Grenzlandschaften im Zentralbalkan: Dimitrovgrad – eine Stadt zwischen Serbien und Bulgarien

aus OWEP 3/2011  •  von Nenad Stefanov

Dr. des. Nenad Stefanov ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Beschäftigung mit Dimitrovgrad (seine Eltern stammen von dort) hängt mit seinem Forschungsprojekt „Phantomgrenzen im Zentralbalkan“ zusammen.

Zusammenfassung

Dieser Text beschäftigt sich mit dem Veränderungsprozess, der in den ruralen Gesellschaften des Balkans Ende des 19. Jahrhunderts mit der Entstehung der Nationalstaaten einsetzte und sich im 20. Jahrhundert intensivierte. Oftmals wurden aus ehemaligen Regionen Ränder an den neuen Grenzen wie im Falle der heutigen Grenzstadt Dimitrovgrad zwischen Serbien und Bulgarien. Indem darauf verwiesen wird, wie rurale Gesellschaften zur Peripherie wurden, kann auch ein oftmals idealisiertes Bild des Bauern als dem zentralen Symbol nationaler Ideologie dekonstruiert werden. Die Bauern waren vor allem Objekt im Prozess der Entstehung der Nationalstaaten; zugleich entzog sich ihr Selbstverständnis den Vorstellungen eindeutiger ethnischer Zuordnung.

I.

Dimitrovgrad: eine Kleinstadt – in deutschen Begriffen ein Dorf, ca. 6.500 Einwohner. Auf 465 m über dem Meeresspiegel in einem Tal am Rande der Kette des Balkangebirges gelegen, das sich von Südostserbien bis an die Küste des Schwarzen Meeres in Bulgarien erstreckt. Direkt an der serbisch-bulgarischen Grenze. Sicherlich die richtigen Stichworte, um die Vorstellung von vollständiger Peripherie im gebirgigen Nirgendwo zu assoziieren.

Land und Dorf auf dem Balkan: Darin vermitteln sich zumeist stark aufgeladene Bilder, die zugleich oft Vorstellungen vom Balkan insgesamt prägen. In ihnen verdichten sich Imaginationen des Balkans als entlegenes, entrücktes und unwegsames Gelände. Die vermeintliche Unverständlichkeit und Kompliziertheit des Balkans visualisiert sich in schwer zugänglichen Gebirgsregionen, scheinbar abgeschnitten von jeder Zivilisation. Dieses Archaische steht im Mittelpunkt zweier einander entgegengesetzter Wahrnehmungsformen des Balkans. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts hat sich im europäischen Blick, aber auch bei den Protagonisten nationaler Ideen auf dem Balkan selbst ein Narrativ des Ruralen herausgebildet, in dem das Dorf für die Grundlage und den Ausgangspunkt des nationalen Wesens steht.

Dimitrovgrad im Jahre 2009 (Foto: Nicole Münnich).

Mitteleuropäische Gelehrte des 19. Jahrhunderts wie Felix Kanitz (1829-1904) und Konstantin Jireček (1854-1918) gingen von einem unvermeidlich bevorstehenden Ende der osmanischen Herrschaft aus. Für das Neue stand nach Ansicht beider Gelehrten dagegen eine (angenommene) Vitalität der bäuerlichen Gesellschaft, aus der heraus sich eine Nation bilden sollte. Diese sei unbelastet vom vermeintlich degenerierten orientalischen Erbe und zugleich offen für europäische Zivilisierung. Hier kristallisierte sich ein bemerkenswerter Ideentransfer zwischen mitteleuropäischen, romantisierenden Staatskonzeptionen und der Vorstellung vom Nationalstaat auf dem Balkan heraus. Die Vorstellung des Dorfes als Kern der serbischen wie der bulgarischen Nation ist demnach keine lokale Spezialität, sondern das Ergebnis von Austausch und Aneignung von Vorstellungen von Moderne, wie sie in Mitteleuropa zwischen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts existierten.

Umgekehrt sahen und sehen Kritiker dieses Dorfkultes im Ethnonationalismus gerade angesichts der Kriege in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts manchmal nicht allein in dieser Ideologie, sondern in der patriarchalen und damit ruralen Kultur des Balkan die Ursachen für die Dynamik der Gewalt. Solche Interpretationen lokalisieren den Ausgangspunkt von Nationalismus, Zerstörung von Gesellschaft und den Affekt gegen die Moderne und die Abwehr von Differenz im ländlichen Raum. Dieser These zufolge hätten die Konservierung von anti-urbanen Verhaltensmustern und die Skepsis gegenüber der Stadt als Verkörperung der Moderne zu ethnonationaler Mobilisierung beigetragen.

Eine Möglichkeit, den gesellschaftlichen Ort der Ideologie des Dorfes zu umreißen und zugleich im Kontrast dazu eine Annäherung an Alltagspraktiken und Lebensweisen in den Dörfern zu unternehmen, bietet ein mikrogeschichtlicher Ansatz. Die mikrohistorische Fokussierung auf eine bestimmte Region kommt einem Prisma gleich, in der sich Herrschaftsformen, Ideologien und Handlungsweisen der lokalen Bevölkerung in ihrer Vielfältigkeit verdichten, sichtbar werden und zugleich in ihren verschiedenen Nuancen brechen.

II.

Veranschaulicht wird dies hier kurz anhand einer Region im Zentralbalkan, die heute Grenzgebiet zwischen Serbien und Bulgarien ist. Im Mittelpunkt der Region steht die Stadt Dimitrovgrad (bis 1956 Caribrod). Anhand der Stadt und ihrer Umgebung können einerseits die grundlegenden Veränderungen mit der Entstehung der Nationalstaaten, andererseits aber auch die Reaktion der lokalen Bevölkerung darauf skizziert werden. Während dieses Gebiet, der so genannte Šopluk, jahrhundertelang ungeteilt inmitten des osmanischen Herrschaftsgebiets auf dem Balkan lag, wurde es mit der Etablierung der Nationalstaaten 1878 zu einem Grenzgebiet, zur Peripherie an den Rändern der neuen Staaten Serbien und Bulgarien. Die muslimischen, jüdischen und christlichen Kaufleute dieser Gegend hatten bis dahin weitreichende Handelsbeziehungen mit Städten in Serbien sowie nach Zentralbulgarien und Thrakien gepflegt. Wichtig als Absatzmarkt war vor allem aber das herrschaftliches Zentrum Istanbul. Doch nicht nur die Städter, auch die angeblich isolierten Bauern standen in einem dichten überregionalen Kommunikationsnetz und verfügten über weitreichende Handelsbeziehungen.

Die Etablierung der Grenze quer durch das Gebiet beinhaltete zugleich eine neue Erfahrung der Bedeutung nationaler Zuordnung. Religiöse Zuordnung etwa hatte bis dahin keine weitere abgrenzende Funktion. So waren serbische und bulgarische Gelehrte verwundert, dass die Menschen sich lediglich ganz allgemein als Christen beschrieben. Einzig die Zuordnung zu einer Mikroregion, in der sich ihr Dorf befand, war üblich. So gab es anstelle von Familiennamen zumeist einen Zusatz, der die Herkunft aus einer der Landschaften kennzeichnete. Diese unterschieden sich zumeist dahingehend, ob sie vornehmlich von Agrarwirtschaft oder Viehzucht lebten, ob es Waldgebiete oder Hochebenen waren. „Nation“ hingegen war etwas Neues und wurde lediglich in den neuen Staatsbeamten und Lehrern konkret, die im Zuge der Nationalstaatsbildung in die Dörfer kamen. Sie personifizierten vor allem einen neuen Zwang zur Eindeutigkeit, der bis dahin unbekannt gewesen war. Den Menschen dieser Region war es vertraut, verschiedene Sprachen in verschiedenen Kontexten zu benutzen. Selbst die Dörfer waren nicht, wie es eine beliebte Wendung in den Nationalgeschichten ist, „Horte ethnischer Reinheit“. Vielmehr lebten auch Türken, Roma und andere Minderheiten in einzelnen Vierteln. Die Protagonisten nationaler Ideen hatten Mitte des 19. Jahrhunderts Schwierigkeiten, in ihrer Vorstellung exakter Wissenschaft eindeutige Definitionen von sprachlicher und ethnischer Zuordnung zu finden. Zunächst behalfen sich Gelehrte daher zumeist mit der Feststellung wie der berühmte serbische Sprachreformers Vuk Karadžić (1787-1864), die Bauern sprächen weder richtig serbisch noch richtig bulgarisch. Ein englischer Konsul stellte bei seiner Durchreise durch diese Gebiete 1841 schlicht fest, es handele sich um Serbobulgaren, die eine serbobulgarische Sprache sprächen. Hinzu kam, dass vor allem serbische Ethnographen und Historiker um die Jahrhundertwende enttäuscht feststellten, dass die Menschen dieser Region über keinerlei historisches Gedächtnis verfügen. Im Gegensatz etwa zum patriarchalen Geist der Herzegowiner, die sich an ihre Vorfahren und bedeutende Ereignisse über viele Generationen zurück erinnerten, reiche die Erinnerung höchstens in die dritte Generation zurück.

Das Fehlen eines historischen Gedächtnisses ließ sich in den Augen dieser Gelehrten, die Aufklärung vor allem als nationale Erleuchtung begriffen, nur damit erklären, dass diese Menschen eines waren: einfältig. Der real existierende Bauer ließ sich nicht mit dessen ideologischer Erscheinungsform in Einklang bringen und war in seiner nationalen Un-Eindeutigkeit lediglich störend. So blieb in der Bezeichnung für diese Region, dem Šopluk, in der Zuschreibung „Šopi“, „Šop“ für die Menschen auch etwas Spöttisches und Geringschätziges.

Trotzdem blieb der Zwang für die Menschen im Šopluk zu Abgrenzung und Zuordnung nicht aus, im Gegenteil, die Indifferenz der lokalen Bevölkerung gegen nationale Zuordnung intensivierte die Bestrebungen der neuen nationalen Zentren: Die Grenze war nicht nur eine Linie, die durch die Landschaft gezogen wurde. Auf beiden Seiten symbolisierte sie die tiefgreifenden Veränderungen, in denen die Städte ihr Gesicht und ihre Sprache veränderten. Anstelle der osmanischen Agas und Begs hatten nun serbische bzw. bulgarische Beamte das Sagen, die aus anderen Gegenden kamen und als Befreier gewürdigt werden wollten – und dies obendrein in einer Sprache, die die Bauern zwar verstanden, deren Gebrauch jedoch mühsam zu erlernen war. Dementsprechend beschwerten sich die Lehrer auf beiden Seiten der Grenze, die Kinder würden ein grausiges Serbisch bzw. Bulgarisch sprechen. Die Forderung der Beamten nach Untertänigkeit und Loyalität aber war weitreichender als in der osmanischen Zeit und berührte nun die gesamte Alltagsökonomie der Landbevölkerung. Um bei der Sprache zu bleiben: Diese wandelte sich von einer offenen Kommunikationsmöglichkeit, vermittels derer bisher auch mit Kaufleuten aus Zentralserbien und Zentralbulgarien einigermaßen Verständigung erzielt werden konnte, in einen randständigen Dialekt, der die Rückständigkeit und Unzivilisiertheit des Sprechers anzeigte, der sich dessen zu schämen hatte, dass er die neuen Hochsprachen nicht beherrschte.

Buchstäblich einschneidender war die Erfahrung, dass die Grenzlinie willkürlich Äcker, Wiesen und Dorfgemarkungen trennte. Da es sich bei den Dörfern dieser Region zumeist um Weiler und Streusiedlungen handelte, blieben oftmals ganze Viertel auf der jeweils anderen Seite der Grenzlinie. Die Grenze wurde insgesamt zu einer Barriere, die einen bis dahin vertrauten Raum fremd erscheinen ließ, indem dieser sich nur noch an jenen vom Staat bestimmten Punkten der Passage erschließen ließ. Dadurch veränderten sich die Landschaft und die Formen von Kommunikation, indem nicht mehr gewohnte, leicht zu bewältigende Pfade begehbar waren, sondern Straßen kompliziert und umständlich unter Beachtung der Grenze in unwegsamem Gelände verliefen.

Über Jahrhunderte war die Region von einer dialektischen Beziehung zwischen einer transeuropäischen Route und den Mikroregionen geprägt. Durch diese Landschaft führte seit der Antike die Via militaris, die Mitteleuropa mit Konstantinopel verband. Nicht zuletzt durch westliche Gesandtschaften, die an den Hof des Sultans auf dieser alten Heerstraße zogen, sind zahlreiche Beschreibungen dieser Region seit dem 15. Jahrhundert erhalten geblieben. Sie berichten von der Kommunikation der lokalen Bevölkerung mit den Fremden durch Handel. Die Bauern verkauften den Reisenden Lebensmittel wie Mehl, Gemüse und Früchte und hinterließen in den Berichten nicht unbedingt den Eindruck großer Not und Armut, wie sie sonst immer mit der „Türkenzeit“ in der jeweiligen Nationalgeschichtsschreibung verbunden ist. So war diese Region einerseits von ihrer Kleinteiligkeit geprägt, aber zugleich auch von einem regelmäßigen Kontakt mit den Reisenden, die zwischen Wien und Konstantinopel/Istanbul unterwegs waren.

Dies setzte sich nach 1878 und in einer anderen Konstellation in neuer Qualität fort. 1888 wurde das durch Caribrod führende Teilstück des Orient-Express eröffnet, der Westeuropa mit Istanbul verband. Einerseits schrumpfte dadurch der Raum zwischen Paris und Istanbul gleichsam zusammen, andererseits veränderte sich die Kleinstadt Caribrod am Rande Serbiens und Bulgariens grundlegend: Neue Menschen mit neuen Berufen kamen in die Stadt, die zum Grenzbahnhof wurde und den Orient-Express somit im Unterschied zu den anderen Stationen länger zum Halten zwang. Von den Bahnbeamten über die Eisenbahn-Mechaniker bis hin zu Gastwirten, die die neuesten europäischen Zeitungen bereit hielten, entwickelte sich mitten in der scheinbaren Peripherie, weit weg von den neuen nationalen Zentren, eine kleine urbane Infrastruktur, mitten in der – wie es die bulgarischen Staatbeamten und Neuankömmlinge wahrnahmen – Wildnis. Die neuen Zoll- und Bahnbeamten verstanden sich als Kulturträger unter halbwilden Šopen. Ihre Stadt sahen sie als Ausgangspunkt, von dem aus die Zivilisation in die umliegenden Dörfer getragen werden sollte. Der Orient-Express verkörperte für sie die enge Verbindung zu Europa, über den Neuigkeiten aus Paris, Wien und Budapest in die balkanische Kleinstadt gelangten. So sprachen sie denn auch mit einem gewissen Stolz in dem lokalen Wochenblatt, das auf einer Druckerpresse gedruckt wurde, die ein Caribroder aus Amerika mitgebracht hatte, von der „Schwelle zu Europa“, die diese Kleinstadt für Bulgarien darstellte.

Doch solche Offenheit einer Räume verdichtenden und übergreifenden Identifikation mit Europa, verkörpert durch die regelmäßige Wiederkehr des Orient-Express in beide Richtungen, wurde beständig relativiert durch den Zwang zur Abschließung von Räumen, zu eindeutiger nationaler Ein- und Abgrenzung. 1878 wurde die Stadt – bis dahin tief im osmanischen Reich gelegen – von serbischen Truppen eingenommen, die serbische Regierung reklamierte dieses Gebiet als ursprünglich serbisches für sich. Nach eineinhalb Jahren allerdings, gemäß den Beschlüssen des Berliner Kongresses, wurde Caribrod dem neuen Fürstentum Bulgarien zugeschlagen. Nun war es an den bulgarischen Beamten, Lehrern und Offizieren, den Menschen beizubringen, dass sie nichts anderes als Bulgaren waren und ihre Sprache eine Variante des Bulgarischen. Nach 1920 und dem aus bulgarischer Sicht verlorenen Ersten Weltkrieg wurde Dimitrovgrad dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zugeordnet. Die Grenzlinie wanderte nun um einige wenige Kilometer in den Osten der Stadt, und es wiederholte sich der schwierige Prozess einer neuen Grenzziehung, indem wiederum Höfe, Dorfviertel und Felder durchschnitten wurden. Nun kam allerdings für die Bewohner auch unvermittelte Gewalt als Erfahrung von nationaler Zuordnung hinzu. Der bulgarische Staat, der sich mit dem Verlust der so genannten „westlichen Gebiete“ nicht abfinden wollte, unterstützte „nationale Befreiungskomitees“ (im Alltag „Komitadschi“ genannt), die auf dem neuserbischen Gebiet Sabotageaktionen durchführten. Die einheimische Bevölkerung fand sich damit zwischen Hammer und Amboss: Von den Komitadschi wurde mit Waffengewalt Loyalität erzwungen, von den serbischen Gendarmen die Teilnahme an Treibjagden gegen die Komitadschi verlangt. Diese Erfahrung führte zu einem ambivalenten Verhältnis gegenüber nationaler Zuordnung. Diese wurde als verordnet erlebt: Die Änderung der Familiennamen von -ov (bulgarisch) auf -ić (serbisch) war dabei noch die harmloseste Form. 1941 gelangte die Stadt im Zuge des Zweiten Weltkriegs und der Besetzung von Serbien durch Truppen der Deutschen und ihrer Verbündeten wiederum unter bulgarische Herrschaft. Nun wurden serbische Bücher verbrannt und alles, was an Serbien erinnerte, sollte im Bewusstsein der Bevölkerung ausgelöscht werden.

Dass sich im föderativen Jugoslawien nach 1945 ein Großteil der Bürger bei den Volkszählungen als „Jugoslawen“ deklarierte, spiegelte die Erfahrung des Zwangs zur nationalen Zuordnung in den Epochen zuvor wider. Gemeinsam mit der bosnischen Stadt Tuzla wies Dimitrovgrad den höchsten Anteil an „Jugoslawen“ auf. „Jugoslawe“ wurde hier zur Chiffre, die es ermöglichte, dem Zwang zu nationaler Eindeutigkeit zu entgehen. Viele Bewohner Dimitrovgrads erklären dies damit, dass sie immer schon an einer wichtigen transnationalen Kommunikationslinie gelebt haben und der Kontakt zu vermeintlich Fremden immer zum Alltag gehörte.

III.

Vermittels des Blicks auf die Mikroebene gesellschaftlicher Prozesse von Zuordnung und Abgrenzung wird deutlich, dass es kaum die bäuerliche Gesellschaft allein war, aus der nationale Zuordnung gleichsam natürlich erwuchs. Vielmehr kam der Zwang und die damit einhergehende Gewalt aus den städtischen Zentren – Nationalität musste den Bauern buchstäblich mit Stockhieben serbischer Gendarmen und bulgarischer Polizisten eingebläut werden. Nach dieser Erfahrung richteten viele Menschen dieser Region ihren Blick auf Gegenden jenseits der Grenzlinie, auf das vermeintlich so Fremde.

Diese Fremden kamen seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus östlicher Richtung, vom Ende der Bahnlinie des ehemaligen Orientexpress, aus der Türkei – zu dieser Zeit hieß der Zug nun Istanbul-Express und brachte von dort „Gastarbeiter“ nach München und Frankfurt. Nun sahen die Dimitrovgrader gleichsam ihresgleichen aus den Abteilfenstern blicken: junge Männer aus Dörfern an der türkischen Peripherie auf dem Weg nach Deutschland. Auch die rurale Bevölkerung Dimitrovgrads strebte zunehmend danach, der in der Grenzlinie symbolisierten Peripherie zu entgehen. Viele gaben die Landarbeit auf, verließen die Dörfer der Umgebung, die bald menschenleer waren, um zunächst in Dimitrovgrad in neuen Berufen zu arbeiten und danach schließlich eine Fahrkarte nach Belgrad oder aber nach Frankfurt zu lösen.