OWEP 4/2012

OWEP 4/2012

Schwerpunkt:
Die Tschechische Republik

Editorial

Ein Blick auf die europäische Landkarte zeigt, dass Deutschland und Tschechien im wahrsten Sinn des Wortes eng miteinander verzahnt sind. Vor 1989 war dies nicht so deutlich zu erkennen: Für die „alte“ Bundesrepublik lag dieser Nachbar im Südosten und war in erster Linie ein Nachbar für Bayern; etwas deutlicher war die Nähe für die DDR erkennbar, hier war es der einzige Nachbar im Süden. Noch etwas war allerdings vor 1989 für die Westdeutschen anders. Für sie lag dieses Land mit den vielen, oft unkorrekten oder unvollständigen Bezeichnungen (Tschechoslowakei, ČSSR, Tschechei, Böhmen und Mähren usw.) jenseits des Eisernen Vorhangs und war damit trotz der seit den sechziger Jahren bestehenden Reisemöglichkeiten ein Land, vor dem eine gewisse Scheu bestand. Zwar war der „Prager Frühling“ 1968 mit viel Sympathie beachtet, seine Niederschlagung mit Empörung aufgenommen worden – dennoch herrschte Zurückhaltung vor, die oft in Unverständnis und auch Unkenntnis einmündete.

Eine Ausnahme bildeten die Deutschen mit familiären Wurzeln in der Tschechoslowakei, pauschal als „Sudetendeutsche“ (und „Karpatendeutsche“) bezeichnet. Bis heute wissen nur wenige Deutsche und Tschechen, dass trotz der historischen Belastungen infolge von Krieg und Vertreibung von diesen Menschen schon früh vielfältige Kontakte in die alte Heimat aufgebaut wurden.

Die Geschichte schlägt gelegentlich seltsame Haken, denn im zusammenwachsenden Europa, in dem die Grenzen immer bedeutungsloser werden, gibt es seit 1990 einen deutschen Staat, dafür aber seit 1993 zwei Staaten auf dem Gebiet der Tschechoslowakei. Der westliche der beiden, offiziell „Tschechische Republik“ genannt, ist der Staat, mit dem Deutschland die längste gemeinsame Grenze hat. Wie ist heute, fast ein Vierteljahrhundert nach der „Wende“, das Verhältnis der Staaten zueinander – und viel wichtiger: Was wissen die Menschen voneinander? Wie gehen sie mit den immer noch langen Schatten der gemeinsamen Geschichte um? Das vorliegende Heft möchte die Leserinnen und Leser dazu anregen, über diese und andere Themen im Verhältnis zwischen zwei engen Nachbarn in Mitteleuropa nachzudenken.

Die Redaktion

Kurzinfo

Das Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen war im Laufe der Jahrhunderte vielen Schwankungen unterworfen. Einerseits sind die Siedlungsräume beider Völker eng miteinander verwoben, andererseits zeichnet sich das Kernland der heutigen Tschechischen Republik geographisch gegenüber dem Nachbarn im Norden und Westen durch eine Besonderheit aus: Gebirgszüge bilden eine natürliche Grenze, übrigens auch nach Nordosten zum heutigen Polen hin und nach Süden zu Österreich. Freilich gab es über diese Gebirge, sieht man einmal von der Epoche des Kalten Kriegs zwischen 1948 und 1989 ab, immer viele Verbindungen, sodass Deutsche und Tschechen über eine vielfältige, äußerst wechselhafte gemeinsame Geschichte verfügen.

Allerdings ist auf die Ungleichheit der Nachbarn in Vergangenheit und Gegenwart zu achten: Das heutige Deutschland umfasst viereinhalb Mal so viel an Fläche wie die Tschechische Republik und fast das Achtfache an Einwohnern. Über Jahrhunderte hinweg lebten Tschechen und Deutsche im Gebiet des heutigen Tschechien – in deutscher Sprache Böhmen (und Mähren) genannt – mal mehr, mal weniger friedlich miteinander. Der Keim zur gegenseitigen Entfremdung, die letztlich in die Katastrophe der Vertreibung der Deutschen nach 1945 führte, wurde schon im Spätmittelalter gelegt und ist markiert durch die Begriffe „Hussitenkriege“ und „Schlacht am Weißen Berg“. Und heute? Nach der „samtenen Revolution“ von 1989 konnten Kontakte, die nie völlig abgebrochen waren, verstärkt und neue geknüpft werden. Viele Deutsche kennen die Namen Václav Havel und Milan Kundera, denken aber auch an den pfiffigen Soldaten Schwejk oder an die böhmische Küche.

Das vorliegende Heft kann aus der Fülle der Aspekte, die Deutsche und Tschechen miteinander verbindet oder auch trennt, nur eine Auswahl anbieten. Eröffnet wird es mit einer Einführung in die Geschichte des Landes von den Anfängen bis zur „Wende" 1989, der bereits erwähnten „samtenen Revolution“. Dr. Tobias Weger, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, zeichnet die Grundlinien der wechselvollen Entwicklung nach. Direkt an ihn schließt sich ein Beitrag von Mathias Marquard M. A., der in der Geschäftsführung des Fachbereiches „Kultur- und Sozialwissenschaften“ der Universität Koblenz-Landau tätig ist, an. Er befasst sich mit den Veränderungen in Politik und Gesellschaft nach 1989. Einschneidende Ereignisse waren in diesen Jahren zum einen die Auflösung der Tschechoslowakei Ende 1992 und die Bildung zweier souveräner Staaten, zum anderen der Beitritt des Landes zu NATO und EU. Unmittelbar nach der gesellschaftlich-politischen Wende kam es darauf an, die abgeschnittenen Kontakte zu den nächsten Nachbarn wiederherzustellen, und zwar von „ganz unten“, auf der Ebene zwischen den Menschen, Dörfern und Städten. Eine bedeutende Rolle spielen in dieser Hinsicht die Euroregionen, grenzüberschreitende Arbeitsgemeinschaften, deren vielfältige Programme zur Verbesserung des alltäglichen Zusammenlebens beitragen. Beispielhaft wird dies an der „Euregio Egrensis“ deutlich, die Teile Tschechiens, Bayerns, Thüringens und Sachsens umfasst. Wie sie entstand und wie sie arbeitet, erläutert der Bericht von Dr. Birgit Seelbinder, Oberbürgermeisterin von Marktredwitz und eine der Initiatorinnen der grenzübergreifenden Zusammenarbeit.

Wer sich mit der Geschichte der Tschechen befasst, wird sehr schnell erkennen, dass die Tschechen im Vergleich zu ihren Nachbarn in Polen oder Deutschland ein sehr distanziertes Verhältnis zu Religion und Kirche haben. In den einschlägigen Statistiken wird immer wieder darauf verwiesen, dass Tschechien zu den am stärksten säkularen Staaten Europas zählt. Der an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag lehrende Kirchenhistoriker Dr. Peter Morée geht in seinem Beitrag den Ursachen dieses Phänomens nach, dessen Wurzeln bis in die konfessionellen Auseinandersetzungen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit zurückreichen. Auch im anschließenden Beitrag von Martin Kastler MdEP, dem Bundesvorsitzenden der Ackermann-Gemeinde, spielt das religiöse Bekenntnis eine Rolle, sieht sich doch die Ackermann-Gemeinde als eine Organisation der nach 1945 aus dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik vertriebenen Deutschen bewusst auf katholischem Fundament stehend. Der Autor zeichnet das schwierige Verhältnis zwischen Tschechen und Sudetendeutschen nach und beschreibt die Etappen der Verständigung zwischen Deutschland und der Tschechischen Republik seit 1990, an denen die Sudetendeutschen einen großen Anteil hatten.

Breit aufgestellt zeigt sich die Literatur in der Tschechischen Republik, die leider hierzulande viel zu wenig bekannt ist. Ein Überblick über die neuere Prosa vermittelt die Literaturwissenschaftlerin Anna Knechtel M. A., Mitarbeiterin des Adalbert-Stifter-Vereins München. Neben der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit mit ihren Absurditäten wird in vielen Werken auch das Schicksal der früheren jüdischen und deutschen Bevölkerung zum Thema. Dass die Schatten der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen, wird ebenso in den folgenden vier kurzen Texten deutlich, in denen die jüngere Generation zu Wort kommt und ihre je eigenen Erfahrungen mit dem „Anderen“ schildert. An diesem Stimmungsbild haben die Studentinnen Marie Talířová und Verena Hesse, der Politologe und Historiker Ondřej Matějka und der Journalist Sebastian Kraft mitgewirkt.

Auch wenn, wie bereits erwähnt, die meisten Tschechen ein distanziertes Verhältnis zur Kirche haben, sind viele Menschen bis heute religiös geprägt; man kann davon ausgehen, dass wenigsten ein Viertel der Bevölkerung sich mehr oder weniger der römisch-katholischen Kirche zugehörig fühlt. In einem ausführlichen Interview äußert sich der Erzbischof von Prag, Dominik Kardinal Duka, zu aktuellen Problemen der Kirche in seinem Land und möglichen Wegen zu einem neuen religiösen Erwachen.

Abgeschlossen wird das Heft mit einem Porträt eines der bekanntesten Politiker der Tschechischen Republik. Die Prager Journalistin Ludmila Rakušanová stellt Außenminister Karel Schwarzenberg vor, in dessen Vita sich auch die komplexe deutsch-tschechische Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt.

Informationen in geraffter Form enthält eine Länderinformation mit den wesentlichen Eckdaten. Außerdem sind über das Heft acht Textkästen mit Begriffserklärungen verteilt, z. B. zu „Böhmische Dörfer“, „Goldenes Prag“ und „Böhmisches Bier“. Einige Literaturhinweise runden das Heft ab. Beigelegt ist dem Heft das Gesamtjahresinhaltsverzeichnis für den 13. Jahrgang 2012.

Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Februar 2013 wird Heft 1 des 14. Jahrgangs erscheinen, das dem Schwerpunkt „Migrationsströme in Europa und ihre Folgen“ gewidmet ist. Neben einem übergreifenden Beitrag zum Begriff „Migration“ und den Fakten werden u. a. die Veränderungen in Städten wie Berlin und Moskau beschrieben.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

242
Tschechien – ein historischer Abriss
Tobias Weger
243
Böhmische Dörfer (Textkasten)
Anna Knechtel
251
Die politische Entwicklung in Tschechien seit 1989
Mathias Marquard
256
CorruptTour (Textkasten)
Jaroslav Šonka
259
Die EUREGIO EGRENSIS – 20 Jahre Zusammenarbeit über Grenzen hinweg
Birgit Seelbinder
266
Die Situation der Kirchen in der Tschechischen Republik: Das Erbe von Nationalismus und Kommunismus
Peter Morée
267
Das „Goldene Prag“ (Textkasten)
Petr Křížek
273
Von der Konfrontation zum Dialog: Tschechen und Sudetendeutsche
Martin Kastler
275
Die Ackermann-Gemeinde (Textkasten)
Matthias Dörr
278
„Antikomplex“ (Textkasten)
Ondřej Matějka
281
Ein Schlaglicht auf die neuere tschechische Prosaliteratur
Anna Knechtel
282
Der „ewige Schwejk“ (Textkasten)
Kilian Kirchgeßner
289
Als junge Tschechin in Deutschland – Eindrücke und Gedanken (Erfahrungen)
Marie Talířová
292
Böhmisches Bier (Textkasten)
Kilian Kirchgeßner
294
„Denn mich hat keiner gefragt, und ich möchte nicht, dass du so etwas erlebst“ (Erfahrungen)
Verena Hesse
298
Nähe und Ferne – meine Erfahrungen mit Deutschland (Erfahrungen)
Ondřej Matějka
302
Ein Stück Heimat (Erfahrungen)
Sebastian Kraft
303
Temelin (Textkasten)
Boris Kaliský
306
Länderinfo: Tschechische Republik
Jörg Basten
308
„Die Kirche muss eine geistliche, vom Geist erfüllte Kirche sein.“ Ein Gespräch mit Dominik Kardinal Duka OP
Michael Albus
314
Karel Schwarzenbergs schwieriges Los eines Idols (Porträt)
Ludmila Rakušanová
317
Übersicht der Textkästen
318
Bücher
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