Gedanken zur Überwindung der Spaltung Europas aus dem Evangelium

Viktor Attila Soós (geb. 1979) studierte Geschichte und Katholische Theologie (2014 Promotion) und ist Leiter der Stiftung „Christliches Archiv der Gegenwart“ in Vác. – Die Fragen stellte Christof Dahm.

Haben die damaligen Veränderungen in Ungarn Auswirkungen auf Ihr heutiges Leben?

Viktor Attila Soós (Foto: privat)

Zur Zeit der ungarischen Wende war ich zehn Jahre alt. Ich habe nicht viele, aber prägende Erinnerungen und Eindrücke von der kommunistischen Diktatur. Der große Wandel, die Freiheit, die Demokratie, das freie Wirken der Kirchen und die Möglichkeit, den christlichen Glauben uneingeschränkt zu praktizieren, haben unser Land grundlegend verändert.

Da die Wende sich während meiner Jugend ereignete, also genau zu der Zeit meiner persönlichen weltanschaulichen Entwicklung und Orientierung, wäre ich ohne diesen Wandel sicherlich anders groß geworden. Ich bin in Körmend geboren und habe dort gelebt, in einer kleinen Stadt mit zehntausend Einwohnern nahe der Grenze zu Österreich. Dadurch konnten wir zur Zeit der Wende vieles miterleben. Einerseits waren wir direkt am Eisernen Vorhang, wir sahen viele ostdeutsche Flüchtlinge, andererseits verspürten wir auch ein wenig die Versuchungen des Westens, da es in den achtziger Jahren schon möglich war, einmal im Jahr für ein paar Tage in den Westen zu fahren.

Mit 17 Jahren lernte ich das Leben des 26-jährigen János Brenner kennen, der ein katholischer Priester war und 1957 brutal ermordet worden ist. Sein Martyrium geschah ein paar Kilometer von meinem Wohnort entfernt. Sein Leben und die brutale Aktion der Kommunisten gegen die Kirchen haben mich sehr tief geprägt. Ich wollte alles über sein Leben und über die Kirchenverfolgung wissen, deswegen begann ich, mich mit der Kirchengeschichte zu beschäftigen. So kam ich zur Katholischen Péter-Pázmány-Universität. Später durfte ich als Geschichtsexperte am Seligsprechungsprozess von János Brenner mitwirken. Er war ein authentischer, fröhlicher, furchtloser und mutiger Seelsorger, der sich für die Eucharistie unter Einsatz seines eigenen Lebens einsetzte.

Als Historiker befasste ich mich besonders mit der Kirchengeschichte, weil ich daran interessiert war, wie der Parteistaat funktionierte, wie die Kirchen verfolgt wurden, wie die Freiheit der Einzelperson eingeschränkt wurde und wie sich dies auf ihr Leben auswirkte. Ohne Angst zu leben entwickelte sich zu einem Auftrag, der mein ganzes Leben prägte. Wenn der Eiserne Vorhang nicht gefallen wäre, wenn die kommunistische Diktatur nicht aufgehört hätte, hätte ich weder meinen Beruf gefunden, noch könnte ich heute das Zeitalter der Diktatur erforschen.

Der Leitsatz meiner Berufung stammt von Ödön Lénárd, der 18 Jahre lang im Gefängnis saß: „Was ist mit uns Christen passiert, wie haben wir die Verfolgung der Kirche erlebt und wie haben wir uns verhalten?“ Dies gilt es unter allen Umständen zu berücksichtigen.

Derzeit bin ich Mitglied des vom Ungarischen Parlament gewählten Nationalen Gedenkkomitees, das für die Untersuchung der Tätigkeit der kommunistischen Diktatur zuständig ist.

Können Sie sich vorstellen, dass die Generation vor Ihnen vieles anders sieht?

Die Generation vor uns erlebte die Diktatur in ihrem eigenen Leben. Viele haben als Opfer unter dem System gelitten, aber in meinem Bekanntenkreis gibt es auch Leute, die von der Diktatur profitiert haben. Es ist sicher, dass wir die Dinge in vielen Bereichen anders sehen als die älteren Generationen. Aber ich habe den größten Respekt und die größte Achtung vor denen, die diese Zeit mit starkem Glauben und einem lauteren Leben überstanden haben. Sicherlich gibt es Leute, die die Veränderungen der letzten Jahrzehnte so erleben, dass die erhofften Fortschritte nicht erreicht wurden, aber manchmal waren die Erwartungen zu groß. Leider war es nicht realistisch, dass die Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa schnell verschwinden würden, aber meiner Meinung nach ist dieses Phänomen tiefer verwurzelt. Die Spaltung Europas begann nicht in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die osteuropäische Diktatur hat viel dazu beigetragen. Wir glauben und vertrauen jedoch auf die Einheit Europas, die auf der griechischen Philosophie, dem römischen Recht und dem Christentum beruht.

Was muss sich in Ungarn noch ändern? Und wie sehen Sie die künftige Entwicklung Europas?

Ich glaube, es wäre gut, wenn die sozialen Unterschiede abgebaut und ein Aufholprozess der schwächeren Gesellschaftsschichten stattfinden würde. Ihnen müsste geholfen werden, damit die aus welchen Gründen auch immer bestehenden Spaltungen verschwinden würden. Wenn wir diejenigen auch erreichen könnten, die an den Rändern der Gesellschaft leben, und ihnen so helfen könnten, dass ihr Leben sich wirklich verbessert. Es wäre gut, wenn unser Glaube echt lebendig wäre, wenn wir das Christentum in unserem Alltag leben könnten, und wenn wir feste und freie Bürger wären, denen die Heimatverbundenheit wichtig ist.

Meiner Meinung nach befindet sich Europa derzeit in einer schweren Krise. Grundwerte, Bindungen und Beziehungen sind für viele nicht wichtig. Es wäre schön, zu den wichtigsten menschlichen Werten, zur Freiheit, zur Ehrlichkeit, zur Gewaltlosigkeit, zur Menschenliebe, zur Suche nach der Wahrheit, vor allem aber zum Leben nach dem Evangelium und zu seiner mutigen missionarischen Weitergabe zurückzukehren.