Dem Himmel nahe

Berge sind Ursymbole der Menschheit
aus OWEP 1/2017  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist Theologe, Journalist und der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift.

Zusammenfassung

Berge sind für viele Menschen mehr als nur besondere Landmarken – sie gehören zu den Ursymbolen der Menschheit. In seiner Einführung „Dem Himmel nahe“ geht der Autor der „Spur der Berge“ auf der Suche des Menschen nach Sinn im Leben nach.

In den dunsterfüllten Tälern und Niederungen unseres täglichen Lebens haben wir unseren Zusammenhang mit Sternen und Sonnen vergessen, und darum brauchen wir die Gegenwart mächtiger Wegweiser und Meilensteine, um uns wachzurütteln aus dem Schlummer unserer Selbstgefälligkeit."
Lama Anagarika Govinda (1889-1985)

Berge gehören zu den Ursymbolen der Menschheit. In allen Kulturen und in allen Religionen. Schon in der frühen Zeit der menschlichen Geschichte tauchen sie auf. Sie werden als Orte gesehen, in deren Nähe oder auf deren Gipfeln der Mensch dem göttlichen Bereich, dem Himmel, dem kosmischen Raum am nächsten sein kann. Und nicht wenige Berge sind deshalb bis heute tabu, weil man in ihren Gipfelregionen Wohnungen der Götter verortet.

Die Berge sind älter als wir. Bevor die Menschen da waren, waren die Berge schon da. Sie wurden empor gehoben von gewaltigen Kräften aus den Tiefen der Erde, sie falteten sich auf, wurden von vulkanischen Urfeuern im Erdinnern gestaltet. Die meisten heiligen Berge der Erde sind erloschene oder noch tätige Vulkane.

Symbolisch aufgeladen

Das Verhältnis zwischen Menschen und Bergen war eh und je zwiespältig und vielschichtig, ja es war und ist und bleibt gespannt. Berge können als bedrohlich empfunden werden und sie sind Orte der Sehnsucht. Sie werden von uns Menschen mit ganz verschiedenen Inhalten belegt, ja manchmal regelrecht symbolisch aufgeladen, werden zum Beispiel verbunden mit geschichtlichen Höhepunkten einer Nation oder einer Kultur, werden zu Wallfahrtsorten, zu Altären ganzer Völker, zu Orten nationaler oder religiöser Identität.

Die Berge sind Dunkel und Licht. Sie sind tiefe Bilder unserer Seele. Zeichen des Auf und des Ab, des Offenbaren und des Verborgenen. Sie sind Faktum und Geheimnis zugleich. Sie liegen einmal im Dunkel der Wolken, den Blicken entzogen, ein andermal erstrahlen sie unter einem wolkenlosen Himmel im strahlendem Licht der Sonne. Wie sie sich jeweils zeigen, darauf hat der Mensch keinen Einfluss.

Ein doppeltes Gesicht

Der Anblick der Berge wirft den Menschen auf sich selbst zurück, lässt ihn sein wirkliches Maß ahnen, seine Kleinheit und seine Größe. Wagt er sich an die Berge heran, dann macht der Mensch ganz ursprüngliche Erfahrungen: Kleiner Mensch, großer Berg, stehen bleiben, stille sein, tief Atem holen, schauen, staunen und verweilen, empor blicken in den Himmel, hinab sehen in Abgründe. Nur selten Blicke haben, die sich am Horizont verlieren, die fast immer begrenzt bleiben durch die nächste Höhe, hinter der das nächste Tal, der nächste Abgrund sich auftun.

Immer haben die Berge mindestens ein doppeltes Gesicht. Sie lassen den Menschen einsam sein und sie erwecken in ihm den Wunsch, auch wieder die Gemeinschaft zu spüren, die ihm gut tut, die ihn heilt und tröstet.

Hoch hinauf muss man steigen in den Bergen. Erst dann wird der Blick in die Ferne eröffnet. Davor liegen viele Schranken und Hindernisse. Gefordert sind Mut und Entschlossenheit, sie zu überwinden. Der Mut gegen die Angst vor der alle Kraft des Körpers und des Geistes einfordernden Macht und Kraft der Natur. Der Mut auch gegen die Bequemlichkeit, gegen den schnellen Erfolg, der Mut gegen die Trägheit, gegen das Beharrungsvermögen des Körpers und der Seele. Der Mut und die Entschlossenheit, gegen die starken Gewichte, die uns nach unten ziehen, anzugehen. Man muss durch die Krise hindurch, in der sich alles auf einmal entscheiden kann. Nach oben oder nach unten. Ein Dazwischen gibt es kaum.

In den Bergen wird einem nichts und alles auf einmal geschenkt. Berge können Wegweiser sein ins eigene Herz, in die eigene Seele, in die Tiefe des Geheimnisses hinein, das wir selber sind.

Landschaften der Seele

Die Bilder der Seele haben fast immer eine Entsprechung in den Bildern der Schöpfung. Es gibt Landschaften in der Natur, die man als Seelenlandschaften bezeichnet. Die Verbindung zwischen beiden darf nicht abreißen. Berge sind Seelenlandschaften.

Der Weg in die Berge, die Wege nach oben bieten angemessene und aussichtsreiche Möglichkeiten, die Nähe zur Natur wieder zu finden. Die Quellen entspringen oben.

Auf dem Gang durch die Täler, über die Grate und schmalen Pfade, beim Suchen im weglosen Gelände, beim Klettern und Steigen, während des Gehens hinauf und hinab, kann man auch wieder zu sich selbst finden, wenn man drauf und dran ist, sich selbst zu verlieren. Man kann auch verschüttete Wege zu anderen entdecken. Welches Geschenk der Natur könnte größer sein, als sich selbst und den anderen wieder zu finden?

Langsamkeit, Schweigen, Stille

In den Bergen kann man auch die Langsamkeit wieder entdecken, die ein Heilmittel gegen die Hetze und die Atemlosigkeit des Lebens in unseren Jammertälern ist. Die Entdeckung der Langsamkeit ist die Entdeckung des Lebens selber. Im Gebirge braucht man Zeit. Das lernt man dort auf manchmal bestürzende Weise. Nimmt man diese Erfahrung mit ins alltägliche Leben, kann sie im Menschen eine wohltuende Wirkung entfalten: gegen das Treiben und Rasen, das atemlose Keuchen in der immer wiederkehrenden leeren, ziellosen Umdrehung.

In den Bergen lernt man auch wieder das Schweigen. Voraussetzung, unabdingbar, um zur rechten Zeit ein hilfreiches, richtiges und wichtiges Wort sagen zu können.

In der Welt des Lärms, in den Tälern und Städten, die vom unablässigen Geräusch der Maschinen erfüllt sind, ist das Schweigen, ist die Stille ein kostbares Gut geworden. Wir brauchen sie aber dringend, wenn wir überleben wollen. Lärm tötet. Stille macht lebendig.

Der verstorbene Innsbrucker Bischof Reinhold Stecher, der selber ein sehr guter und nachdenklicher Bergsteiger war, hat einmal notiert:

„Wie laut die Welt ist, die wir uns gebaut haben. Alles laut: Motoren, Maschinen, Lautsprecher, Lichter, Farben, Reize! Wir haben das Dasein zur Diskothek gemacht ... Wenn ich mich aber umdrehe und in die Kare und Bergketten, in die Wände und Täler horche, dann bete ich die Stille an. Wenn ein Stein fällt, dann wird der Ton wie eine Kostbarkeit, wie ein seltenes Ereignis im Echo weiter gereicht. Ist uns schon einmal aufgefallen, dass unsere Straßenzüge und Häuserschluchten kein Echo kennen? Das gilt aber auch nicht nur für die äußere Welt, das gilt auch für die Seele des modernen Menschen. In uns kann nichts mehr nachhallen. Die Eindrücke, Reize und Erlebnisse überschlagen sich. Da kann nichts mehr ausschwingen. Und so sind nicht nur unsere Trommelfelle lärmgeschädigt, sondern auch unsere Herzen. Der Mensch verliert die Dimension der Tiefe. Die Berge aber schweigen. Noch schützen und wahren sie, nicht immer erfolgreich, Räume der Stille. Die Stille aber war immer die Vorhalle der Religion, der Teppich, der ausgebreitet werden muss, damit man darauf beten kann.“

Dem offenbaren Geheimnis begegnen

In den Bergen kann man dem Unerklärlichen, dem offenbaren Geheimnis begegnen. Gegen jede romantisch verklärte Schwärmerei ist zu sagen: In den Gebirgen kann man dem begegnen, was uns Menschen übersteigt, was größer, höher, tiefer, weiter ist, als wir es je zu sein vermögen.

Das ist auch eine wichtige Botschaft der Berge, die es bei aller Überwältigung mit großer Nüchternheit festzuhalten gilt. Diese Erfahrung gibt den Durchblick frei von außen nach innen und umgekehrt. Der Blick zu den fernen Höhen vermittelt auch die Einsicht in die abgründigen Tiefen, die in uns selber sind.

Tauchgänge in die eigene Seele

Wer in den Bergen nach oben geht, steigt auch in die Tiefe seiner selbst hinab. Bergfahrten sind Tauchgänge in die eigene Seele, ins eigene Herz. Und weil sie das nun einmal sind, haben sie nicht nur Schönes an sich. Sie bergen auch die Schrecken der Tiefe, geben den Blick, den Augen-Blick in die Abgründe von uns selbst frei. Sie können Augenblicke der Wahrheit sein, die wir gerade in der befreienden Erfahrung der Höhe schmerzlich wahrnehmen müssen.

Die Wege nach oben sind keine leichten Wege. Sie kosten Kraft, mit der man haushalten muss. Und sie verlangen Ausdauer. Aber die Mühen der Ebenen, die langen Wege durch die Täler sind nichts gegen die wirklichen Erfahrungen dort oben. Man wird leichter, manchmal leicht wie eine Feder. Wenn man aus den dunklen Tälern heraus ist, fällt manches von einem ab, was es einem schwer gemacht hat.

Erfahrung von Freiheit

Gipfel sind Grenzräume. Auf ihnen wird nahezu alles auf den Punkt gebracht. Denn da geht es außerhalb meiner nicht mehr höher und in mir nicht mehr tiefer. Gipfel sind Grenzpunkte, relative Endpunkte, die einfach gesetzt sind. Die Empfindungen können dort so stark sein, dass man Sehnsucht nach Flügeln bekommt, die weiter und noch höher hinauftragen.

Auf den Gipfeln, in den Bergen verspürt man eine unsagbare innere Freiheit. Das macht Gipfelerfahrungen so anziehend. Man erfährt, man erahnt etwas, das größer ist und weiter reicht als unsere Endlichkeit, die wir Tag für Tag und Nacht für Nacht erleben: unsagbare innere Freiheit. Vielleicht einer der Namen Gottes. Vielleicht.