Die Flüchtlingskrise als Chance und Herausforderung für den Zusammenhalt Europas

aus OWEP 1/2016  •  von Stephanie Dietrich

Stephanie Dietrich ist Professorin für Diakoniewissenschaft an der VID Specialized University in Oslo und Pfarrerin der Norwegischen Kirche mit vieljährigem Engagement in internationalen und ökumenischen Dialogen und Gremien. Sie ist auch Autorin von Publikationen zu ökumenischen und diakoniewissenschaftlichen Themen.

Zusammenfassung

Der aktuelle Zustrom von Menschen aus den Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas nach Europa verursacht viele Probleme, birgt aber auch Chancen für die Fortentwicklung Europas. Die Kirchen sind in dieser Situation, wie die Autorin darlegt, aufgefordert, ihre internen Differenzen zurückzustellen und stattdessen im gemeinsamen Zeugnis die Botschaft Christi für die Menschen in der Welt wirksam werden zu lassen.

Was hält Europa im Übergang von 2015 zu 2016 zusammen? Was beschäftigt die Menschen in allen Ländern? Als ich die Arbeit an diesem Artikel begonnen habe, habe ich diese Fragen an Freunde und Kollegen gestellt. Unser Gespräch war von einer gewissen Ratlosigkeit geprägt. Gibt es überhaupt einen Zusammenhalt in Europa? Worin könnte er bestehen? Warum erscheint Europa heute gespaltener denn je?

Mein Heimatland Norwegen steht außerhalb der Europäischen Union, und es ist oftmals von einer grundlegenden Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen geprägt. Geografisch am nördlichen Rand Zentraleuropas gelegen, sind viele Norweger – auch auf dem Hintergrund der Okkupationserfahrungen des Zweiten Weltkrieges – dem Gedanken eines europäischen Zentralismus gegenüber, besonders wenn er politischer Art sein sollte, eher kritisch gesinnt. Auch kirchlich bilden die nordischen Länder eine Art „lutherischen Block“ im Norden Europas – sind sie doch historisch und bis heute von volkskirchlichem und bis vor kurzem hauptsächlich staatskirchlichem Luthertum geprägt, das trotz umfassender und ansteigender Säkularisierung immer noch weite Teile der Bevölkerung umfasst.

Sowohl in Skandinavien als auch in allen anderen europäischen Ländern wird die Frage gestellt, ob das Verständnis Europas als einer politischen und kulturellen Einheit, als „christliches Abendland“, überhaupt noch Sinn macht. Gibt es so etwas wie eine gemeinsame Wertegrundlage in Europa? Ist es vielleicht gerade die Vielfalt und Diversität, die Europa prägt und zusammenhält? Welche Rolle spielt die historische und kulturelle Präsenz des Christentums und der christlichen Kirchen in einem Europa, das sich zunehmend säkular, multikulturell und multireligiös versteht? Was hält Europa zusammen?

Der Besuch eines guten Freundes aus Damaskus hat mir dann bei der Suche geholfen. Seine Antwort war eindeutig: Was Europa heute zusammenhält, sind die Flüchtlinge.

Die Flüchtlinge halten Europa zusammen. Besser gesagt: die Herausforderungen, die der eskalierende Flüchtlingsstrom in den vergangenen Jahren an Europa gestellt hat und stellt. Die Chancen und Möglichkeiten, aber auch die Probleme, die der Zustrom von Menschen aus Krisengebieten, zurzeit besonders aus dem Mittleren Osten und aus Afrika, an Europa stellt, sollen deshalb Thema dieses Beitrags sein. Kein Land Europas kann sich indifferent zu den Fragen über die Flüchtlingspolitik stellen, denn der Flüchtlingsstrom ist nicht mehr nur eine theoretische Möglichkeit, sondern eine Realität vor unseren Türen und Toren.

Der Strom der Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen ihren Weg nach Europa eingeschlagen haben, bringt Chancen und Möglichkeiten für die Kirchen mit sich, ihr Kirche-Sein im Einsatz für die Menschen zu leben, nicht zuletzt, weil im Bereich der Arbeit mit Flüchtlingen viele Ehrenamtliche ihren Tätigkeitsbereich in und durch die kirchlichen Strukturen finden.

Die Flüchtlingskrise hat auf der anderen Seite aber auch dazu geführt, dass an vielen Orten und in vielen Ländern Europas Fremdenhass, Rassismus, Islamophobie und Gewalt gegen die Flüchtlinge Fuß gefasst haben. In einem Europa, das zwei Weltkriege durchlebt hat und indem Millionen von Menschen aus rassistischen Gründen ermordet wurden, breiten sich wieder Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit aus. Während Europa in den letzten Jahren eng zusammengewachsen ist, sowohl politisch als auch wirtschaftlich, hat die Flüchtlingskrise dazu geführt, dass neue Grenzen gezogen werden, Mauern gebaut und die Zusammenarbeit und Solidarität zwischen den Ländern immer schwieriger geworden ist. In einer Situation, in der viele Länder Europas auch schon vor der Flüchtlingskrise große ökonomische Probleme hatten, hat sich die Lage nicht nur für diese Länder radikal verschärft. Auch in diesem negativen Sinne hält die Flüchtlingskrise Europa momentan zusammen: Fast alle Länder, auch die, die anfänglich ein großes Maß an Offenheit gezeigt haben, haben nun Verschärfungen in der Flüchtlingspolitik eingeführt. Die meisten europäischen Länder haben ihre Grenzkontrollen verschärft. Viele Länder haben Zäune, ja Mauern gezogen, um den Flüchtlingen die Einreise zu erschweren oder sie gar völlig zu verhindern. Die Angst um die eigene Existenz, vereint mit der Angst vor den Fremden, die vor den Türen Europas stehen, hat auch zu einer Welle von Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit geführt. An vielen Orten wird in den Medien nicht mehr von Menschen in Not gesprochen, sondern nur mehr von den Kosten und Gefahren, die ihre Ankunft mit sich bringt. Die Flüchtlinge werden oft nicht mehr als Individuen mit Menschenwürde und Recht auf Schutz wahrgenommen, sondern vielmehr als eine undefinierbare und überwältigende Masse, die scheinbar Europa überrollt und es zum Fallen bringen könnte.

In dieser Situation stehen die Kirchenleitungen in besonderer Weise in der Verantwortung, ihre Stimme gegen eine solche Entwicklung zu erheben und für verantwortliche Willkommenskultur und Willkommensstrukturen einzutreten.

Ich möchte hier deshalb der Frage nachgehen, was diese Herausforderung für Europa mit sich bringt und wie man aus kirchlicher Sicht die aktuelle Situation beurteilen könnte und sollte. Abschließend möchte ich, ausgehend von einer diakonischen Ekklesiologie, erläutern, auf welche Weise die Flüchtlingssituation eine Chance für die Kirchen sein kann, sowohl zu sich selbst als auch zueinander zu finden.

Die Flüchtlingskrise als Chance: Willkommenskultur und Willkommensstruktur

In allen europäischen Ländern sind die Kirchen durch die Flüchtlingskrise herausgefordert. Der Zustrom von Menschen in Not betrifft die Kirchen und Gemeinden auf vielen Ebenen: Die Kirchenmitglieder sind in ihren Wohnorten und Gemeinden durch den Flüchtlingsstrom direkt oder indirekt auf individueller Ebene, als Bürgerinnen und Bürger und Christinnen und Christen, betroffen, und ihr zivilgesellschaftliches Engagement ist gefragt. Ohne das Engagement von Freiwilligen wäre die Flüchtlingskrise nicht zu bewältigen. Eine Bewusstmachung des christlichen Menschenbildes unter den Kirchenmitgliedern und durch sie im öffentlichen Raum kann auch dazu beitragen, dem eskalierenden Hass und der Fremdenfeindlichkeit entgegenzuwirken, etwa in den sozialen Medien.

Die Kirchengemeinden als Ganze sind organisatorisch gefragt. Da es überall sowohl kirchliche Gebäude als auch Hauptamtliche gibt, haben die Kirchen die Möglichkeit, sich auch organisatorisch und strukturell, etwa durch Bereitstellen von Gebäuden und durch die professionelle Organisation von Freiwilligen, in die Arbeit mit einzubringen. Und letztendlich und nicht zuletzt können Kirchenleitungen sich an vielen Orten und in vielen Ländern aktiv am öffentlichen Diskurs beteiligen und dadurch Zeichen setzen in Bezug auf politische Fragen, zu denen die Kirchen von einem christlichen Menschenbild her deutlich beitragen könnten und sollten.

Im Lichte der biblischen Gesetze und Erzählungen wird deutlich, dass die Schrift zur Flüchtlingsfrage Stellung nimmt und auch ein Buch über Flüchtlinge ist. Abraham etwa ließe sich mit den heutigen Wirtschaftsflüchtlingen vergleichen. Jesus könnte gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention Asyl beantragen. Die biblische Aufforderung, einen Fremden bzw. einen Flüchtling wie sich selbst zu lieben (vgl. Lev 19,34), hat nicht nur historische und „binnenchristliche“, sondern auch allgemein politische Relevanz in einem Europa, das sich auf christlich-humanistische Grundwerte berufen möchte. Der Einsatz für die Flüchtlinge kann auch als Akt der christlichen Nächstenliebe und Solidarität mit Menschen in Not verstanden und gedeutet werden. Deshalb obliegt der christlichen Kirche, die ihren Auftrag und ihre diakonische Identität ernst nimmt, die Pflicht, sich für Menschen in Not einzusetzen.

Der Einsatz für Flüchtlinge ist aber zuerst und vor allem eine grundlegende Verpflichtung, die allen europäischen Ländern als rechtsstaatlichen und demokratischen Ländern und ihren Bürgern obliegt. Die norwegische ökumenische Nothilfeorganisation Norwegian Church Aid hat im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise eine Kampagne unter dem Motto „Menschen in Not brauchen Hilfe“ (norwegisch: „Folk i nød skal ha hjelp“) geleitet. Bei dieser Aktion ging es darum zu zeigen, dass das Eintreten für die Flüchtlinge in Not keine wahlfreie Handlung ist. Als Länder Europas, die sich den Menschenrechten und der Internationalen Flüchtlingskonvention grundlegend verpflichtet wissen, ist das Eintreten für Menschen in Not eine grundrechtliche Verpflichtung. Vielleicht könnte man gerade an diesem Punkt von Europa als so genanntem „christlichem Abendland“ ein besonderes Bewusstsein von Menschenwürde und Menschenwerten erwarten, weil die christlich-humanistische Tradition eben gerade in ihrer Anthropologie, der Wertschätzung der Würde jedes Menschen, eine entscheidende Grundlage für das Zusammenleben in Europa bildet. Die politischen Diskussionen, die sich im Laufe der letzten Monate im europäischen Raum und zwischen den politischen Leitungen auf europäischer Ebene vollzogen haben, lassen jedoch leider Zweifel an einem solchen grundlegenden Einverständnis über Menschenrechte und Menschenwürde und politische Verantwortung aufkommen.

Alle Menschen, auch und gerade Flüchtlinge, haben grundlegende Rechte auf Schutz. Es sollte eine Aufgabe für die kirchlichen und diakonischen Akteure sein, kontinuierlich und unablässig an diese Werte zu erinnern und sie gegebenenfalls dort einzuklagen, wo sie vernachlässigt werden.

Die Flüchtlingskrise in Europa gibt den Kirchen die Möglichkeit, Solidarität und Menschlichkeit vorzuleben, so der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes (LWB), Pfarrer Dr. Martin Junge, in einem vom 4. September 2015 datierten Schreiben an die lutherischen Mitgliedskirchen. Der Schutz von Flüchtlingen sei nicht nur eine moralische Verpflichtung, erinnert Junge die Mitgliedskirchen: „Als Unterzeichner völkerrechtlicher Verträge und insbesondere der Flüchtlingskonvention haben die europäischen Staaten die Pflicht, Flüchtlinge zu schützen.“1 Deshalb sollte eine Rückbesinnung auf diese grundlegenden Rechte, die das Selbstverständnis der europäischen Länder historisch zusammengeführt und geeint hat, ein wichtiger Aspekt dessen sein, was Europa heute zusammenhalten könnte. Die Flüchtlingskrise macht diesen Aspekt, ungeachtet aller politischen Kontroversen in und zwischen den Ländern Europas, überdeutlich.

Die Kirchen sollten deshalb an der Entwicklung und Förderung einer Willkommenskultur in ihren jeweiligen Kontexten beitragen. Diese Willkommenskultur umfasst sowohl die persönliche und mitmenschliche Ebene, wenn Menschen die Menschen aus anderen Ländern willkommen heißen, Gastfreundschaft zeigen und sich für deren Wohl engagieren. Willkommenskultur zu fördern heißt auch, dem eskalierenden Fremdenhass und Rassismus entgegenzuarbeiten. Beginnend auf der nachbarschaftlichen Ebene, in Kirchengemeinden und Kommunen, in Schulen, an Arbeitsplätzen und im Bereich von Freizeit und Sport, gibt es Möglichkeiten, Willkommenskultur zu leben, indem Vorurteile abgebaut und Begegnung und Dialog gesucht werden. Das individuelle Engagement der Christinnen und Christen als Mitbürgerinnen und Mitbürger und Mitmenschen ist wohl der wichtigste Beitrag der Kirchen zu einer allgemeinen Willkommenskultur in den europäischen Gesellschaften. Es sollte Hand in Hand mit der Entwicklung von Willkommensstrukturen gehen, an denen auch die Kirchen organisatorisch teilhaben. Das Engagement für Mitmenschen in Not erwächst aus der Überzeugung, dass wir als Christinnen und Christen nicht die Augen schließen dürfen, wo Unrecht geschieht und Menschen leiden. Dieses Engagement verlangt aber auch Strukturen und Leitung, professionelle Koordination und Zusammenarbeit mit Institutionen und Organisationen, die Verantwortung für die Flüchtlingsarbeit sowohl im zivilen als auch im kirchlichen und diakonischen Bereich tragen. Zusammenfassend könnte man sagen, dass die Flüchtlingskrise die Kirche an ihren Auftrag zur Gastfreundschaft erinnert, die eine Willkommenskultur in Kirche und Gesellschaft fördert, die ihrerseits der Willkommensstrukturen bedarf.

Die Flüchtlingssituation als ökumenische Chance für die Kirchen

Die Geschichte der ökumenischen Bewegung kann aus verschiedenen Perspektiven geschrieben werden; als Suche nach kirchlicher Einheit in Christus oder auch als kirchenpolitisches Projekt. Die Geschichte der Ökumene kann aber auch aus der Perspektive des Zusammenhangs zwischen weltlicher Geschichte und Kirchengeschichte geschrieben werden. Die großen Ereignisse der ökumenischen Geschichte des letzten Jahrhunderts können als Reaktion der Kirchen auf die Weltsituation gedeutet werden. Nach den Gräueln der zwei Weltkriege, angesichts der menschlichen Not und der Zerstörung in weiten Teilen Europas und im Bewusstsein des Versagens vieler kirchlicher Leitungspersonen unter der Naziherrschaft suchten die Kirchen auf neue Weise gemeinsame Wege. Ökumenische Organisationen, wie etwa der Ökumenische Rat der Kirchen, und die konfessionellen Weltbünde, wie die Leuenberger Kirchengemeinschaft, konstituierten sich auf dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen in der Nachkriegszeit. Wo Menschen leiden und die Not allerorts gegenwärtig ist, haben sich die Kirchen darauf besonnen, dass sie zusammenstehen müssen – in Zeugnis und Dienst. Die Leuenberger Konkordie von 1973, das Grundlagendokument der gegenseitigen Anerkennung der reformatorischen Kirchen aufgrund der Einheit im Verständnis von Wort und Sakrament, unterstreicht, dass die gegenseitige Anerkennung der Kirchen, d. h. die Erklärung der Kirchengemeinschaft, die Basis für deren Verwirklichung in „Zeugnis und Dienst“ ausmacht:

„Die Verkündigung der Kirchen gewinnt in der Welt an Glaubwürdigkeit, wenn sie das Evangelium in Einmütigkeit bezeugen. Das Evangelium befreit und verbindet die Kirchen zum gemeinsamen Dienst. Als Dienst der Liebe gilt er dem Menschen mit seinen Nöten und sucht deren Ursachen zu beheben. Die Bemühung um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt verlangt von den Kirchen zunehmend die Übernahme gemeinsamer Verantwortung.“ (Leuenberger Konkordie, § IV,2 a).2

Die Kirchen sind im Angesicht der aktuellen Flüchtlingskrise zur Zusammenarbeit herausgefordert. Die Flüchtlingskrise birgt die Möglichkeit in sich, dass Kirchen sich gemeinsam in ihren jeweiligen Zivilgesellschaften engagieren. Wenn und weil sie das unabhängig von ihrer konfessionellen Familienzugehörigkeit tun, kann dies dazu beitragen, sie näher zusammenzuführen.

Abschließend soll deshalb hervorgehoben werden, dass die Flüchtlingskrise nicht nur eine Chance und Herausforderung für den Zusammenhalt Europas, sondern auch für den der Kirchen bedeutet. Die Kirchen sollen sich nicht mehr vor allem um eigene Anliegen und Sorgen kümmern, sondern den Blick heben im gemeinsamen Zeugnis und Dienst am Menschen und an der Welt. Ein solcher Dienst ist nicht nur notwendiger Dienst am Menschen in Not auf der Grundlage eines christlichen Menschenbildes, sondern gleichzeitig auch Zeugnis des Wirkens des dreieinigen Gottes in der Welt. Es kann auch dazu beitragen die vielerorts geschwächte Glaubwürdigkeit der Kirchen zu stärken, indem Menschen erfahren, dass das Zeugnis vom gnädigen Gott auch ein Zeugnis vom gnädigen Menschen sein sollte.


Fußnoten: