Schicksale, authentische Zeugnisse (Buchauszug)

Zusammenfassung

Im Februar 2017 erscheint ein Buch, das der klischeehaften Berichterstattung über Schicksale von Flüchtlingen einen Kontrapunkt entgegensetzen will. [Elizabeth Fleckenstein und Michael Albus: Schattendasein. Flüchtlinge berichten. Kevelaer: Butzon & Bercker, 2017. Ca. 170 Seiten] Die Schicksale, die hinter den vordergründigen Nachrichten stehen, sind, wenn man genauer hinschaut, atemberaubend und erschütternd. Das Buch bietet durch viele intensive Gespräche mit Flüchtlingen unterschiedlicher Herkunft und verschiedenen Alters einen konkreten und authentischen Einblick in eine schreckliche, gewalterfüllte Welt und macht die unzerstörbare Sehnsucht von Menschen nach Heimat und Geborgenheit offenbar. Nach den Gesprächen, die Elizabeth Fleckenstein mit den Flüchtlingen in ihrer Muttersprache geführt hat, ordnet Michael Albus die Berichte in einen grundsätzlichen Kontext ein. Er hat auch die folgenden Auszüge aus den Gesprächen mit den Flüchtlingen ausgewählt.

Um Sharif aus Syrien, Mutter von sechs Kindern

Es geschah im Monat Ramadan 2011. Alle haben gefastet und wussten oder begriffen nicht wirklich, was um uns herum geschah. Ich war damals beim frühen Morgengrauen in meinem Haus.

Plötzlich klopft es an der Tür und ich höre Stimmen von draußen sagen: „Steh’ auf, nimm deine Kinder und geh’!“ – Die Stimmen wurden hektischer: „Schnell, schnell, schnell! Geh’! Es kommt hier gleich zu einer bewaffneten Konfrontation. In der Nachbarschaft ist schon fast niemand mehr da. Geh’ raus, verschwinde, fliehe von hier!“

Doch wohin sollte ich denn fliehen? Wer verlässt schon schnell und gern sein Haus und sein Eigentum? Wohin sollte ich denn fliehen? Überstürzt, ohne viel nachzudenken, packte ich meine sechs Kinder und ging raus. Wir liefen schnell auf die freien Felder. Drei Tage lang waren wir in den Feldern. Aber wir waren von bewaffneten Männern umzingelt. Wir konnten nicht zurück in unsere Häuser. Wir ernährten uns von den Früchten der Felder. Manchmal aßen wir Gräser oder Pflanzen, von denen wir wussten, dass sie essbar waren.

Wir konnten nichts mitnehmen, gar nichts. Wir hatten nur die Kleidung am Leib, die wir vor der Flucht anhatten. Das war es. Besonders schlecht war es für die, die ihren Pass vergessen hatten und das Geld, vor lauter Angst und Panik wegen des Lebens ihrer Kinder. Klar, was dann passiert ist: Die Häuser wurden geplündert. Alles wurde geraubt. Alles, was wir einst hatten.

Es war eine schreckliche Zeit. Viele Menschen wurden getötet. Wir sahen LKW, die vollgeladen waren mit Leichen. Niemand wusste, wer sie sind. Sie wurden in Massengräber gebracht und dort anonym verscharrt.

Die Straßen und die Märkte verwandelten sich in Geisterstätten. Alles war leer und öde geworden.

Du weißt doch, wie es ist, wenn es wirklich so richtig regnet. So sind die Kugeln auf uns heruntergeprallt, um uns herum geflogen.

Rasul und Rasha Alaskoria, eine christliche Familie aus dem Irak

Am 6. August 2014 geschah es dann auch. Die Kämpfer des IS kamen nach Batraia. Die Glocken wurden geläutet! Es war mitten in der Nacht. Unsere zwei Kinder schliefen schon in ihren Betten. Man hat uns mitgeteilt, dass wir nur wenige Stunden Zeit hätten, um zu fliehen, denn Daisch, die Kämpfer des Islamischen Staates, waren schon auf dem Marsch aus Mossul in unser Dorf! Überstürzt und voller Schrecken packten wir die ganze Familie ins Auto und sind nach Alqosch, einem Dorf in Kurdistan, geflohen.

Panisch vor Angst sind wir mit den weinenden Kindern zum Auto gerannt. Gott sei Dank hatten wir uns schon in den vergangenen Wochen auf diesen Augenblick vorbereitet. Unser Auto hatten wir mit Benzin vollgetankt, hatten es in der Garage untergestellt und fast nie benutzt.

Wir haben alles hinter uns gelassen: Unser Haus, meine eigene große Firma.

Bubakar, 17 Jahre alt, aus Gambia

Die Fahrt begann ganz gut. Doch als wir in internationalen Gewässern waren, ging der Motor kaputt. Der Fahrer versuchte mit aller Kraft, das Boot über Wasser zu halten.

Auf einmal habe ich Schreie gehört, Menschen, die laut „Oh mein Gott, oh mein Gott!“ riefen. – Als ich nachfragte, was los ist, erfuhr ich, dass sechs Leute einschließlich des Fahrers ins Meer gefallen waren. Ein Teil des Bootes lag schon unter Wasser. Ich war total desorientiert und wusste nicht, was ich machen sollte, war auch sehr schwach. Ich hatte am Tag zuvor nichts gegessen, während der Fahrt auch nichts und wir waren ja schon über zehn Stunden auf dem Wasser. Mehrmals habe ich mich übergeben müssen. Als ich dann die Schreie hörte, konnte ich nicht mehr reagieren, weil ich einfach keine Kraft mehr hatte. Niemand konnte auch die sechs Menschen im Wasser retten, weil niemand von uns schwimmen konnte. Es war schrecklich! Wir versuchten, die italienische Küstenwache zu kontaktieren, erreichten sie schließlich auch. Aber sie kamen drei Stunden zu spät.

Die Überlebenden wurden vom italienischen Rettungsschiff nach Sizilien gebracht. Endlich kamen wir dort an. Die meisten Menschen rannten sofort zu den Toiletten, weil ihnen durch die Seefahrt speiübel war.

Ich sah meinen Vater aber nicht mehr. Ich suchte nach ihm, fragte überall, ob ihn jemand gesehen hatte, doch ohne Erfolg. Zwei bis drei Stunden suchte ich weiter! Nichts! In meinem Kopf schossen die Gedanken durcheinander: Was geht hier vor? Wo ist mein Vater? – Dann habe ich begriffen, dass mein Vater einer von den sechs Menschen war, die im Meer ertrunken sind.

Ich dachte, ich würde meinen Verstand verlieren ... Ohne Vater!? Nie hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt erfahren, was es heißt, alleine zu sein. Ich wusste nicht, wie ich diese Situation managen sollte. Mein Vater war alles für mich. Ohne ihn wusste ich nicht, was ich machen soll. Wo sollte ich hin? Ich war in Italien, ohne Vater, ohne Schutz, ohne Geld, ohne Wegweiser. Ich war verloren und am Boden zerstört!