Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen in Bosnien und Herzegowina

aus OWEP 4/2011  •  von Rupert Neudeck

Dr. Rupert Neudeck, Theologe und Journalist, war Gründer und langjähriger Sprecher des deutschen Not-Ärzte-Komitees Cap Anamur. Seit 2003 ist er Vorsitzender von „Grünhelme e. V.“ (Peace-Corps von jungen Deutschen – Muslimen und Christen; [www.gruenhelme.de](http://gruenhelme.de/)).

Zusammenfassung

Die Folgen des Krieges von 1992 bis 1995 in Bosnien und Herzegowina sind bis zum heutigen Tag zu spüren. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen arbeiteten und arbeiten immer noch an ihrer Minderung und Beseitigung. Im Folgenden wird über die Vielfalt der Gruppierungen und ihre konkrete Arbeit berichtet.

Die Staaten, in denen natur- und menschengemachte Katastrophen geschehen, kennen noch lange danach die Anwesenheit von internationalen Nichtregierungsorganisationen (non-governmental organizations, NGOs). Diese Präsenz wird oft von nationalen Nichtregierungsorganisationen ergänzt, die wie Pilze aus dem Boden schießen.

Bosnien und Herzegowina musste unter dem jugoslawischen Auflösungs-Bruderkrieg wahrscheinlich am schlimmsten leiden, denn im heutigen Staatsgebiet dieses Landes fand der Auflösungsprozess Jugoslawiens noch einmal in nuce, d. h. in kleinerer geografischer und geopolitischer Form statt. In diesem Gebiet lebten Kroaten, Serben und auch die Bürger Jugoslawiens, was man dann mit dem Verlegenheitsbegriff „Bosniaken“ versah. Der Bosnienkrieg war dann der dritte in der Zeit der Folgekriege nach dem Auseinanderbrechen Jugoslawiens. Zunächst hatte sich Slowenien von dem gemeinsamen Unternehmen Jugoslawien abgespalten, dann auch Kroatien. Der dritte Krieg, 1992 beginnend, hatte die volle Wucht eines Krieges, der gar nicht erklärt wurde und auch nicht erklärt werden konnte, denn innerhalb des Staates Bosnien und Herzegowina gab es die Fronde der serbischen Volksgruppe, die sich mit einer Art Hauptstadt in dem Dorf Pale unweit von Sarajevo als von der bosnischen Staatsgewalt unabhängig erklärte – aus der Rückschau gesehen ein totaler Zustand von Anarchie. Das Gebiet wurde von den jeweiligen Milizen und Armeen in verschiedenen Schlachten und militärischen Bewegungen unzugänglich gemacht.

Eine der furchtbarsten Folgen der militärischen Durchkämmung des Gebietes und verschiedener und wechselnder Frontverläufe war die Verminung weiter Teile des Gebietes von Bosnien und Herzegowina. Das Minenräumen wird 2011 von der „Demira“ geleitet, einer deutschen Nichtregierungsorganisation. Minenräumen ist ein wichtiger Bereich ihrer Arbeit geworden, obwohl das schmückende Beiwort „Nichtregierungs/non-governmental“ fast nur noch in Ausnahmefällen zutrifft. „Demira“ hat die Arbeit nämlich auf Bitten des Auswärtigen Amtes übernommen. „Demira“ ist neben „Norwegian People’s Aid“ und „Handicap International“ die einzige Internationale Hilfsorganisation, die sich noch um Minenräumung und Nachsorge für die betroffenen Menschen sorgt.

Viele andere Organisationen, die früher im gesellschaftlichen Bereich der zwei Entitäten arbeiteten, sind nicht mehr vor Ort. Dies ist verständlich, denn in Bosnien und Herzegowina wird die volle Wucht der Aufbauarbeiten und der Wiedereingliederung schon seit langem geleistet. Dennoch gibt es natürlich Organisationen, die noch immer an der Beseitigung der langfristigen Nachwirkungen des Zusammenbruchs Jugoslawiens und der Zerstörungen im Staatsgebiet von Bosnien und Herzegowina arbeiten.

Bosnien und Herzegowina unterzeichnete das Ottawa-Minen-Protokoll

Die Minensituation nach den Kriegsjahren war nach Angola und Kambodscha die weltweit gefährlichste, in die diese Waffe ein Land und eine Bevölkerung gebracht hatte: Man geht von ca. 1,3 Millionen Landminen aus. Fünfzehn Jahre nach dem Krieg ist das Land immer noch von Minenfeldern übersät. Nach Schätzungen sind insgesamt 1.366 Ortschaften betroffen.

Bosnien und Herzegowina gehörte 1997 zu den 142 Staaten, die das Ottawa-Protokoll (weltweites Verbot von Antipersonenminen) unterzeichnet und ratifiziert haben. Bis 2009 sollten die Vertragsstaaten ihre Bestände geräumt, vernichtet und die verseuchten Flächen gereinigt haben. Mittlerweile geht das Internationale Komitee vom Roten Kreuz davon aus, dass es noch 70 Jahre dauern wird, bis die meisten Landstriche geräumt sind und man von einem minenfreien Land sprechen kann. Gegenüber der Zeit vor sieben Jahren sind längst nicht mehr so viele Organisationen und Räumteams im Land aktiv. 2004 waren es noch 14 NGOs mit 37 Räumeinheiten und 2.148 Mitarbeitern; das hat sich stark reduziert. Weiterhin tätig sind, wie schon erwähnt, die reine Minenräum-Agentur „Norwegian People’s Aid“ und „Demira“. Zwischendurch hat die deutsche Organisation „Help“ ihre Teams vor Ort eingesetzt; außerdem engagiert sich Walter Krohn mit seiner zum Minenräumgerät umgebauten Waldfräse.

Nationale humanitäre Organisationen

Durch den Boom der Gelder, die nach dem Krieg ins Land flossen, entstand auch eine erhebliche Anzahl von Organisationen aus eigener Initiative oder externem Anschub. Ebenso meldeten sich bewährte Organisationen der verschiedenen Religionsgemeinschaften wieder zu Wort und erlebten eine große Renaissance: „La Benevolencjia“ der Jüdischen Gemeinde, die „Caritas“ der Katholiken, „Kruh Svetog Ante“ (Antoniusbrot) der bosnischen Franziskaner, „Merhamet“ der bosnischen Muslime und „Dobrotvor“ der bosnischen Serben. Bosnien und Herzegowina ist wohl das einzige Land, das das Monopol der Caritas unter den Organisationen der katholischen Kirche nicht bewahrt hat, sondern sich eine eigene bosnische Organisation (nämlich die der Franziskaner) leistet. Dazu kam nun ein NGO-Boom ab 1996, der heute wieder erheblich abgestürzt ist – aus guten Gründen, denn diese Nichtregierungsorganisationen sollten sich eigentlich nach einigen Jahren wieder überflüssig machen.

Ganz besonders verdient – im Krieg wie nach dem Krieg – die Arbeit der bosnischen Franziskaner herausgehoben zu werden. Es war auch kein Zufall, dass der erste Menschenrechtspreis der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung am 9. Juni 1997 an den Provinzial der bosnischen Franziskaner ging, an Pater Petar Andelović, der sich mit Verve und allgemeiner Anerkennung durch alle Teile der Bevölkerung Ansehen und Popularität verschafft hatte. Er galt sogar lange Zeit als der beste Kandidat für den Vorsitz im Präsidium des neuen Staates.

Die bosnischen Franziskaner und „Kruh Svetog Ante“

Pater Andelović wurde der größte Befürworter und der Kitt der neuen bosnisch-kroatisch-serbischen Familie, die sich in dem neuen Staat wieder versöhnen sollte. In seiner Rede bei der Vergabe des Preises der Friedrich-Ebert-Stiftung sagte er: „Bosnien wird weiterleben, weil es einen Franziskaner gibt, der am Rande seines eigenen und seines Volkes Untergang ruft: ‚Wie schön ist mein Land! Gott Dir sei Dank, dass Du Bosnien zu meiner Heimat gemacht hast!’ Einen sufischen muslimischen Intellektuellen, der ohne jeden Fanatismus oder leere Gottesanbeterei glaubt, dass Bosnien ein heiliges Land ist. Einen ethnischen Serben, einen ehemaligen Politiker mit sauberen Händen, der sagt: ‚Diese Verrücktheit muss vergehen! Das Volk ist betrogen, belogen und irregeführt worden, kollektiv erniedrigt, moralisch degradiert. Ich aber will glauben, dass die Menschen in Bosnien und Herzegowina fähig sein werden, das gemeinsame Leben mit Sinn zu erfüllen und sogar zu bereichern. Das, was aus der tausendjährigen Tradition gewachsen ist, kann nicht so leicht untergehen!’“

Die bosnischen Franziskaner sind bis heute eine wichtige Klammer des Staates und der Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina geblieben. Ihre eigene Organisation mit dem ausdrucksstarken Namen „Brot des heiligen Antonius“ bewies schon im Krieg, dass man in einer total verfeindeten Gesellschaft zu allen Menschen gehen kann. Wir von der Organisation Cap Anamur haben beim Aufbau einer Suppenküche in Dobrinja, einem Stadtteil von Sarajevo, direkt an der Frontlinie erlebt, wie sich die Vertreter aller Glaubensrichtungen am Sonntag aufmachten, um zu den Gottesdiensten und zur Nahrungsmittelverteilung zu gehen. Seit dem Tod von Pater Andelović leitet Pater Mirko Madjandžić umsichtig und effektiv die karitativen Dienste der Franziskaner.

Deutsche Hilfen: Konvoi-Humanitarismus und Bundeswehr

Bis heute gibt es unendlich viele kleine und Kleinstinitiativen, die dem geschundenen und gebeutelten Land weiterhin beistehen. Diese Arbeit ist um vieles einfacher; es ist das, was man den Konvoi-Humanitarismus nennen kann. Solche Konvoi-Projekte bestehen in allen deutschen Bundesländern, aus vielen Gemeinden seit den Tagen und Jahren des Krieges. Es gibt z. B. in Bergkamen eine Initiative, die auch noch 2011 Hilfsgüter in LKWs nach Sarajevo und ins Umland fährt. Es sind einfache Menschen, die sich zusammenfinden, um Beziehungen aufzunehmen. So haben sich Antonia Reckers und Marica Hascha zusammengetan und versuchen, von ihrem Ort und ihrem Geschäft in Werne aus immer wieder Sach- und Geldspenden zusammenzubringen. Sie erleben mit dem Konvoi häufig Hindernisse an der Grenze. Wenn man sich weigert, an der Grenze zu bezahlen, muss man einige Stunden warten. „Die wollen Geld von uns!“ – dabei bringen sie ja nur ehrenamtlich humanitäre Güter. In Sarajevo erwartet man bei den franziskanischen Helfern schon ihre Ankunft. Dort befinden sich große Lager, in denen die gesammelten Spenden aufbewahrt werden. Dann machen sich die Frauen aus Bergkamen auf den Weg in die Elendsviertel von Sarajevo. Viele Bosnier leben noch in Baracken, oft am Rande des Existenzminimums. Gerade in den vom Hochwasser betroffenen Regionen sind die Zustände katastrofal. „Die Möbel – sofern sie welche haben – sind aufgequollen und unbrauchbar. Es gibt hier schlechte hygienische Verhältnisse, keine ausreichende Versorgung mit Lebensmitteln, schlechte bis gar keine medizinische Hilfe.“ So berichten die Helferinnen und Helfer.

Solche Solidarität lebt aus dem Gefühl heraus, dass man diesen Menschen auch noch fünfzehn Jahre nach dem Krieg helfen muss. Antonia Reckers erinnert sich besonders an eine 71-jährige Frau, deren Beine und Arme verkrüppelt waren. Misshandlungen während des Krieges machten sie zum Pflegefall. Sie trägt heute Windeln und muss rund um die Uhr versorgt werden.

Die Bundeswehr unterhält in Rajlovac (Vorstadt von Sarajevo) noch immer sowohl eine Kaserne als auch ein Hospital, in dem in besonders schwierigen Fällen auch Bosnier behandelt werden. Für die Aufrechterhaltung medizinischer Standards in der Republik Bosnien und Herzegowina ist das Krankenhaus der Bundeswehr ganz wichtig, verfügt es doch über alles, was in Deutschland ein Hospital vorweisen muss.

Jetzt auch in Bosnien und Herzegowina: Bürgerinitiativen

Erfreulich ist es, dass sich jetzt auch in Bosnien und Herzegowina Bürgerinitiativen von unten bilden. Der Anschluss an die europäische Grünen- und Ökologiebewegung ist inzwischen gelungen, z. B. durch die Organisation „Zeleni Neratva“, die sich um die Erhaltung der Neretva bemüht, die durch Mostar und die Herzegowina fließt. Dann gibt es eine Menge neuer Vereine, die sich jeweils um solidarische Hilfe für bestimmte Gruppen bemühen die im Krieg besonders gelitten hat, etwa die Gruppe „ŽENA-ŽRTVA-RATA“, deren Ziel die Unterstützung von im Krieg vergewaltigten Frauen ist.

Im Februar 2008 kam es zu ernsthaften Demonstrationen in Sarajevo, die gegen die nicht existierende Politik für Jugendliche protestierten. In Sarajevo gibt es das „Civil Society Promotion Centre“, geleitet von dem bosnischen Serben Milan Mrda. Eine Bürgerorganisation mit Namen „Grozd“ griff eine Forderung auf, mit der die Politik nicht zurecht gekommen ist: die Umsetzung entsprechender EU-Forderungen – denn eines steht im Welttheater der Politik schon fest: Die Staaten und Nationen, die in Jugoslawien auseinanderstoben, finden sich demnächst als Bürger des EU-Schengenraumes wieder. Die Zeit des Stillstands ist seit 2008 vorbei. Es existiert eine neue Bürgerpartei „Naša Stranka“ mit bereits 5.000 Mitgliedern. Sie ist erstmals nicht ethnisch verankert, sondern geht auf eine Initiative des aus Zenica stammenden Regisseurs Danis Tanović zurück. Diese Bürgerinitiative hatte die Idee zu einer Touristen-Attraktion, die serbische und muslimisch-bosnische Gebiete einschließt: Bojan Bajić, Gründungsmitglied von „Naša Stranka“, kaufte ein Schiff und fuhr die aus aller Welt kommenden Touristen den Fluss Lim stromabwärts von Rudo nach Višegrad – damit wurde er im ganzen Land bekannt.