Träume werden wahr

aus OWEP 3/2019  •  von Inara Uzolina

Inara Uzolina, verheiratet und Mutter einer elfjährigen Tochter, ist Deutschlehrerinund Übersetzerin; außerdem ist sie die Präsidentin des Lettischen Katholischen Frauenbundes.

Inara Uzolina (Foto: privat)

Ohne Zweifel ist das Leben aller Menschen, die den Fall des Eisernen Vorhangs erlebt haben, in vorher und nachher geteilt. Ich war Teenager in dieser Zeit und habe alles mit Neugier, Interesse, aber auch ohne tieferes Verstehen erlebt. Erst danach kam die Einsicht, dass ich Zeugin großer Veränderungen war, die auch mein Leben und meine Zukunft beeinflusst haben. Alles, was heute für mich so wichtig ist, wäre ohne dieses Geschehen nicht möglich: weltweit Reisen, Austausch und Engagement auf internationaler Ebene, offen und aktiv meinen Glauben leben und praktizieren, ohne Angst und Verfolgung meine Gedanken, Ideen und Einsichten aussprechen. Natürlich, auch materielle Vorteile haben und genießen wir – die Waren aus anderen Ländern. In meiner Kindheit war eine Banane etwas Großartiges und Exotisches! Wir konnten nur davon träumen, sie zu essen! Anderseits haben wir uns über kleine Sachen riesig gefreut! Eine grüne Banane, Kaugummi, eine Plastiktüte mit ausländischer Aufschrift oder duftende Seife, ein berühmter Roman in der Buchhandlung oder schwarze Nylonstrumpfhosen haben unbeschreibliche Freude gemacht! Wir waren öfter glücklich, weil wir Kleinigkeiten geschätzt haben.

Mit großen Veränderungen in unserem Land und nach wiedergewonnener Unabhängigkeit kamen auch Zweifel, Unwissen und Verwirrung auf uns zu. Menschen, die ihr ganzes Leben gehorsam Anweisungen von „oben“ gefolgt waren, weil eigene Entscheidungen zu treffen und Einsprüche zu erheben lebensgefährlich war, wurden plötzlich sich selbst überlassen. Die neunziger Jahre waren sehr hart, besonders für die Generationen vor mir. Diese Zeit war eine echte Überlebensschule: Viele Betriebe und Fabriken wurden geschlossen, es herrschte Chaos in der Wirtschaft und in der Privatisierung der ehemals sowjetischen Unternehmen. Die unternehmungslustigsten Personen, die „gute“ und „richtige“ Beziehungen hatten, haben für sehr kleines Geld großes Kapital gemacht. Geldreform und hohe Inflation waren weitere Prüfungen des Lebens, die alle Ersparnisse wertlos gemacht haben. In dieser schweren Lage haben viele wieder an die „guten alten Zeiten“ in der Sowjetunion sehnsüchtig gedacht – besonders die russischstämmigen Bewohner Lettlands, die nun von ihrer alten Heimat getrennt waren. Man musste sehr patriotisch sein und an die Geschichte Lettlands und der Balten denken, um in diesen schweren Übergangsjahren von der Besatzung zur Freiheit den Mut und die Lebensfreude nicht zu verlieren. Immer noch gibt es in Lettland alte Menschen, in der Regel keine ethnischen Letten, die überzeugt sind, dass es in der Sowjetunion, die als große Heimat galt, besser war.

Im Jahr 1991 wurde Lettland zum zweiten Mal ein freier Staat, eine unabhängige Republik. Es wurden neue Gesetze geschrieben, ein neues System eingeführt. Es hat Jahre gedauert, bis das neue Leben im Land geregelt war. Aber das Denken der Menschen ändert sich nicht so schnell. Die Prägung der sowjetischen Zeit hat jeder, der diese Zeit erlebt hat, auch ich. Die Angst, die eigene Meinung, Bedürfnisse, Ansichten offen zu sagen, sitzt tief in uns. Der Gedanke „Was werden die anderen darüber sagen und denken“ läuft blitzartig jedes Mal durch das Gehirn, wenn man etwas aus der Reihe Tanzendes machen oder sagen möchte.

Ich denke, dass das Wichtigste, was wir in Lettland noch ändern müssen, unser Denken ist. Kinder und junge Menschen, die nach dem Jahr 2000 geboren wurden, verhalten sich schon ganz anders. In ihnen sehe ich die Zukunft unseres Landes. Europa ist für sie eine große Heimat. Mit innerer Freiheit, Mut, Begeisterung und Ambitionen finden sie leichter eine gemeinsame Sprache mit anderen und mit Andersdenkenden.

Ich bin keine Politikerin, aber ich habe den Eindruck, dass in der Europäischen Union jedes Land sehr viel an das eigene Wohl denkt und weniger das Wohlergehen der ganzen Union im Blick hat. Diese beiden Aspekte könnte man besser ausgleichen: „Einer für alle und alle für einen!“