Egon Erwin Kisch – Nur ein „rasender Reporter“?

aus OWEP 1/2018  •  von Michael Albus

Prof. Dr. Michael Albus ist Theologe, Journalist und der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift. Er stelle auch das Bild zur Verfügung.

Zusammenfassung

Bis heute vermitteln die Reportagen, Berichte und Essays von Egon Erwin Kisch, Joseph Roth, Friedrich Torberg und Kurt Tucholsky ein authentisches Bild der stürmischen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg. In der folgenden Skizze wird besonders der „rasende Reporter“ aus Prag wieder lebendig.

Foto: Michael Albus

Wer war Egon Erwin Kisch?
Betritt man in Prag den großen Friedhof Vinohrady, dann läuft man direkt auf eine auffällige Grabstätte zu. Auf einem weißen hohen Steinsockel steht die Büste eines Mannes, der eine Zigarette im Mundwinkel hat und skeptisch auf den Betrachter herabschaut. Darunter steht neben den Lebensdaten in goldenen Lettern:

Egon Erwin Kisch
Publizist und Journalist

Wer kennt Kisch heute noch?
Sicher: Die meisten Journalisten sind ihm schon mal in seinen „Klassikern“ begegnet. Aber geblieben ist in einer breiteren Öffentlichkeit bis heute der Titel „Der rasende Reporter“. Er hat ihn sich selbst gegeben. Als Titel einer Herausgabe seiner besten Reportagen aus einem langen Journalistenleben.

Kisch war aber nicht nur ein rasender Reporter, der Sensationen suchend durch die ganze Welt reiste. Er war ein tiefgründiger Beobachter seiner Zeit und hat entscheidend dazu beigetragen, die sozialen Veränderungen, die schon vor dem Ersten Weltkrieg einsetzten, wahrzunehmen und sie für wahr zu nehmen. Im Grunde hat er nicht nur das Bild des Journalisten verändert, sondern auch seine Zeit mit der Darstellung der Umbrüche seiner Zeit geprägt.

Es ist im Grunde unmöglich, ihn in einem kurzen Text angemessen zu würdigen. Die Fülle seiner Arbeiten und die Themen sind überwältigend. Er muss das gewesen sein, was wir heute einen Worcaholic nennen: rastlos, ganz ergriffen von seinem Beruf.

„Schreib das auf, Kisch!“

Kurz ein paar Daten, die sein Leben und seine Arbeit in den zeitlichen Kontext einordnen: Geboren wurde Kisch am 29. April 1885 als Sohn einer jüdischen Familie in Prag. Bereits in jungen Jahren war er Reporter bei bekannten und einflussreichen Prager Zeitungen. Vor allem schrieb er Kriminal- und Gerichtsberichte. Das waren schon die ersten untrüglichen Fundorte für die soziale Frage – sie sind es bis heute geblieben. Dann nimmt er am Ersten Weltkrieg teil. Sein Kriegstagebuch erscheint 1923. Es trägt den Titel: „Schreib das auf, Kisch!“ Seine beruflichen Interessen führten ihn nach dem Krieg durch die ganze Welt. Kisch bereist unter anderem Amerika und China. Er war in jener Zeit Starreporter bei den großen Zeitungen in Berlin. Vor den Nazis musste er fliehen, seine Bücher wurden verbrannt. Er lebt als Emigrant in Frankreich, nimmt am Spanischen Bürgerkrieg teil und hält sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in Mexiko auf. Nach 1945 ist er wieder in Prag, dort Stadtrat. Er stirbt in seiner Heimatstadt am 31. März 1948.

Veränderung in Köpfen und Herzen in Gang gesetzt

Kisch setzte sich vielen Anfeindungen aus, weil er schon sehr früh mit dem Hinweis auf Schwach- und Bruchstellen der herrschenden monarchischen Gesellschaften zur Stelle war. Und das in Zeitungen mit hoher Auflage. Man kann sagen, dass er über „mein Leben für die Zeitung“, wie er es einmal ausdrückte, auch eine langsame Veränderung in den Köpfen und Herzen der Leserinnen und Leser seiner Berichte in Gang gesetzt hat.

Ein Blick auf die frühen Themen, die er aufgreift, kann dies – in Auswahl – belegen. So tauchen in den Jahren 1906-1913 zum Beispiel folgende Themen auf:

  • „Die Hausfrau im Dienste der sozialen Idee“ über einen Abend des Vereins „Frauenfortschritt“ in Prag.
  • „In der Strafanstalt“, eine Reportage über das berüchtigte Prager Gefängnis „Pankraz“.
  • „Die Martern russischer Deportierter“ auf der Insel Sachalin.

Ausführlich berichtet Kisch über einen Vortrag des Staatsanwalts Wulffen über „Das Seelenleben der Verbrecher“ oder über „Gefängniserlebnisse von Prager Studenten“.

Dazwischen tauchen immer wieder kulturelle Themen auf, die den Blick weiten. Oder auch Berichte über das Auftreten berühmter Persönlichkeiten der damaligen Zeit, z. B. mehrmals über Leseabende von Karl Kraus aus Wien. Kisch besuchte in jener Zeit auch weite Gebiete der Donaumonarchie und nahm sensibel das Vorbeben der kommenden Katastrophe wahr.

Dann kam der Erste Weltkrieg, und mit ihm waren ganz andere Themen zu bearbeiten und zu vermitteln. Zum Beispiel „Der Kampf um die letzte Frist – Der Zusammenbruch der großserbischen Ideen. Ein Feldpostbrief“. Oder „Auf der Wacht gegen die Serben“. Aber es tauchen auch in dieser Zeit immer wieder Berichte auf, die den eigenen Beruf, die Rolle des Journalisten, reflektieren. Ausführlich etwa in einem Text über das „Dogma von der Unfehlbarkeit der Presse“, der weit über die persönliche Befindlichkeit des Journalisten Kisch auf die schwierige Position des Berichterstatters zwischen den Fronten hinausgeht.

Eine „objektive“ Berichterstattung gab es für Kisch nicht. Er bekannte sich zur Parteinahme, die aber begründet werden musste. Vielfach griff Kisch auch zur Ironie, schon im Titel oft ersichtlich wie etwa in einer Reflexion über „Das Staatsamt für Hin- und Heerwesen“.

Am Ende des Ersten Weltkriegs schlägt Kisch andere Töne an. In einem Artikel zu Neujahr 1919 schreibt er:

Das Jahr, das eben zu Ende ging, brachte manches Gute: den endlichen Abschluss des weltumfassenden Massenmordes, die Verjagung der blutbesudelten Dynastien in Deutschland und Österreich, revolutionäres Selbstbesinnen in manchen Ländern.

Aber wir schauen nicht allzu froh in die nächste Zukunft. Ist denn der Weltkrieg auf ewige Zeiten dem Weltfrieden gewichen? Lauern denn nicht Dynasten und ihre Mastdarmakrobaten in Livree und Goldkragen auf die baldige Wiederkehr ihrer Herrlichkeit? Provozieren denn nicht Generäle, Exminister, Pfaffen und nationale Hetzer von neuem die arbeitenden Menschen?

Kisch konnte schnell ins Politische wechseln und gab dann seine Position schnell zu erkennen.

Sensibles Gespür für die Vorboten der kommenden zweiten Katastrophe

In den Jahren nach dem Krieg tauchen immer wieder die Auseinandersetzungen mit den Folgen des Kriegs auf. Der „Kampf“ hielt noch lange an in den Köpfen an, er hatte die Menschen geprägt.

Kisch weitete in diesen Jahren seinen Arbeitsbereich aus. Er war in der ganzen Welt unterwegs und spürte sehr früh auch die Vorboten der kommenden zweiten kriegerischen Katastrophe, die dann über Europa hinausging, auf. Auch im Ausland suchte er verstärkt nach sozialen Themen.

Öfters ist er auch in Deutschland zu finden. Er berichtet aus dem Rheinland, aus Norddeutschland und dem benachbarten Ausland über soziale und gesellschaftliche Konflikte. Auch über „Begegnungen mit Juden“ liest man von ihm. Zum Beispiel „Das Ghetto in Amsterdam“ oder „Die portugiesische Synagoge“. Immer wieder reist Kisch in den Jahren vor dem Beginn der Nazi-Herrschaft auch in die Sowjetunion; er greift dort heikle Themen auf, wie zum Beispiel die Zensur. Ansonsten ist Kisch aber überwiegend auf der Seite des Proletariats.

Den Text „Wie man Jan Hus marterte und verbrannte“ nutzt Kisch zu heftigen Ausfällen gegen „weltliche Statthalter“ und die katholische Kirche. Auf letztere war er nie gut zu sprechen, brachte aber immer wieder auch Berichte über beispielhafte Taten von Christinnen (z. B. Ordensschwestern in der Gefängnisarbeit) in die Zeitungen.

Vom 15. Jahrestag der Oktoberrevolution berichtet Kisch direkt aus Moskau.

In der Zeit von der Machtergreifung Adolf Hitlers bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs berichtet Egon Erwin Kisch direkt von neuralgischen Punkten des Nationalsozialismus. In der spannend geschriebenen Reportage „In den Kasematten von Spandau – Aus den ersten Tagen des Dritten Reiches“ erzählt er von seiner eigenen Verhaftung in Berlin, seiner zeitweiligen Inhaftierung in Spandau und seiner Abschiebung über die Grenze in die Tschechoslowakei. Auch der Reichstagsbrand ist Gegenstand mehrerer ausführlicher Berichte. Die Person Hitlers nimmt Kisch von Anfang an aufs Korn, zum Teil bissig und ironisch. Und er benutzt dazu den damals populären nationalsozialistischen Schriftsteller Rudolf G. Binding als „Brücke“, indem er ihn parallel zu Hitler karikiert.

Kisch lebt aufgrund seiner Arbeit in dieser Zeit noch gefährlicher als sonst. Dann gelangt er über Spanien, von wo aus er über den Bürgerkrieg berichtet, nach Mexiko. Dort lebt er bis zum Ende des Weltkriegs und kehrt dann wieder nach Prag zurück.

Aus der mexikanischen Zeit sind viele kulturkritische und die Brüche Lateinamerikas betreffende Texte und Berichte noch heute spannend und interessant zu lesen. Auffällig ist dabei Kischs schnelles Einfühlungsvermögen in bislang ihm unbekannte und komplexe Sachverhalte.

Verstörend bleibt die Einseitigkeit

Bis zum Ende bleibt jedoch Kischs mehr und mehr undifferenzierte Parteinahme für die Sowjetunion und den internationalen Kommunismus verstörend. Ihnen verzeiht er fast alles, dem Nationalsozialismus nichts, obschon sich beide in brutaler Menschenverachtung und Gewaltherrschaft kaum unterschieden. Seine letzten Sätze aus einem Text mit der Überschrift „Die Pflicht jedes Sittlichen“ vom 27. Oktober 1927 aus Prag lauten:

Ganze Völkerschaften gewannen Leben und Freiheit aus der Hand der Sowjetunion, über die sie, die nun Geretteten, seit 1917 nur Verleumdungen gelesen und – geglaubt hatten. Jedoch – wir sehen es nicht nur in Amerika – die Fronten existieren noch immer. Wahrheit und Lüge stehen einander so geschlossen und erbittert gegenüber wie vor dreißig Jahren, und es ist die Pflicht jedes Sittlichen, sich auf Seiten der Wahrheit einzureihen.

In den Umbrüchen des vergangenen und vorvergangenen Jahrhunderts mit dem ersten Kulminationspunkt 1918 wurde durch Egon Erwin Kisch der journalistische und publizistische Beruf zu einem Ferment gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Der Journalismus trat als ernst zu nehmender „Kombattant“ aus dem Schattendasein des elenden Skribenten auf die Bühne der Politik und der Gesellschaft. National wie international.


Im Zusammenhang mit Egon Erwin Kisch sind noch drei Namen zu nennen, die vor allem publizistisch und journalistisch in den Umbrüchen hervorgetreten sind. Sie entstammen – außer Kurt Tucholsky – alle dem gleichen Wurzelgrund: der Donaumonarchie. Es sind Joseph Roth, Friedrich Torberg und Kurt Tucholsky, an die noch kurz erinnert werden soll.

Joseph Roth

Joseph Roth (1894-1939) stammte aus Galizien und starb in Paris. Sein publizistisches Schaffen ist unübersehbar breit und vielfältig. Darin stand er Egon Erwin Kisch in nichts nach. Die Bandbreite seiner Themen ist stupend, seine literaturgeschichtliche Einordnung jedoch bis heute nicht eindeutig geklärt. Er machte in seinem persönlichen Leben und in seinem beruflichen Schaffen die Brüche seiner Zeit offenbar, oszillierte zwischen konservativen und progressiven Positionen. Einige seiner Romane haben bis heute an Spannung und Aktualität nichts verloren.

Sein Leben entbehrte nicht tragischer Züge. Auch darin war er seiner Zeit und seine Zeit ihm verwandt. Es lohnt sich, ihn heute wieder zu lesen.

Friedrich Torberg

Friedrich Torberg (1908-1979) war eher ein Nachfahre der Umbruchszeit vom 19. auf das 20. Jahrhundert. Aber auch er erfuhr die Umbrüche der Epoche im persönlichen Leben und verlieh ihnen Ausdruck in seinem publizistischen und journalistischen Schaffen. Er verstand sich einmal selbst als „tschechischer Österreicher und Jude“. Auch sein Schaffen entzieht sich jeder genauen kategorialen Einordnung. Er war Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. In den Jahren des Zweiten Weltkriegs lebte er unter anderem in New York und Hollywood, nachdem er zuvor in die Schweiz und nach Österreich emigriert war. Seine Bücher waren 1933 von den Nationalsozialisten verboten worden. Torberg starb 1979 in Wien.

Kurt Tucholsky

Kurt Tucholsky (1890-1935) wurde in Berlin geboren. Auch er war Soldat im Ersten Weltkrieg. Gleich nach Kriegsende, im Dezember 1918, beteiligte er sich journalistisch am Kampf um die Weimarer Republik. Politisch war er wegen seiner linken Positionen heftig umstritten. Zeitweise schrieb er unter vier Pseudonymen, um nicht in Schwierigkeiten zu geraten. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus sah er sich zunehmenden Anfeindungen ausgesetzt und musste um sein Leben fürchten.

1929 entschloss er sich dann, seinen Wohnsitz dauerhaft nach Schweden zu verlegen. 1934 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends, auch starke Medikamente blieben wirkungslos. 1935 verstarb Kurt Tucholsky an einer Überdosis Schlaftabletten. Seine Asche wurde 1936 auf dem Friedhof von Mariefred bei Schloss Gripsholm in Schweden beigesetzt.

Tucholsky ist journalistisch wie schriftstellerisch leider weitgehend in Vergessenheit geraten.


Keine Distanz – Einmischung!

Die wichtige Rolle der Journalisten und Publizisten in den Jahren der Epochenwende vor und nach 1918 ist unübersehbar. Auffällig ist bei den Protagonisten in jener Zeit die Parteinahme. Von der oft beschworenen journalistischen Distanz kann bei ihnen keine Rede sein. Sie haben sich positionell entschieden eingemischt. Sie wollten „erkannt“ werden. Dafür haben sie beträchtliche Nachteile, Behinderungen und Einschränkungen in Kauf genommen. Ihre Biografien und ihre Arbeiten können heute wieder ein Anlass sein, über die Rolle der Journalisten und der Medien in einer Zeit nationaler und internationaler Umbrüche nachzudenken.