OWEP 4/2014

OWEP 4/2014

Schwerpunkt:
Ukraine? – Ukraine!

Editorial

Die Ereignisse, die seit einem Jahr die Ukraine erschüttern, haben das zwischenstaatliche Gefüge verändert, das sich in Europa nach der Wende von 1989/91 herausgebildet hatte. Russland, das von den westlichen Staaten immer mehr als Partner angesehen wurde, hat sich als nicht zu verlässig erwiesen; das wird in den nächsten Jahren nicht nur wegen der Wirtschaftssanktionen weitreichende Folgen für ganz Europa haben.

Dass gerade die Ukraine der Anlass für diese Entwicklung wurde, ist kein Zufall. Für kaum ein anderes Land gilt so sehr, dass es „zwischen Ost und West“ liegt. Doch die Ukraine liegt nicht nur in einem „Zwischen“, sondern zu ihr gehört aufgrund ihrer Geschichte die östliche, auf Russland hin orientierte Tradition ebenso wie eine nach Westen ausgerichtete, die in früheren Jahrhunderten nach Warschau und Wien geblickt hat, sich heute jedoch vor allem auf Brüssel konzentriert. Das Schaffen einer nationalen Identität im ganzen Land, die diese beiden Pole in sich vereinen würde, wäre eine wichtige Aufgabe seit dem Ende der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine gewesen – leider standen aber bei den politischen Eliten im Lande immer andere, meist eigene Interessen im Vordergrund. Allerdings sieht es momentan so aus, als sei angesichts und wegen des Konfliktes das Nationalgefühl in allen Regionen des Landes stark gewachsen.

In diesem Heft wollen wir die Ukraine mit Aspekten vorstellen, die viele Leserinnen und Leser vielleicht noch nicht kennen. Ohne die Ereignisse des Winters 2013/14 auf dem „Majdan“, dem Unabhängigkeitsplatz, lässt sich die heutige Lage des Landes nicht verstehen; es ist daher naheliegend, dass den Geschehnissen und auch dem Platz selber gebührende Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das Problem der ukrainischen Identität zeigt sich in der Sprachenfrage, aber auch im Nationalbewusstsein; darauf werden wir ebenfalls eingehen. Wir hoffen, damit und mit den anderen Beiträgen unseren Leserinnen und Lesern Hintergrundinformationen zu einem Land in Europa geben zu können, das wichtig ist und wohl immer wichtiger werden wird.

Die Redaktion

Kurzinfo

Seit über einem Jahr beherrscht die Entwicklung in der Ukraine die Schlagzeilen der internationalen Presse. Das Schlagwort „Euromajdan“ steht für das Aufbegehren der Bürger gegen ein System, das sich immer mehr von den Idealen der „Orangenen Revolution“ der Jahre 2004/2005 entfernt hat und das Land politisch wie wirtschaftlich in Richtung „Osten“ (Russland) statt nach „Westen“ (Europäische Union) ausrichten wollte. Die Proteste der Pro-Europäer eskalierten in den gewaltsamen Zusammenstößen auf dem Majdan, dem Hauptplatz von Kiew, und führten schließlich zum Sturz von Präsident Viktor Janukowitsch im Februar 2014, zur Bildung einer neuen Regierung und zur Wahl von Petro Poroschenko zum Staatspräsidenten im Mai 2014. Dennoch kommt das Land nicht zur Ruhe, nicht zuletzt wegen der undurchsichtigen Haltung Russlands, das einerseits betont, zur Befriedung der Lage beitragen zu wollen, andererseits die Aktivitäten von Separatisten im Osten der Ukraine zulässt bzw. ganz offen als „Schutzmacht“ für russische Bewohner der Ukraine auftritt, wie es etwa auf der Halbinsel Krim geschehen ist.

Es ist angesichts der vielen ungeklärten Fragen zur Entwicklung der Ukraine sicher noch zu früh, ein abschließendes Urteil über den „Euromajdan“ zu fällen; jedoch ist es wichtig, die Hintergründe und Zusammenhänge darzustellen, zumal gerade in der deutschen Öffentlichkeit beim Thema „Ukraine“ Tatsachen, Halbwahrheiten und Fehlinformationen ein fast unentwirrbares Netz gebildet haben. Das vorliegende Heft möchte ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige Aspekte herausarbeiten und darüber hinaus Menschen zu Wort kommen lassen, die vor oder während der Krise in der Ukraine engagiert waren oder es bis heute sind. Die Leserinnen und Leser mögen sich dann selbst ein Urteil bilden.

Am Beginn sollen die Fakten stehen: Was war der Anlass für die Protestbewegung, wo liegen die tieferen Ursachen? Diesen Einstieg, der mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 einsetzt, vermittelt der Beitrag von Prof. Dr. Katrin Boeckh, Professorin für Ost- und Südosteuropäische Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Eingefügt in ihre Analyse ist ein thematischer Textkasten unter dem Titel „Krim – Zankapfel zwischen der Ukraine und Russland“. Eine Ergänzung und Vertiefung zu den gesellschaftlichen Hintergründen der Krise bietet Dipl. Pol. Steffen Halling, Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Er untersucht die Rolle der Oligarchen in der Ukraine und stellt mit Rinat Achmetov, Ihor Kolomojskyj und Petro Poroschenko (dem heutigen Staatspräsidenten) kurz drei prominente Oligarchen vor.

Zwei weitere Beiträge befassen sich mit den Menschen, die zu den Protesten auf dem Majdan in Kiew zusammenkamen. Um welche gesellschaftlichen Gruppen hat es sich gehandelt, was war ihre Motivation? Einen Überblick vor dem Hintergrund vertiefter soziologischer Auswertungen bietet die Analyse von Dr. Mykhaylo Banakh, Mitarbeiter des ifa-Instituts in Stuttgart und 2012-2014 Koordinator der „Kiewer Gespräche“, und Julia Samus, Mitarbeiterin des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Es zeigt sich, dass die Protestbewegung zur Stärkung der Zivilgesellschaft in der Ukraine geführt und man somit aus den Fehlern und verpassten Chancen nach der „Orangenen Revolution“ 2004/2005 gelernt hat. In den Beitrag eingefügt ist ein Textkasten, der den Begriff „Majdan“ und seine Herkunft erläutert. Eine besondere Bedeutung während der Protestbewegung ist den Kirchen zugekommen, die – wie aus dem Essay von Katarina Nowikowa, Religionswissenschaftlerin in Kiew, hervorgeht – offen Partei für die Demonstranten ergriffen haben. Allerdings verhielt sich die Russische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats zurückhaltend bis ablehnend, was ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft geschwächt haben dürfte.

Russland kommt bei den Vorgängen in der Ukraine eine Schlüsselrolle zu, und ohne Einbeziehung Russlands ist eine friedliche Beilegung des Konflikts um die Krim und die Ostukraine nicht vorstellbar. Es ist daher wichtig, auch die Position der russischen Politik und besonders die Haltung von Präsident Wladimir Putin zu kennen und einzuordnen. Besonders (aber nicht nur) in Deutschland hat sich während der Zuspitzung der Krise in der Ukraine gezeigt, dass viele Vertreter des öffentlichen Lebens unter Hinweis auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen im 20. Jahrhundert Verständnis für das Verhalten Russlands zeigen. Die Argumentationsstränge der „Russland-Versteher“ ebenso wie der „Ukraine-Versteher“ verlaufen allerdings nicht immer klar und sachlich. Daher geht der Beitrag von Dr. Kai Struve, Privatdozent am Institut für Geschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, bis zu den deutsch-ukrainisch-russischen Konfliktlinien während des Zweiten Weltkriegs zurück und verdeutlicht, inwieweit Pauschalurteile wie z. B. der Begriff „Faschist“ bis heute nachwirken. Wesentlich schärfer mit der Person und den Zielen Wladimir Putins geht im nachfolgenden Interview, das im August 2014 entstand, der frühere ukrainische Präsident Viktor Juschtschenko um. Er warnt davor, Russland gegenüber zu nachgiebig aufzutreten, denn letztlich „ist (es) in der Tat Krieg – Putins Krieg mit Europa mittels der Ukraine“.

Immer wieder fällt bei den Berichten über die Ukraine der Hinweis auf die Spannungen zwischen ethnischen Russen und Ukrainern im Lande. Diesem Thema widmen sich mit unterschiedlichen Schwerpunkten die Beiträge von Dr. Heike Dörrenbächer, Leiterin des Büros der Friedrich-Naumann-Stiftung in der Ukraine und Belarus, und Anja Lange, DAAD-Lektorin in Kiew. Letztlich zeigt es sich, dass eine klare sprachliche Grenze kaum zu ziehen ist, zumal viele Bürger der Ukraine zweisprachig sind und ein bedeutender Teil eine Mischsprache („Suržyk“) nutzt. Für Heike Dörrenbächer haben die Ereignisse um den „Euromajdan“ die Entstehung einer ukrainischen Willensnation über die Sprachgrenzen hinweg verstärkt; nach Ansicht von Anja Lange, deren Beitrag sich besonders mit dem eher begrenzten Aussagewert statistischer Daten befasst, ist die Zweisprachigkeit für viele jüngere Bürger der Ukraine eher Chance als Belastung.

Mit der Reportage „In Ängsten und siehe wir leben. Ukrainische Augenblicke im Sommer 2014“ von Prof. Dr. Michael Albus, dem verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift OWEP, werden die Leserinnen und Leser noch einmal unmittelbar an das Geschehen der vergangenen Monate herangeführt. Ende August 2014 herrscht in Kiew trügerische Ruhe, Menschen erzählen von ihren Erlebnissen, ihren Hoffnungen und Befürchtungen angesichts der fortdauernden Kämpfe im Osten. Auch Vertreter von Hilfsorganisationen kommen zu Wort, aus deren Berichten deutlich wird, wie das ganze Land unter den Folgen von Krise, Kämpfen und Vertreibungen zu leiden hat.

Abgeschlossen wird das Heft durch ein Interview über die Geschichte und Gegenwart Russlands mit dem in Freiburg/Breisgau lehrenden Osteuropahistoriker Prof. Dr. Dietmar Neutatz, der zu den profundesten Kennern der russischen Geschichte gehört. Eine Übersicht mit wichtigen Veröffentlichungen zum Schwerpunkthema rundet das Heft ab.

Beigelegt ist dem Heft das Gesamtjahresverzeichnis 2014.

Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Februar 2015 wird das erste Heft des 16. Jahrgangs erscheinen, das sich als Länderheft mit Makedonien, einem kleinen Land mit großer Geschichte im Südosten Europas, befassen wird.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

242
Ukraine 2000plus. Revolutionen ohne Ende?
Katrin Boeckh
243
Krim – Zankapfel zwischen der Ukraine und Russland (Textkasten)
Christof Dahm
253
Die Rolle der Oligarchen und der Umbruch in der Ukraine
Steffen Halling
263
Euromajdan 2013/14 und die zivilgesellschaftliche Entwicklung während und nach der Protestbewegung
Mykhaylo Banakh und Julia Samus
265
Majdan (Nezaležnosti) (Textkasten)
Sören Runkel
272
Die geistliche Patrouille vom Majdan
Katarina Nowikowa
279
„Faschisten“ als Feindbild. Putins Krieg gegen die Ukraine und die deutsche Öffentlichkeit
Kai Struve
287
„Es ist in der Tat Krieg – Putins Krieg mit Europa.“ Ein Gespräch mit dem früheren ukrainischen Staatspräsidenten Viktor Juschtschenko
Michael Albus
291
Was ist Ukrainisch? Nationwerdung in der Ukraine
Heike Dörrenbächer
297
„Ich spreche nicht die Sprache der Okkupanten.“ Zur Sprachenfrage in der Ukraine
Anja Lange
302
In Ängsten und siehe wir leben. Ukrainische Augenblicke im Spätsommer 2014. (Reportage)
Michael Albus
313
„Scheitern aus sich selbst heraus.“ Ein Gespräch über Russland mit dem Historiker Dietmar Neutatz
Ruth Renée Reif
318
Übersicht der Textkästen
318
Bücher
OWEP-Redaktion

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