Was ist das eigentlich: Europa?

aus OWEP 1/2016  •  von Thomas Bremer

Prof. Dr. Thomas Bremer unterrichtet Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Universität Münster und ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Zusammenfassung

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass es nie eine feste Vorstellung davon gegeben hat, was „Europa“ eigentlich ist. Auch die Idee, Europa durch bestimmte Werte definieren zu wollen, muss in die Irre gehen, da auch Werte und Normen Veränderungen unterworfen sind. Wichtig für den Zusammenhalt Europas ist daher, dass es einen gewissen Grundkonsens gibt, der tiefe Wurzeln im Christentum hat, der aber im Diskurs je neu diskutiert und bestimmt werden muss.

Es gibt wohl kaum einen geografischen Begriff, der so eindeutig verwendet wird und zugleich so unklar ist wie der Name „Europa“. Während es für die einen die Bezeichnung eines Kontinents ist, setzen es andere mit der Europäischen Union gleich. Wieder andere verbinden mit „Europa“ ein System von kulturellen Traditionen und Werten, das sich von denen anderer Regionen der Erde unterscheidet. Und nicht wenige Menschen sehen in Europa schlicht Wohlstand und die Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben, das besser ist als das, welches sie in ihrem Heimatland führen – die aktuellen Migrationsbewegungen zeigen das sehr deutlich. Doch obwohl sich so viele Erwartungen mit dem Begriff verbinden, ist nicht deutlich, was er umfasst.

Die Europa-Wahrnehmung der Antike

Blickt man in die Geschichte, so ist zu erkennen, dass Europa keinesfalls immer als Kontinent gedacht wurde, wie wir ihn heute mit den anderen Erdteilen aufzählen. In der Antike, aus der der Name stammt, war das Mittelmeerbecken der zentrale Wahrnehmungsraum; hier ist „Europa“ mehr oder weniger der Name für die nördliche Küste, so wie „Asia“ die Ostküste benennt und „Africa“ die südliche. Niemand wäre auf die Idee gekommen, mit diesen Namen ganze Kontinente zu verbinden, und vor allem hat niemand das Mittelmeer als einen Raum gesehen, der Kontinente voneinander getrennt hat – vielmehr hat es die verschiedenen Küsten miteinander verbunden. Europa endete an den Alpen, Afrika an der Sahara. Die jeweils dahinter liegenden Teile wurden wenig beachtet und jedenfalls nicht als mit dem Erdteil zusammengehörend gedacht. Diese Wahrnehmung hat sich völlig umgedreht – wir halten heute Norweger ebenso für Europäer wie Sizilianer, während wir davon ausgehen, dass Tunesier, die keine 200 Kilometer von Sizilien entfernt leben, Afrikaner sind, ebenso wie etwa Senegalesen. Und heute würde wohl niemand mit dem Begriff „Asiaten“ Menschen aus Syrien, dem Libanon oder Jordanien assoziieren; wir denken dabei an Inder, Chinesen oder Japaner.

Die gegenwärtige Flüchtlingskrise zeigt uns, wie mächtig die Bedeutung des Mittelmeers als einer Verbindung heute noch ist: Für die vielen Menschen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um nach Europa zu gelangen, ist das Mittelmeer nicht so sehr die Trennung zwischen den anderen Kontinenten und Europa, sondern es ist vor allem die Brücke, die den Übergang in die Region politischer Stabilität ermöglicht. Dass es sich dabei um eine höchst gefährliche Brücke handelt, ändert nichts daran.

Wann hat sich der Übergang zu einer anderen Sicht von Europa vollzogen, in der dieser Name für einen Kontinent steht, der sich von Afrika und Asien so deutlich unterscheidet? Eine wichtige Entwicklung lässt sich im 9. Jahrhundert sehen. Ohne es ausdrücklich zu reflektieren, vollzog die westliche Christenheit damals einen bedeutsamen Schritt, der die Wahrnehmung des Raumes für viele Jahrhunderte entscheidend verändern sollte. Vorausgegangen war der Verlust großer christlich besiedelter Gebiete im Süden und Südosten des Mittelmeerraumes an die muslimischen Araber. Die spätantike Vorstellung, dass dieses Meer und seine Küsten christlich geprägt seien und es bleiben würden, stimmte nun nicht mehr, auch wenn die Konversion der dort lebenden Christen nur sehr langsam vor sich ging. Bislang war das politische Zentrum des Christentums das Oströmische („Byzantinische“) Reich, dessen Kaiser seinen Sitz in Konstantinopel hatte. Er betrachtete sich als Schutzherr des rechten Glaubens nicht nur innerhalb seines Reiches, sondern darüber hinaus auch für die Christenheit ganz generell, den lateinischen Westen eingeschlossen.

In einer Krise im 8. Jahrhundert, die durch theologische Auseinandersetzungen um die Bilderverehrung in Konstantinopel sowie durch Streitigkeiten um Steuereinnahmen und um Gebietsvorrechte zwischen dem Papst und dem byzantinischen Kaiser ausgelöst worden war, mussten die Päpste erkennen, dass sie sich auf die byzantinischen Kaiser nicht mehr verlassen konnten. Die wichtigen und mächtigen Kaiser zu Beginn des 8. Jahrhunderts, Leo III. und Konstantin V., waren bereit, Reichsinteressen über die des römischen Bischofs zu stellen und sogar mit Gewalt gegen Rom vorzugehen. Auch wenn die geplante Militäraktion erfolglos blieb, war das doch ein deutliches Alarmzeichen für die Päpste.

Gleichzeitig mit diesem Prozess einer Entfremdung zwischen den beiden bislang wichtigsten Zentren der frühmittelalterlichen Welt war es nördlich der Alpen, also in unseren Regionen, nach den Unruhen der Völkerwanderungen zu einer allmählichen politischen Konsolidierung gekommen. Hierzu hatten die Franken erheblich beigetragen, die, christlich geworden, nach und nach zum wichtigsten militärischen Akteur in Mitteleuropa geworden waren. Es war also auch machtpolitisch für die römischen Bischöfe empfehlenswert, sich mit ihnen gut zu stellen. So kam es zu einem Bündnis, das in der Krönung von König Karl zum Kaiser an Weihnachten 800 in Rom seinen Höhepunkt fand. Aus der byzantinischen Perspektive war das ein unsinniger und usurpatorischer Akt, da es ja schon ein Kaisertum gab, nämlich das von Konstantinopel, und ein anderes, konkurrierendes schlechthin undenkbar war. Manche orthodoxe Historiker haben sogar in diesem Akt der Kaiserkrönung die eigentliche Trennung zwischen dem griechischen Osten und dem lateinischen Westen gesehen.

Tatsächlich legten die Franken ein großes Selbstbewusstsein an den Tag, das von der Überzeugung getragen war, den christlichen Glauben und seine Repräsentanten, allen voran den Papst, schützen zu müssen. In den nächsten Jahrhunderten führte diese Überzeugung zu einem engen Bündnis zwischen dem westlichen Kaiserreich, das auch die Trennung des Frankenreichs überstand, und den römischen Bischöfen – eine Beziehung, die nicht ohne Konflikte blieb, die jedoch die europäischen Verhältnisse auf lange Zeit prägten. Zugleich wurde der bisherige Kaiser, der von Konstantinopel, in diesem „Europa“ immer mehr vergessen. Die Kenntnisse des Griechischen gingen stark zurück (wie auch die des Lateinischen in Konstantinopel), sodass man sich kaum noch verständigen konnte. Die Kreuzzüge, die westliche Heere in den östlichen Mittelmeerraum brachten, ignorierten das östliche Christentum und seine Traditionen, und als außer Kontrolle geratene Kreuzfahrer 1204 Konstantinopel eroberten und plünderten, war der Bruch zwischen diesen beiden Zweigen des Christentums schon endgültig.

Die europäische Zivilisation

So entstand also auf unserem Kontinent ein Bewusstsein von einer christlichen, von der lateinischen Kultur geprägten Zivilisation – ein Europa der latinitas. Eine Reihe von Faktoren trug dazu bei, dass diese Zivilisation großen Einfluss erlangte: Die geografische Lage führte dazu, dass Bedrohungen nur von Süden oder von Osten kommen konnten – die große militärische Stärke sorgte jedoch dafür, dass solche Bedrohungen in Schach gehalten und schließlich abgewehrt werden konnten. Die technische Entwicklung führte nicht nur zu Fortschritten auf vielen Gebieten und der Vervollkommnung mancher Fähigkeiten, sondern damit auch zur Überlegenheit gegenüber anderen. Die geografische und politische Kleinteiligkeit des Kontinents ließ lokale und regionale Sonderentwicklungen zu, solange die grundsätzliche Solidarität der christlichen Gemeinschaft nicht in Frage gestellt wurde. Durch die Aneignung von antikem Gedankengut (das zu einem wichtigen Teil durch arabische Gelehrte vermittelt worden war) kam es zu einer kulturellen Hochblüte.

Das religiös geeinte Europa schloss sich aber auch gegenüber allem, was anders war, ab. Vor allem der Osten wurde als fremd und oft feindlich angesehen, sei es in Gestalt des „heidnischen“ Islam, sei es als die „schismatische“ Orthodoxie. Das hinderte aber nicht daran, mit beiden in rege Handelsbeziehungen einzutreten und sich die Vorteile der Situation zunutze zu machen. Doch auch in Europa selbst gab es religiöses Anderssein. Zunächst ist hier an die Juden zu denken, die von Christen und christlichen Staaten über viele Jahrhunderte mit blutiger Verfolgung überzogen wurden. Antijudaismus und Antisemitismus, die im vergangenen Jahrhundert mit dem Versuch der systematischen Vernichtung des Judentums ihren Höhepunkt gefunden haben, gehören ebenfalls zum europäischen Erbe; sie lassen sich nicht einfach wegdefinieren oder übergehen. Daneben gab es aber auch im westlichen Christentum verschiedene Versuche, die eigene Religion anders zu verstehen oder anders zu leben. Die meisten dieser Bewegungen wurden zu Ketzern erklärt und ebenfalls blutig unterdrückt (Katharer, Hussiten u.a.), andere gelang es erfolgreich in die Kirche zu integrieren (etwa die Bewegung des Franz von Assisi). Erst mit der Reformation im frühen 16. Jahrhundert kam es zu einer religiösen Spaltung von Belang, die weitreichende historische Folgen für Europa haben sollte.

Vorher jedoch war das Zeitalter der „Entdeckungen“ angebrochen. Die europäischen Nationen expandierten erstmals gezielt und in großem Maße; vorher hatte es zwar auch einzelne Entdeckungsreisende gegeben, aber die von ihnen entdeckten Gebiete waren bei den Staaten Europas nicht auf großes Interesse gestoßen. Jetzt aber fingen die europäischen Nationen an, diese Gebiete für sich als Kolonien zu beanspruchen: Sie schlugen sie ihrem Staatsgebiet zu und nahmen sich das Recht heraus, ihre Ressourcen auszubeuten. Die Bevölkerung wurde christianisiert, nicht selten unter der Anwendung von Gewalt, und ihr wurden sämtliche Rechte entzogen; in der Regel wurden sie als minderwertig betrachtet und häufig versklavt.

Der Kolonialismus hat in der europäischen Geschichte und Wirklichkeit ein schwieriges Erbe hinterlassen, das sich in vielfacher Form bis heute bemerkbar macht. Doch ungeachtet dessen ist der Kolonialismus, die Ausbeutung weit entfernt liegender Kolonien und die missachtende Behandlung ihrer Menschen, ebenfalls ein Teil der europäischen Tradition. Sie lässt sich nicht einfach wegdenken; vielmehr ist es die Aufgabe der heutigen Europäer, mit diesem Erbe verantwortungsvoll umzugehen. Dazu gehört auch das Phänomen der Sklaverei. Es hat sie bereits in der Antike gegeben, und die verschiedenen Formen von Leibeigenschaft und Schuldknechtschaft wurden in Europa nach und nach abgeschafft. Doch haben sich Europäer als Sklavenhändler und als Sklavenhalter in den Überseegebieten schändlich hervorgetan. Mit dem europäischen Bewusstsein ging die Vorstellung von einer Überlegenheit einher, die nicht selten mit dem christlichen Glauben korrelierte.

Neben den christlichen Einflüssen gab es auch weiterhin immer solche von anderen Religionen. Die überlebenden Juden haben vor allem entscheidend zu den Aufklärungsprozessen beigetragen, die Europa in intellektueller Hinsicht stark geprägt haben. Vorstellungen von Toleranz und religiöser Anerkennung gehen auf diese Denker zurück, die damit der geistigen Entwicklung des Kontinents entscheidende Impulse verliehen haben.

Ehrlicherweise muss man auch die Agnostiker und die Atheisten zum Erbe Europas zählen. In polemischer Auseinandersetzung mit den vorherrschenden religiösen Anschauungen sind europäische Philosophen zu der Überzeugung gelangt, dass es Gott nicht gibt oder dass seine mögliche Existenz für die Menschen keine Bedeutung hat. Der Nichtglaube ist ein europäisches Produkt, das – in Form philosophischer Anschauungen oder vulgarisiert als der Atheismus der kommunistischen Regimes – zu einem Exportartikel geworden ist, der die Weltgeschichte nachhaltig beeinflusst hat. Auch wenn die Entwicklung von Religiosität in unserer Zeit unter den Religionssoziologen umstritten ist, so ist doch in Mittel-, Nord- und Westeuropa der Grad an Kirchlichkeit so niedrig wie sonst nirgends auf der Welt. Ob das eine Folge der Modernisierung ist oder durch andere Faktoren erklärt werden kann, muss dahingestellt bleiben.

Schließlich sei noch darauf verwiesen, dass der europäische Kontinent wie kein anderer in der Geschichte die ihm zugrunde liegenden Ideen verbreiten wollte und auch erfolgreich verbreitet hat. Der Kolonialismus wurde schon genannt; über die Ausbeutung von Ländern und Menschen hinaus hat man jedoch auch versucht, ein kulturelles, zumeist religiös konnotiertes Modell zu verbreiten, das man für die richtige Art zu leben hielt. Dazu gehören konkrete Erscheinungsformen, die in den ehemaligen Kolonialstaaten oft bis heute noch sichtbar sind. Dazu gehört aber auch die Idee, aus Europa stammenden Werten wie etwa den Menschenrechten weltweit Geltung zu verschaffen. Allerdings ist dazu zu ergänzen, dass hierbei seit dem 20. Jahrhundert die (ursprünglich natürlich auch europäisch geprägten) Vereinigten Staaten ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben.

All diese Dinge also sind zu beachten, wenn wir über das Erbe Europas sprechen. Es ist sehr stark durch die christlichen Traditionen geprägt, aber eben auch von anderen, den christlichen Ideen und Lehren zum Teil sogar zuwiderlaufenden Vorstellungen. Auch die freiheitlichen und emanzipatorischen Vorstellungen, auf die Europa mit Recht stolz sein kann, mussten sich teilweise erst im Gegensatz zu und in Abgrenzung von kirchlichen Positionen entwickeln. Das entbehrt nicht einer gewissen Absurdität: Die christlich-jüdische Tradition von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich moderne Ideen über die Würde und die Rechte des Menschen entwickeln, doch mussten diese sich zuerst und nicht ohne Mühe gegen den Widerstand des verfassten Christentums durchsetzen. In einem lange dauernden und oft schmerzhaften Prozess haben sich die christlichen Kirchen dann diese Errungenschaften angeeignet und nach und nach auch erkannt, dass sie zu ihrem eigenen Erbe gehören.

Was ist Europa heute?

Die bisher dargestellten Punkte helfen uns dabei zu verstehen, wie in der Geschichte „Europa“ gesehen wurde und was seine zentralen Elemente sind. Aber sie können keine Kriterien zur Bestimmung eines heutigen Verständnisses sein. All diese Dimensionen, auch die religiösen, haben eine wichtige historische Bedeutung; sie lassen uns verstehen, warum wir heute in der Verfassung sind, in der wir uns befinden, aber sie sind nicht normativ. Es ist also zu überlegen, was denn Europa heute ausmachen kann.

Dabei ist klar, dass es sich nicht um eine geografische Definition handeln kann. Dass der Versuch, den Kontinent durch seine physischen Grenzen zu bestimmen, nicht funktionieren kann, hat schon der Blick in die Geschichte gezeigt, wo das Mittelmeer lange Zeit nicht als Südgrenze des Kontinents, sondern als Verbindung zwischen den Küsten verstanden wurde. Doch auch im Norden und Westen ist es nicht viel besser: Ist Island ein Teil Europas? Grönland gehört geologisch zu Nordamerika, politisch aber über seine Verbindung mit Dänemark zum Kontinent – aber lässt sich die größte Insel der Welt tatsächlich als Teil Europas ansehen? Am schwierigsten ist die Abgrenzung Europas jedoch gegen Osten: Keine der traditionell angegebenen Ostgrenzen Europas ist überzeugend. Der Bosporus trennt Istanbul in zwei Teile – aber es handelt sich um eine Stadt, nicht etwa um eine halbe europäische und eine halbe asiatische Stadt. Die Zugehörigkeit von Schwarzem Meer und Kaukasus lassen sich ebenso geografisch nicht bestimmen, und der Ural, der gemeinhin als die Ostgrenze Europas angegeben wird, ist zu dieser Funktion vor allem deswegen gekommen, weil er sich fast gerade von Nord nach Süd erstreckt – tatsächlich ist er aber kein die Kontinente trennendes Gebirge, sondern eher eine Mittelgebirgskette; außerhalb seines subpolaren Teils gibt es nur einige wenige Erhebungen über 1.500 Meter Meereshöhe.

Es hat also wenig Sinn, Europa durch die erdkundlichen Gegebenheiten festlegen zu wollen. Nimmt man aber den kulturellen Raum als Kriterium, dann ergeben sich zahlreiche weitere Probleme. Russland unterscheidet sich zivilisatorisch in seinem europäischen Teil praktisch nicht von seinen in Asien gelegenen Gebieten. „Europa“ erstreckt sich also bis ans Japanische Meer. Es ist kein Zufall, dass die Idee von „Eurasien“ gerade in der russischen Geistesgeschichte so einflussreich gewesen ist. Und lässt sich nicht auch etwa Israel als europäisch geprägt bezeichnen? Ebenso müsste man die Frage in Bezug auf Australien stellen. Es gibt also einen europäischen Raum (nicht im konkreten Sinn verstanden), der über den Kontinent weit hinausgeht und sich in verschiedenen Regionen der Welt wiederfinden lässt. Australien hat nicht die historischen Prozesse des alten Kontinents wie Städtebildung, Entstehung von Bürgerschaft, Selbstkonstitution von Gesellschaft usw. durchlaufen, doch ist es eine Gesellschaft, die sich von europäischen Werten leiten lässt, in der auf die europäische Art und Weise über das Gemeinwesen bestimmt wird und die somit in der europäischen Tradition steht.

Denkt man in diese Richtung weiter, so ergibt sich eine Vorstellung von Europa als einem Konglomerat von Werten, Lebens- und Verhaltensweisen. Eine geografische Zuordnung ist dafür nicht notwendig, und auch keine zu einem Staatswesen. Es ist also denkbar, dass es Gebiete, Regionen oder einfach Orte gibt, die zu „Europa“ gehören, weil in ihnen dieses Konglomerat verwirklicht wird. Das könnte man dann sogar für solche Denkformen sagen, die nicht räumlich eingegrenzt werden können. „Europa ist kein Ort, sondern eine Idee“, lautet ein berühmter Satz des französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy. Dann aber kann Europa tatsächlich überall sein. Es ist gleichsam eine Einstellung, die sich historisch aus in Europa entstandenen und/oder gewachsenen Traditionen speist und sie kreativ weiterentwickelt.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass wir Europa sehr häufig im Sinne des politischen Einigungsprojekts verstehen. Oft wird es ja mit der Europäischen Union gleichgesetzt, obwohl niemand daran zweifeln dürfte, dass auch Nichtmitglieder wie Norwegen oder die Schweiz zu Europa gehören. Dieses Europaverständnis ist allerdings pragmatisch und damit begrenzt. Es funktioniert (mehr oder weniger gut), solange es darum geht, Politik zu gestalten und konkrete Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen. Es kann allerdings keine Grundlage für eine Idee davon sein, wie Europa gestaltet werden soll. Vielmehr bedarf es selber einer solchen Idee. Es ist eine faktische Beschreibung, aber kein Zukunftsprojekt. Ein solches muss jeweils neu auf der Grundlage der Traditionen des Kontinents erdacht und entwickelt werden.

Europa im Diskurs

Was hält aber Europa dann zusammen? Diese Frage stellt sich in der gegenwärtigen Situation mit umso größerer Dringlichkeit. Die Finanzkrise hat die Frage nach der europäischen Solidarität konkret gemacht und die Schwächen der Wirtschaftsgemeinschaft aufgedeckt. In den mittel- und osteuropäischen Ländern, die sich noch vor kurzem so sehr um die Mitgliedschaft in der Europäischen Union bemüht haben, macht sich nicht nur zunehmende Distanzierung gegenüber „Europa“ breit, weil man – etwa an der Frage nach der Flüchtlingsverteilung – merkt, dass Solidarität auch eine Leistungsseite hat. Die Wahlerfolge populistischer Parteien und die damit verbundene Abwendung von längst gesichert geglaubten Errungenschaften der Demokratie, wie sie gerade etwa in Ungarn oder in Polen zu beobachten sind, sind ebenfalls Anzeichen für ein Auseinanderdriften Europas. Der Nationalismus, übrigens auch eine europäische Erfindung, die von hier aus ihren Weg in alle Welt genommen hat, kehrt zurück und lässt die nationalen Egoismen zu neuer Bedeutung gelangen.

Diese Entwicklungen zeigen uns, wie gefährdet die Idee Europa ist. Sie ist nicht von vorneherein gegeben, sondern sie musste, wie wir gesehen haben, historisch entwickelt werden. Das bedeutet, dass sie auch historischen Veränderungen unterliegt, und vor allem, dass diese Veränderungen gestaltet werden können und müssen. Somit ist „Europa“ also ein kaum eindeutig zu bestimmendes Gemenge von Vorstellungen und Werten, die veränderlich sind und die von den Beteiligten – also von allen Europäer/inne/n – diskursiv ausgehandelt werden müssen. Es ist nicht wichtig, dass es innerhalb Europas in allen Punkten Übereinstimmung darüber gibt, was diese Werte ausmacht. Das ist vielmehr das Schauermärchen, mit dem die Europagegner ihre potenzielle Wählerschaft erschrecken wollen: Als sollten alle lokalen Traditionen und gewachsenen Gepflogenheiten vereinheitlicht werden. Es gibt keinen europäischen Politiker und kein Dokument, die das auch nur annähernd anstreben wollten. Im Gegenteil, von den Slogans des „Europas der Vaterländer“ über die „Einheit in Verschiedenheit“ bis zu der Vorstellung von einem „Europa der Regionen“ wird immer wieder die Bedeutsamkeit der nationalen und regionalen Besonderheiten unterstrichen. Es muss also keinesfalls Übereinstimmung in allen Fragen herrschen; doch muss es einen Grundbestand von gemeinsamen Vorstellungen geben, die von allen geteilt – und geteilt heißt: gegebenenfalls auch verteidigt werden müssen. Dass dieser Grundbestand nicht genau zu bestimmen und sozusagen nicht in einer Charta zu formulieren ist, spielt dabei keine Rolle. Das ist die Folge davon, dass er eben Veränderungen unterliegt. Auch Normen und Werte bleiben nicht ewig gleich, sondern verändern sich.

Bei einer solchen Vorstellung von Europa bleibt auf den ersten Blick für das Christentum und die Kirchen nicht viel Raum. Doch dieser Eindruck täuscht. Das Christentum hat, wie oben skizziert wurde, eine zentrale Rolle bei der Entwicklung Europas gespielt, und selbst die Bedeutung der ständigen diskursiven Selbstversicherung lässt sich ohne große Mühe auf das christliche Erbe zurückführen. Doch kann es trotz dieser seiner wichtigen Rolle nicht verlangen, gleichsam als Lieferant für die europäischen Werte gesehen zu werden. Das gilt aber nicht nur für die christliche Tradition, sondern überhaupt für jedes Glaubens- oder Überzeugungssystem. Keines davon kann erfolgreich den Anspruch erheben, die Konturen von Europa bestimmen zu können. Und „können“ ist hier nicht als „dürfen“, sondern als „vermögen“ gemeint: Die Idee von Europa bringt es mit sich, dass es gar keinen solchen Satz von Werten geben kann, wer auch immer ihn formulieren würde.

Doch bleibt für das Christentum, konkret: für die Kirchen und für die einzelnen Gläubigen, eine Rolle von großer Wichtigkeit. Es geht darum, sich bei der Diskussion um den Charakter Europas zu engagieren und daran teilzunehmen. Das Ziel soll allerdings dabei nicht sein, so viele eigene Werte wie möglich durchzusetzen – Ziel muss es sein, das Gespräch, den Diskurs über die gemeinsame Zukunft aufrecht zu erhalten, die Regeln zu beachten, Defizite anzusprechen, Vorschläge zu diskutieren. Wie die Nichtwähler ein mindestens so großes Risiko für eine Demokratie darstellen wie extreme Parteien, so ist auch die Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft Europas gefährlich, da es keinen Automatismus gibt, der das System am Funktionieren halten würde. Das ist die Aufgabe aller – und die Kirchen spielen hierfür eine wichtige Rolle.

Dabei soll und kann gar nicht bestritten werden, dass die christliche Tradition ein reiches Arsenal an Vorstellungen, Werten und Ideen in sich birgt, die für Europa ein interessantes Angebot darstellen könnten. Aber es geht nicht darum, sie durchzusetzen, sondern sie müssen sich argumentativ bewähren. Allein die Tatsache, dass es innerhalb des Christentums, ja innerhalb ein und derselben christlichen Kirche ganz unterschiedliche Auffassungen davon geben kann, welche Werte in einer bestimmten Situation wie verstanden und konkretisiert werden sollen (und dass diese Vielfalt auch legitim ist), zeigt, dass es gar nicht möglich ist, eine Lösung für eine bestimmte Frage als unverzichtbar zu deklarieren. Die jüngere Geschichte ist voll von Beispielen des Scheiterns solcher Bemühungen, und die Anstrengungen der Russischen Orthodoxen Kirche, Russland zu einem „orthodoxen“ Staat zu machen, zeigen nicht nur, dass es völlig unmöglich ist, eine Gesellschaft auf diese Weise zu beeinflussen, sondern tragen auch zum Bedeutungs- und Glaubwürdigkeitsverlust der russischen Orthodoxie in ihrem Lande bei.

Was bedeutet das für die Zukunft Europas? Wenn wir Europa als jeweils neu zu verhandelnde Gemeinschaft verstehen, die auf den historisch erlangten und erkämpften Werten aufgebaut ist, dann ist es ein Projekt, das nie fertig ist. Die Gegenwart mit ihren Herausforderungen zeigt das sehr deutlich. Was dann bleibt, sind der Wille und die Bereitschaft, an diesem Projekt mitzumachen und sich dafür zu engagieren. Das aber ist keinesfalls wenig. Für den Kontinent ist es unabdingbar, und für uns alle ist es die Herausforderung, der wir uns zu stellen haben.