Ein Stück Heimat

(Erfahrungen)
aus OWEP 4/2012  •  von Sebastian Kraft

Sebastian Kraft, Landtagsreporter für das Bayerische Fernsehen und ARD aktuell, absolvierte seinen vierzehnmonatigen Zivildienst 2003/04 in der katholischen Pfarrei Jablonec nad Nisou/Gablonz in Nordböhmen und studierte Politikwissenschaften in Regensburg und Prag.

„Von Ihnen kriegen wir heute sicherlich wieder eins drüber gebraten“, begrüßt mich der Pressesprecher des AKW Temelin bei einer Infoveranstaltung in Passau mit einem unübersehbaren Grinsen im Gesicht. „Ich mache nur meine Arbeit“, antworte ich auf Tschechisch und will mein eigenes Grinsen dabei gar nicht verbergen. Da müssen wir beide erst einmal lachen, dabei ist es erst unsere zweite Begegnung seit meinem Besuch in Temelin mit einer Handvoll Landtagsabgeordneter. Und auch diesmal macht jeder seine Arbeit. Er repräsentiert seinen Kraftwerksbetreiber und erklärt, warum es gut ist, dass Tschechien bald über 80 Prozent seiner Energie aus Atomkraft bezieht. Ich stelle die unangenehmen Fragen, die in diesem Zusammenhang zu stellen sind, und komme in meiner journalistischen Bewertung nicht darum herum zu sagen, dass diese Infoveranstaltung für besorgte bayerische Bürger eigentlich nur eine Farce ist und mit der von Ministerpräsident Nečas versprochenen Transparenz wenig zu tun hat. Ein Thema, zwei völlig unterschiedliche Sichtweisen, und doch wächst bei jeder Begegnung das Vertrauensverhältnis zwischen uns beiden. Eigentlich komisch, doch der Schlüssel ist ganz einfach – er kennt Bayern und versteht die bayerische Sichtweise – ich kenne Tschechien und verstehe die tschechische. Klingt einfach, ist aber enorm hilfreich.

Erst im Berufsleben habe ich gemerkt, wie viel mein Zivildienstjahr in Tschechien wirklich wert gewesen ist; gerade bei so schwierigen Themen wie Temelin, wenn im Gegensatz zur grenzüberschreitenden Jugend- und Kulturarbeit völlig unterschiedliche Charaktere aufeinanderprallen. In Temelin wurde ich als ausländischer Journalist nur ein paar Sekunden kritisch gemustert, bis ich anfing, mit der Pressestelle in ihrer Landessprache zu sprechen. Das hat zwar zum Glück längst keinen Seltenheitswert mehr, in Tschechien sendet man damit aber ein überaus positives Signal aus. Tschechisch ist keine einfache Sprache und eigentlich nur im Land selber zu lernen, für Tschechen wird somit schnell klar: Wer unsere Sprache spricht, der hat sie nicht nur einfach so mal gelernt, der hat meistens auch bei uns gelebt, kennt Land und Leute und vor allem: die Mentalität.

„Was, Tschechien? Wieso ausgerechnet Tschechien?“ musste ich mir damals von meinen Freunden kurz nach dem Abitur im Sommer 2003 anhören, als ich sagte, dass ich jetzt zum Zivildienst ein Jahr in eine katholische Pfarrei in Jablonec nad Nisou/Gablonz an der Neiße im Dreiländereck gehen werde. Eher zufällig bin ich in mein Auslandsjahr reingerumpelt, das mein Leben und meine persönliche Entwicklung maßgeblich prägen sollte. Fernweh, Neugierde, da kam ein Angebot der Erzdiözese Bamberg, wo ich in der katholischen Jugendarbeit aktiv war, gerade recht: ein Jahr in einer tschechischen Pfarrei leben und arbeiten. Zugegeben: Ein bisschen mulmig war mir dabei anfangs schon, doch das hatte sich schnell erledigt. Die Offenheit, die Herzlichkeit und die vielen schönen Erlebnisse ließen nicht nur den kalten und tristen Winter im Isergebirge, sondern auch so manche Differenzen über den dortigen recht konservativen Katholizismus zu einem wunderschönen Jahr werden. Eine Kirche, die zwar unterschiedliche Nationalitäten und Mentalitäten kennt, sie aber als Bereicherung und nicht als Hindernis ansieht – das habe ich dort intensiver denn je erlebt. Der mittlerweile leider verstorbene Dekan Antonin Bratrošvský, den wir immer nur liebevoll „Padre“ nannten, hat es wie kein zweiter verstanden, seine Pfarrei zu öffnen. Nicht nur für die vielen Atheisten, die es im ehemaligen Sudetenland gibt, sondern auch für die unterschiedlichen Nationen. Jedes Jahr ein deutscher Zivi aus Bamberg, dazu ein Seminarist im Freijahr aus dem ostslowakischen Košice und natürlich viele Besucher aus Polen und der Partnerpfarrei in der Schweiz. Zu meinen wundervollsten Erinnerungen gehört es, als in den ersten Tagen in der Pfarrei plötzlich der slowakische Seminarist Matuš vor der Tür stand und wir einen Eimer Farbe in die Hand gedrückt bekamen, um gemeinsam unsere Zimmer zu streichen – ich kein Wort Tschechisch, geschweige denn Slowakisch, er kein Wort Deutsch oder Englisch. Heute spricht er genauso gut Deutsch wie ich Tschechisch, und viele Gespräche und Besuche in meiner Heimat haben ihm nicht nur neue Erfahrungen und Sprachkenntnisse ermöglicht, sondern auch einen anderen Blick auf Kirche und Glaube, auch wenn ihm das jede Menge Ärger im slowakischen Priesterseminar und den Spitznamen „Luther“ eingebracht hat.

Wie prägend dieses Auslandsjahr in Tschechien für mich wirklich war, habe ich erst in den Jahren danach gemerkt. Die Geschichte ist schnell erzählt: Ich wollte eigentlich in Würzburg studieren, entschied mich dann aber für Regensburg, da es dort eine echte „Ost-West“-Universität mit dem Studienschwerpunkt Mittelosteuropa gibt. Es folgten ein zweites Jahr in Tschechien, Slowakisch- und Polnischkurse, ein Ausflug in ein großes deutsch-tschechisches Wirtschaftsunternehmen, am Ende im Journalismus hängen geblieben. Auch wenn meine Freunde aus Jablonec andere Wege in Beruf und Ausbildung gegangen sind und die Kontakte über die Jahre etwas weniger geworden sind, haben wir uns auch dank moderner Kommunikationsmittel nie völlig aus den Augen verloren. Ich könnte stundenlang vor Facebook sitzen und die einzelnen Bildergalerien durchklicken, gerade im Sommer, wenn die herrlichen Landschaftsaufnahmen aus dem Isergebirge gepostet werden, wo ich einen prägenden Teil meiner Jugend verbracht habe.

Die dunklen Kapitel der gemeinsamen Geschichte habe ich nie als Belastung erlebt – im Gegenteil. Beide Seiten verstehen es als Auftrag, dass wir jetzt das Fundament dafür legen müssen, damit unser Europa des 21. Jahrhunderts anders wird. Geschichte darf weder vergessen noch kleingeredet werden, aber ganz ehrlich: Manchmal hat uns das auch genervt, wenn ewig Gestrige immer wieder den Finger auf offene Wunden der Geschichte gelegt haben. Im Gegenteil: In Diskussionen mit meinen Freunden habe ich bei kritischen Punkten wie der Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg viel Offenheit und Kompromissbereitschaft erlebt.

Die gemeinsamen Zukunftsaufgaben sind ohnehin die zentralen: die Energiepolitik, die gemeinsame Wirtschaftspolitik und der längst überfällige Lückenschluss der Infrastruktur zwischen Bayern und Böhmen und nicht zuletzt die Frage der europäischen Integration. Bei all diesen großen Aufgaben sind die deutsche und die tschechische Sichtweise nicht immer deckungsgleich, was für mich eher eine Bereicherung als ein Problem darstellt. Als Fernsehjournalist durfte ich den bayerischen Ministerpräsidenten auf seinen ersten beiden Reisen nach Tschechien begleiten. Prägend war für mich vor allem ein Erlebnis auf der ersten Reise. Beim Mittagessen waren eigentlich keine Bilder vorgesehen, doch dann kam überraschend ein Anruf des Pressesprechers von Ministerpräsident Seehofer: Fototermin auf dem Hradschin. Dort standen dann Seehofer und Nečas auf einem Balkon mit einem herrlichen Ausblick über Prag, der tschechische Ministerpräsident gab seinem bayerischen Kollegen eine kleine Stadtführung, vor imposanter Kulisse und einem weitem Horizont als Hintergrund. Was für ein Bild!

In meinem Studium bin ich irgendwann auf ein Zitat von Helmut Schmidt gestoßen, das für mich alles wunderbar auf den Punkt bringt: „Wir Deutschen müssen uns selbst mit den Augen der Nachbarn sehen.“ Ein Leitsatz, denn ich mir beruflich wie privat immer wieder gerne vor Augen halte. Denn auch, wenn Tschechien für mich längst keine Entdeckungsreise mehr, sondern eine zweite Heimat ist: Es schlummern dort noch so viele Geschichten, die es zur erzählen gibt.