OWEP 1/2016

OWEP 1/2016

Schwerpunkt:
Was hält Europa noch zusammen?

Editorial

In diesen Wochen und Monaten steht Europa vor so vielen und mannigfachen Problemen, wie es wohl seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr der Fall war: Die Wirtschafts- und Währungskrise hat Griechenland, aber auch einige andere Staaten in eine Schieflage gebracht und die Frage nach der innereuropäischen Solidarität neu gestellt. Nationalistische und populistische Parteien sind in Ungarn und Polen an die Macht gekommen, in anderen Ländern wie Frankreich oder Österreich sind sie ein nicht mehr zu übersehender politischer Faktor. Die Flüchtlingskrise schließlich hat diametral unterschiedliche Sichtweisen innerhalb der Gemeinschaft, aber auch innerhalb der einzelnen Staaten deutlich gemacht. Nicht nur, dass keine Lösung für diese Einzelprobleme abzusehen ist; in den europäischen Strukturen herrscht auch kein Konsens darüber, wo eine solche zu suchen sein müsste.

Wir versuchen in diesem Heft, einige wichtige Aspekte der Problematik aufzugreifen. Dabei spielen die aktuellen Probleme eine Rolle, aber auch grundsätzliche Fragen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auch auf der Rolle der Kirchen, einzelner kirchlicher Organisationen ebenso wie kirchlicher Zusammenschlüsse. So wollen wir ein Spektrum von Fragestellungen aufgreifen, die die europäischen Bürgerinnen und Bürger (und damit auch unsere Leserinnen und Leser) heute beschäftigen – aber wir wollen auch versuchen, mögliche Antworten auf diese Herausforderungen aufzuzeigen.

„Europa“ ist ein Projekt, an dem immer weiter gearbeitet werden muss. Manchmal wirkt die Baustelle wie kurz vor der Fertigstellung, manchmal lassen sich die Strukturen kaum erkennen. Doch dass es sich lohnt, an dem Bau mitzuarbeiten, und dass es letzten Endes keine Alternative zu diesem gemeinsam zu erstellenden Bauwerk gibt, davon ist die Redaktion überzeugt. Die Beiträge dieses Heftes sollen den Leserinnen und Lesern diese Überzeugung nahebringen.

Die Redaktion

Kurzinfo

Seit Beginn der Flüchtlingswelle im vergangenen Herbst befindet sich die Europäische Union in einer schweren Krise. Angesichts der großen Zahl Hilfesuchender versagt ein entscheidendes Moment, auf dem der Gedanke der Einigung Europas basiert: die Solidarität. Grundlegende Werte wie Unterstützung für Menschen in elementaren Notsituationen, ausgewogene Verteilung der Flüchtlinge auf alle Länder der Union oder offene Grenzen stehen auf dem Prüfstein. In fast allen Ländern nehmen nationalistische und populistische Strömungen zu und spielen in wachsendem Maße auch eine politische Rolle, z. B. in Ungarn und Polen, aber auch in Frankreich und Dänemark.

Vor diesem Hintergrund ist es berechtigt zu fragen, was Europa in den kommenden Jahren noch zusammenhalten kann und wird. Das aktuelle Heft der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven kann darauf keine Antwort geben, vermittelt aber immerhin grundlegende Informationen über das, was Europa in Geschichte und Gegenwart ausmacht und welche Faktoren zur Überwindung der aktuellen Krise eine Rolle spielen könnten. Der Einführungsbeitrag von Redaktionsmitglied Prof. Dr. Thomas Bremer befasst sich folgerichtig mit der historischen, geografischen und politischen Größe „Europa“, einem höchst unscharfen Begriff, zu dessen wesentlichen Grundlagen das Christentum gehört. Dem Christentum wird auch für die Zukunft eine wichtige Rolle zukommen: Es kann entscheidend dazu beitragen, dass der Weg hin zu einem einigen Europa trotz aller Anfechtungen weiter beschritten wird.

In den drei folgenden Beiträgen wird die Berufung auf christliche Werte von unterschiedlicher Warte aus noch konkreter vorgestellt. Dr. Michael Kuhn, stellvertretender Generalsekretär der COMECE (Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft) in Brüssel, skizziert die Ursachen der aktuellen Krise und zeigt auf, dass sich der Riss, der sich durch die Europäische Union zieht, leider auch in widersprüchlichen Aussagen kirchlicher Würdenträger manifestiert. Umso wichtiger ist es, wenn in aktuellen Stellungnahmen von katholischer und evangelischer Seite an die bleibende Verantwortung der Christen für ihre Mitmenschen auf Grundlage des Evangeliums erinnert wird. Ähnlich äußert sich Elizabeta Kitanović, orthodoxe Christin und Mitarbeiterin des Brüsseler Büros der KEK (Konferenz Europäischer Kirchen), in deren Beitrag die einzelnen von der Krise betroffenen Gruppen wie Frauen und Kinder, Jugendliche oder Asylsuchende vorgestellt werden und ihr besonderer Schutz unter Berufung auf Worte Jesu im Matthäusevangelium eingefordert wird (Mt 25,40: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“). Prof. Dr. Stephanie Dietrich, Professorin für Diakoniewissenschaft in Oslo und Pfarrerin der Norwegischen Kirche, legt den Akzent auf die Chance, die die Flüchtlingskrise bietet: Die Christen verschiedener Konfessionen können angesichts der himmelschreienden Not zeigen, dass praktizierte Nächstenliebe im Geiste des Evangeliums wichtiger ist als dogmatische Streitigkeiten

Der folgende Beitrag des Heftes bildet einen Übergang zur Gruppe der länderbezogenen Texte, ist zugleich aber auch eine Ergänzung zu den eher theoretischen Überlegungen der Autoren aus Brüssel und Oslo. Pater Frido Pflüger SJ, Direktor des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes Deutschland, weist anhand von Zahlen und Fakten nach, dass die Flüchtlingswelle Deutschland keineswegs überfordert; Länder wie der Libanon oder Jordanien leisten seit Jahren viel mehr! Schwierigkeiten bei der Integration bleiben nicht aus, aber mit gutem Willen und Einsatz aller Beteiligten lassen sich seiner Meinung nach auch diese Probleme ausräumen. Voraussetzung für einen dauerhaften Erfolg ist es, wenn nach den Worten von Papst Franziskus an die Stelle einer Globalisierung der Gleichgültigkeit eine Globalisierung der Nächstenliebe tritt.

Tschechien und Polen zählen zu den Ländern, die sich gegenüber der Aufnahme von Flüchtlingen sehr reserviert zeigen. In beiden Ländern herrscht in dieser Frage ein ungewöhnlich breiter Konsens zwischen der Bevölkerung und der Politik; selbst auf kirchlicher Seite gibt es große Vorbehalte. Als Ursachen sind, wie die tschechische Journalistin Bára Procházková in ihrer Analyse festhält, für Tschechien historische Gründe festzuhalten, die weit in die Vergangenheit zurückreichen, aber auch mit der jüngsten Geschichte, also der Abschottung des Landes unter dem Kommunismus, zu tun zu haben – all das führt zu Misstrauen und Abwehr gegen „das“ Fremde und „Unbekannte“. Ganz ähnlich sieht der Befund für Polen aus, den der an der TU Chemnitz lehrende Politologe und Historiker Prof. Dr. Stefan Garsztecki beschreibt: Die neue Regierung der Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) strebt generell eine stärkere Rückbesinnung auf polnische Werte an und legt gegenüber „Brüssel“ eine große Zurückhaltung an den Tag. In den Hintergrund tritt angesichts der Flüchtlingsthematik der ungelöste Konflikt in der Ukraine. Auch dort sind Menschen auf der Flucht, die demokratische Entwicklung des Landes tritt auf der Stelle, der Weg in die Europäische Union ist noch weit und beschwerlich. Der Essay des ukrainischen Schriftstellers Serhij V. Zhadan lässt erkennen, wie nah und fern zugleich das Land den Westeuropäern noch ist.

Zwei Interviews und zwei Dokumente werfen in kurzer und zugleich prägnanter Form Schlaglichter auf die Auswirkungen der Flüchtlingskrise. Imre Asztrik Várszegi OSB, Erzabt der ungarischen Abtei Pannonhalma, äußert sich zur Stimmung in Ungarn und beschreibt die Hilfe der Abtei für Flüchtlinge. Frère Alois, Prior der Brüdergemeinschaft von Taizé in Frankreich, erläutert, wie in Taizé junge Menschen aus ganz Europa zu ihren christlichen Wurzeln finden und gemeinsam versuchen, gegen die neuen geistigen Mauern anzukämpfen. Das erste Dokument bietet einen Auszug der Rede von ZDF-Chefredakteur Dr. Peter Frey vom 21. November 2015 auf der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, worin er die Folgen der Flüchtlingskrise für die künftige Entwicklung Europas beschreibt. Pointiert zum gleichen Thema hat sich auch Karl Kardinal Lehmann in seiner Predigt zu Silvester im Dom zu Mainz unter dem Titel „Epochenschwelle?“ geäußert; Kerngedanken daraus sind wiedergegeben.

Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu aktuellen Büchern und weiteren Medien.

Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Mai 2016 wird das zweite Heft des 17. Jahrgangs erscheinen, das sich mit der Situation junger Menschen in Mittel- und Osteuropa befassen wird. Neben Beiträgen von Experten aus mehreren Ländern wird das Heft auch Statements von Jugendlichen enthalten.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

2
Was ist das eigentlich: Europa?
Thomas Bremer
13
Europa, die Krisen und die Kirche
Michael Kuhn
21
Europa in der Krise: Menschenrechte und Werte schützen
Elizabeta Kitanović
30
Die Flüchtlingskrise als Chance und Herausforderung für den Zusammenhalt Europas
Stephanie Dietrich
37
Abschottungspolitik: weltfremd und gescheitert
Frido Pflüger SJ
44
Die Tschechen sind als Europaskeptiker bekannt. Warum eigentlich?
Bára Procházková
52
Polen und Europa: nur eine Zweckgemeinschaft?
Stefan Garsztecki
60
Die Ukraine und Europa: die Unausweichlichkeit einer gemeinsamen Existenz
Serhij Zhadan
66
Der Weg Ungarns in der aktuellen Krise. Ein Gespräch mit Erzabt Imre Asztrik Várszegi
Christof Dahm
69
Europäische Erfahrungen in Taizé: Der Mentalität des Sich-Abgrenzens entgegenwirken. Ein Gespräch mit Frère Alois
Michael Albus
73
Europa und die Flüchtlingskrise (Dokument)
Peter Frey
77
Epochenschwelle? (Dokument)
Karl Lehmann
78
Bücher und weitere Medien
OWEP-Redaktion

Summary in English

Since the beginning of the flow of refugees last autumn, the European Union finds itself in a severe crisis. Given the large number of people seeking help, one decisive factor is failing: the solidarity. Fundamental values like the support of persons within elementary emergency situations, balanced allocation of refugees among all countries of the Union or open borders are under high scrutiny. Nationalist and populist trends are on the rise in almost all countries and increasingly play a political role, e.g. in Hungary and Poland, but also in France and Denmark. Besides a comprehensive introduction towards the term „Europe“ (historically, geographically, politically), the current issue offers reports about the latest moods within Poland, the Ukraine, Hungary and the Czech Republic and essays from representatives of the Catholic, Lutheran and Orthodox church, emphasizing the particular responsibility of the Christians for people in need.