„Denn mich hat keiner gefragt, und ich möchte nicht, dass du so etwas erlebst“

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2012  •  von Verena Hesse

Verena Hesse war von September 2011 an ein Jahr als ASF-Freiwillige in Tschechien tätig und studiert inzwischen an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) Kulturwissenschaften und Slawische Sprachen.

„Tschechien??? Was macht man denn da?“ Ich konnte gar nicht mehr zählen, wie oft mir diese Frage gestellt wurde. Es war die Zeit nach dem Abitur. Ich freute mich sehr darüber, von „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ (ASF) eine Zusage für ein freiwilliges soziales Jahr in Tschechien bekommen zu haben, und wollte meine Mitmenschen dafür begeistern. Oft wollte mir das aber nicht so recht gelingen. Zugegebenermaßen ist es nicht so häufig, dass Jugendliche für ihr Auslandsjahr ein osteuropäisches Land wählen. Warum hatte ich das getan?

Die Antwort darauf liegt weit zurück, im Jahr 1946, als mein Opa aus seiner Heimat vertrieben wurde. Geboren wurde er in einem kleinen Dorf namens Seesitz/Žežice in der Nähe von Aussig an der Elbe/Ústí nad Labem) als Sohn einer deutschen Familie. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Deutschen aus dem Sudetenland vertrieben. Mein Opa kam mit seiner Familie in seine heutige Heimat, das oberbayerische Dorf Weichs im Landkreis Dachau. Darauf folgte ungefähr ein halbes Jahrhundert, in dem er nicht in seine Heimat zurückkehren konnte. Aber im Jahr 2002, nach Beendigung des „Kalten Krieges“, war es schließlich so weit. Diesmal im Gepäck: die ganze Familie. Ich war zu diesem Zeitpunkt 11 Jahre alt. In den folgenden Jahren reisten wir mehrmals nach Tschechien und ich war immer begeistert. Ich baute eine Beziehung zu diesem Land auf, die zunächst mehr aus meiner kindlichen Sichtweise entstand. Ich mochte die Cousine meines Opas, die letzte in Tschechien verbliebene Verwandte, sehr gern. Ich fühlte mich sehr wohl dort, liebte das gute Essen, unsere gemütliche Ferienwohnung, die wunderschöne böhmische Landschaft, die Möglichkeit, vieles billiger zu kaufen …

Viele Jahre später, im Januar 2011, befand ich mich auf dem Auswahlseminar von ASF. Ich sollte angeben, in welchen Ländern ich mir meinen Dienst vorstellen könnte. Als erste Wahl gab ich Tschechien an. Inzwischen hatte sich allerdings meine kindliche Schwärmerei für dieses Land in eine rationalere Sichtweise gewandelt. Noch immer empfand ich eine große Begeisterung, aber inzwischen sah ich auch die vielen Probleme in den deutsch-tschechischen Beziehungen. Besonders die deutsche Sichtweise bekam ich durch Erzählungen meines Opas sehr gut mit. Oft schimpfte er auf die Tschechen, da sie ihn aus seiner Heimat vertrieben hätten. Es gab einfach so viel Unrecht, dass sich Deutsche und Tschechen gegenseitig angetan hatten, und genau an diesem Punkt wollte ich ansetzen. All dies kann nie wieder gut gemacht werden. Ich dachte aber trotzdem: Hier kannst du mit deinem Friedensdienst konkret etwas zur Völkerverständigung tun!

So kam es, dass ich am 15. September 2011 im Zug nach Olmütz/Olomouc saß. Ein Jahr lang sollte ich nun offene Altenarbeit leisten, in Kooperation mit „Živá Paměť“ („Lebendige Erinnerung“), einer Organisation, die im Rahmen des deutsch-tschechischen Zukunftsfonds gegründet wurde und sich um ehemalige Zwangsarbeiter unter der NS-Herrschaft kümmert. Zunächst konnte ich mir wenig darunter vorstellen und hatte sogar einige Zweifel. Wird man mir als Deutsche positiv begegnen? Wie wird es mit der Verständigung, ich spreche ja noch kaum Tschechisch? Werden mir die älteren Leute nicht auf Dauer auf die Nerven gehen? Werde ich Kontakt zu Gleichaltrigen finden, um einen Ausgleich zur Arbeit zu haben? Meine ersten Zweifel verflogen schon, als ich das erste Mal durch die Olmützer Innenstadt lief. Eine so wunderschöne Stadt! Der „Horní Náměstí“ („Oberring“) mit der Dreifaltigkeitssäule, die zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt und dem Rathaus, der „Dolní Náměstí“ mit der Pestsäule, die vielen schönen Kirchen.

Meine ersten Klienten lernte ich dann im Olmützer „Kontaktní Centrum“ kennen. Dieses wird von „Živá Paměť“ organisiert und bietet den Senioren in Olomouc die Gelegenheit sich zu treffen, über ein Thema zu diskutieren, gemeinsame Ausflüge zu planen oder einfach nur zu plaudern. Ich wurde gleich offiziell als neue Freiwillige vorgestellt bzw. sollte mich selbst vorstellen. Ich tat dies natürlich auf Tschechisch, aber als einige Nachfragen kamen, verstand ich leider nicht mehr alles. Meine Begleiterin wollte für mich ins Englische übersetzen – aber nein, das fanden die Anwesenden zu umständlich: „Reden Sie doch ruhig Deutsch, wenn Sie langsam und deutlich sprechen, verstehen wir Sie schon.“ Da wurde mir bewusst, dass fast alle der Senioren teilweise sehr gut Deutsch verstehen und sprechen. Was für eine positive Überraschung! Obwohl sie meist unter schlimmsten Bedingungen Deutsch gelernt haben – fast alle waren im „Totaleinsatz“ (wir nennen es Zwangsarbeit) –, sind sie heute noch bereit, diese Sprache mit mir zu sprechen, und das sogar sehr gerne! So ist wirklich ein gutes Verhältnis zu allen meinen Klienten entstanden. Ich verbringe wunderbare Stunden mit ihnen, wir unterhalten uns, lachen viel, und selbst anstrengende Arbeiten wie Fenster putzen sind zu zweit im Nu geschafft. Sie sind immer sehr froh, meine Hilfe zu haben, und oft stellen sie mich doch mit ein wenig Stolz in der Stimme mit den Worten „To je dobrovolnice z Německa“ („Das ist eine Freiwillige aus Deutschland“) bei Verwandten und Bekannten vor.

Neben all der Fröhlichkeit kommt manchmal die Zeit, die sie in Deutschland im Totaleinsatz verbringen mussten, zur Sprache. Dies sind grausame Geschichten, wie diese Menschen behandelt wurden und unter welchen Bedingungen sie arbeiten mussten. Da weiß ich meistens gar nicht, was ich darauf sagen soll. Und ich denke mir dann: „Ja, das waren Deutsche, deine Nation, unter denen sie damals gelitten haben.“ Ich kann nur bewundern, wie sie diese Erlebnisse verarbeitet haben und dass sie heute keine Abneigungen mehr gegen Deutsche hegen. Besonders rührend war der Moment, als eine Klientin mich fragte, während ich gerade Fenster putzte: „Ist es denn wirklich nicht zu kalt? Ich frage dich nur, denn als ich als 17jähriges Mädchen im Totaleinsatz gearbeitet habe, da hat mich das keiner gefragt, und ich möchte nicht, dass du so etwas erlebst!“ Aber nicht nur die älteren Menschen begegnen mir hier so offen, auch viele junge Menschen, besonders Studenten.

Zu Beginn war es für mich nicht so leicht, mit Gleichaltrigen in Kontakt zu kommen, bis ich auf eine Internetseite stieß, auf der man so genannte „Tandempartner“ finden kann. Das Tandemprogramm beruht auf einem sehr einfachen Prinzip: Jeweils zwei Tandempartner bringen sich gegenseitig ihre Muttersprache bei. Ich war zunächst skeptisch, dachte aber, dass es doch irgendjemanden in Olomouc geben muss, der auch heute noch Deutsch lernt. Irgendjemanden? Unzählig viele! Gleich auf meine erste Anfrage bekam ich eine höchst erfreute Antwort von einer Germanistikstudentin. Das erste Treffen sollte die e-Mail noch übertreffen. Begrüßt wurde ich mit den Worten „Endlich wieder Deutsch reden!“ Mein Inserat auf der Tandem-Homepage wurde zum Selbstläufer. Nicht mehr ich schrieb den Teilnehmern, sondern vielmehr schrieben sie mir. Das waren nicht nur Germanistikstudenten, auch viele andere. Nach und nach stand das Erlernen der Sprache nicht mehr im Vordergrund, es entstand noch etwas viel Schöneres: Freundschaft!

Durch meine Tandempartner lernte ich immer mehr neue Leute kennen und fühlte mich schon bald in Olomouc sehr zu Hause. Ich muss allerdings zugeben, dass es mich anfangs doch ein wenig Überwindung kostete, mit einer Gruppe Tschechen etwas zu unternehmen. Schließlich spreche ich die Sprache doch noch nicht so gut. Aber meine Sorgen waren meistens unbegründet, man begegnete mir immer sehr offen und fragte interessiert und auch erstaunt nach, was denn eine Deutsche hier nun tue. Mich vorzustellen und zu erklären, warum ich hier bin, das lernte ich schnell auf Tschechisch. Allerdings führte meine Angabe, dass ich eine Freiwillige sei, oft zu Verwirrung, da solche Dienste in Tschechien nicht so populär sind. Die interessanteste Reaktion auf meine Vorstellung war sicher, als ein gut Deutsch sprechender Tscheche zu mir sagte: „Ja, das hoffe ich, dass dich keiner gezwungen hat.“ Nein, das hat mich sicher keiner, und es gelang mir meist auch schon auf Tschechisch zu erklären, worin denn genau meine Arbeit bestünde.

Mit Klischees und Vorurteilen wurde ich so gut wie nie konfrontiert. Höchstens wenn ich pünktlich war, wurde mir zum Spaß gesagt, dass das einfach die typisch deutsche Pünktlichkeit sei und die müsse ich mir halt abgewöhnen. Auch die Geschichte der politischen Beziehungen unserer Heimatländer war nie ein Thema, nie wurde mir etwas vorgeworfen, nie musste ich mich rechtfertigen. Viel mehr lernte ich und war erstaunt darüber, welch positives Bild die jungen Tschechen von Deutschland haben. Nicht wenige planen ihre Zukunft in Deutschland, da sie dort bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt sehen.

Insgesamt würde ich sagen, dass das Land Tschechien meine Erwartungen übertroffen hat. Was ich mir am Anfang so vorgestellt habe, das kann ich inzwischen gar nicht mehr so genau sagen. Aber dass sich alles so positiv gestaltet, hätte ich nicht gedacht. Die vielen netten Leute hier, ob jung oder alt, haben Olomouc schnell zu meiner zweiten Heimat werden lassen.

Jetzt ist hoffentlich die Frage geklärt, was ich denn da in Tschechien mache.