geht bis ins Jahr 1982 zurück; sie lenkte damals die Aufmerksamkeit des ungarischen Staatlichen Kirchenamtes auf sich. Zwei junge Männer – der eine davon war ein Priester – haben mit eigenen Händen die alte Pfarrstelle des über einige hundert Einwohner verfügenden Dorfes Miklósi (südlich des Plattensees) wiederbelebt. Nach guten zehn Jahren wurde der zweite junge Mann ebenfalls zum Priester geweiht. Heute gehören zwei Priester, zwei Priesterkandidaten und sieben externe Brüder zur Gemeinschaft. Das Leben der Gemeinschaft umfasst die Aufgaben allgemeine Pastoral, spirituelles Miteinander und ein Leben von der eigenen Hände Arbeit – alles im Hinblick auf das Wohlergehen der Menschen in den elf Dörfern.

Das nicht als Devise formulierte, sondern dem Innersten entspringende Bekenntnis dieses neuen Seelsorgemodells lautet in dem bereits genannten Dokument wie folgt: „In der heutigen kaltherzigen Welt ist das Individuum eine ungeschützte Beute. Seine Alleingelassenheit führt rasch zu Verbitterung. Das Leben nach dem Evangelium hingegen ist gemeinschaftlich und kann sich in der Gemeinschaft sinnvoll entfalten.“


Fußnoten:


  1. In der Skizze zu Beginn des Beitrags ist die Lage dieses Komitats (Verwaltungsbezirks) im Nordosten Ungarns durch die gestrichelte Linie angedeutet, ebenso die ungefähre Lage der im Text erwähnten Orte. ↩︎

  2. Zur griechisch-katholischen Kirche in Ungarn bekennen sich ca. 300.000 (von insgesamt etwa 6 Millionen) Katholiken. Zum Begriff „griechisch-katholisch“ vgl. auch Thomas Bremer: Die östlichen Kirchen – ein Überblick. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 10 (2009), H. 3., S. 163-178, bes. S. 171 f. und S. 176 f. (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Informationen zu dieser Gemeinschaft finden sich unter http://uj.katolikus.hu/rendek.php?h=97 (in ungarischer Sprache; letzter Zugriff: 30.11.2015). ↩︎