Gewaltbelastete Vergangenheit und gesellschaftliche Versöhnungsprozesse

Überlegungen zu den Beiträgen dieses Heftes
aus OWEP 2/2018  •  von Jörg Lüer

Dr. Jörg Lüer ist Geschäftsführer der Deutschen Kommission Justitia et Pax und stellvertretender Vorsitzender der Maximilian-Kolbe-Stiftung.

Zusammenfassung

Der folgende Beitrag lässt die Inhalte des Heftes Revue passieren und setzt zusätzlich eigene Akzente. Deutlich wird noch einmal die Vielschichtigkeit von Versöhnungsprozessen.

I.

Die Vielfalt der Beiträge in diesem Heft ist ausgesprochen eindrucksvoll. Sie zeugt von der Anwesenheit des Themas in vielen europäischen Gesellschaften. Zugleich machen die Beiträge das breite Engagement insbesondere kirchlicher Akteure im Feld des Umgangs mit gewaltbelasteter Vergangenheit und gesellschaftlichen Versöhnungsprozessen deutlich. Jeder dieser Beiträge bringt spezifische Erfahrungen in den Blick. Dabei setzen die Beiträge unterschiedlich an, sodass auf den ersten Blick der Eindruck entstehen kann, es handele sich um ein sehr disparates und schwer zu fassendes Feld. Nicht zuletzt der Gebrauch des Wortes Versöhnung ist sehr verschieden. Bei genauerer Lektüre wird hingegen deutlich, dass das Feld zwar komplex aber keineswegs disparat ist. Vielmehr spiegeln sich in den Beiträgen die Komplexität und Kontextualität der Versöhnungsproblematik. Sie führen damit mitten in die Thematik und ihre besonderen Herausforderungen.

Beim Umgang mit gewaltbelasteter Vergangenheit und gesellschaftlichen Versöhnungsprozessen gibt es, so zeigt die Erfahrung1, keine Masterpläne und Blaupausen. Jeder Fall, jeder Kontext ist einzigartig. Die damit verbundenen Besonderheiten gilt es zu respektieren. Denn diese Partikularitäten nicht zu respektieren, liefe darauf hinaus, die Erfahrungen, Leiden und Geschichten der Menschen – ergo die Menschen selbst – nicht zu respektieren. Solcherlei Respektlosigkeit ist in hohem Maße kontraproduktiv. Denn Gewalt ist in aller Regel nicht abstrakt, sondern sehr schmerzhaft konkret und eben kontextuell. Sie lässt sich nicht von einem transhistorischen Standpunkt aus wirksam angehen. Entsprechend müssen auch die Antworten auf Gewalt und Unversöhntheit konkret und kontextangepasst sein. Der – gerade bei westlichen Akteuren oft anzutreffenden – Versuchung zum Social-Engineering, zum „One-Size-Fits-All“- Ansatz gilt es zu widerstehen. Um die Mühe der ernsthaften Auseinandersetzung mit den Kontexten und ihrer jeweiligen Signatur wird man nicht umhin kommen.

Nun ließe sich fragen, wenn dem so ist, dass die Kontexte je einzigartig sind, welchen Sinn ergibt dann die Befassung mit anderen Kontexten. Bei der Lektüre der oben stehenden Texte wird deutlich, dass sich Erfahrungen aus anderen Kontexten als höchst anregend für die je eigene Befassung mit der Thematik erweisen können. Denn in den oftmals sehr unterschiedlichen Kontexten stößt man letztlich immer auf dieselben Grundfragen, die es allerdings im Rahmen der jeweiligen partikularen historischen, kulturellen und religiösen Umstände zu beantworten gilt. Die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, können helfen, die geistigen und emotionalen Verengungen sowie scheinbaren Selbstverständlichkeiten im eigenen Kontext wahrzunehmen und produktiv infrage zu stellen. Die so entstehenden Irritationen können, sofern man sie nicht vorschnell abwehrt, helfen, den eigenen Zusammenhang besser zu verstehen.

Dieser praktisch ermutigende Befund ist nicht überraschend, geht man davon aus, dass Menschen in jedem Kontext ihrer anthropologischen Struktur nach gleich sind. Er deckt sich auch mit den Ergebnissen der Traumaforschung, dass sich die Notfallreaktionen von Menschen kulturell nicht wesentlich unterscheiden, während die spezifischen Formen der Verarbeitung und Integration sehr wohl eine hohe kontextuelle und kulturelle Signatur aufweisen.2

Der Umgang mit diesen Verletzungen ist Beziehungsarbeit unter den Bedingungen zutiefst gestörter persönlicher und gesellschaftlicher Beziehungen. Misstrauen, gegenseitige Vorwürfe oder zumindest tief sitzendes Unbehagen sind die Regel. Diese Beziehungsarbeit wandert oft auf einem schmalen Grad zwischen der gebotenen Akzeptanz der persönlichen Grenzen insbesondere der Opfer und der Notwendigkeit zur Überwindung der von der Gewalt geprägten Beziehungsmuster.

Dabei gilt es, eine Sprache zu finden, die angemessen gegenüber den Verletzungen und Erfahrungen ist, die Geschehnisse würdigt und zugleich die persönlichen wie gesellschaftlichen Beziehungsstörungen ins Wort hebt, ohne ihrerseits neue Verletzungen hervorzurufen. Für den deutschen Kontext hat Karl Jaspers diese Herausforderung 1946 eindrucksvoll beschrieben:

„Wir haben Schatten nur des wirklich gemeinsamen politischen Bodens, auf dem stehend wir solidarisch bleiben könnten auch in den heftigsten Auseinandersetzungen. Uns mangelt in hohem Maße das Miteinanderreden und Aufeinanderhören. Dies wird verschlimmert dadurch, dass so viele nicht eigentlich nachdenken wollen. Sie suchen nur Schlagworte und Gehorsam. Sie fragen nicht, und sie antworten nicht, außer durch Wiederholung eingelernter Redensarten. Sie können nur behaupten und gehorchen, nicht prüfen und einsehen, daher auch nicht überzeugt werden. Wie soll man reden mit Menschen, die nicht mitgehen wollen … Deutschland kann nur wieder zu sich kommen, wenn wir Deutschen in der Kommunikation zu einander finden. Wenn wir lernen miteinander zu reden, so doch nur im Bewusstsein unserer großen Verschiedenheit.“3

II.

So wie in den Worten von Karl Jaspers, so ist auch für die Beiträge dieses Hefts das hohe Maß an persönlichem Engagement bezeichnend, das aus den Texten spricht. Bisweilen wie z. B. in Texten von Thomas Hoppe und Jasna Dragović-Soso scheinen eigene Verwundungen durch. Gerade darin wird die besondere Sensibilität des Themenfelds sichtbar. Denn es geht nicht einfach um technische oder politische Lösungen für das eine oder andere Problem. Es geht vielmehr um die Identitäten und Selbstverständnisse von Menschen und Gruppen. Dabei sind diese Identitäten in der Regel durch die Gewalterfahrungen und ihre Folgen geprägt und bisweilen zutiefst erschüttert. Die Bedeutung dieser Prägungen für die Einzelnen erfordert einen angemessen sensiblen Umgang in der Kommunikation.

Thomas Hoppe macht in seinem Beitrag auf die durch Gewalt und Unrecht getrennten Lebenswelten von Opfern und Täter aufmerksam, die sich in spannungsreiche gesellschaftliche Spaltungen übersetzen. Darin scheint die prekäre Ungleichzeitigkeit der Anwesenheit der Geschichte bei den Opfern, Tätern und auch den nur scheinbar unbeteiligten Zuschauern auf. Diese unhintergehbaren Ungleichzeitigkeiten erschweren die Begegnungen zwischen den verschiedenen Akteuren zusätzlich. Es wird deutlich, dass man sich aus Respekt vor den Opfern vor trügerischen Selbstberuhigungen durch vorschnelle „Lösungen“ hüten muss. Die Überwindung der durch Gewalt und Unrecht hervorgerufenen Verletzungen geschieht – wenn überhaupt – nur schrittweise und ist mit erheblichen Konflikten, inneren wie äußeren, verbunden. Den Opfern kommt in diesem Prozess eine wesentliche Rolle zu. Ihre Perspektiven stellen das Vermeidungsverhalten und die Selbstberuhigung der Mehrheitsgesellschaft infrage. Im Interview mit Bernd Fabritius wird die heute produktive Rolle – in diesem Falle der deutschen Vertriebenen – angesprochen. Dennoch müssen mit Blick auf die Geschichte des Bundes der Vertriebenen (BdV) auch die Ambivalenzen der Erinnerung und des politischen Umgangs mit ihnen in den Blick kommen. Die lange Jahre von wesentlichen Teilen des BdV genährten revanchistischen Hoffnungen waren eben kein Beitrag zur Versöhnung, sondern ihrerseits eine kontinuierliche Verletzung insbesondere unserer polnischen Nachbarn.

Auch die von Gewalterfahrungen Betroffenen stehen vor Versuchungen im Umgang mit diesen Erfahrungen. Der Umgang mit Gewalterfahrungen wird umso komplexer, als mit andauernden Gewaltsituationen auch der Grad der Verstrickung zunimmt und die Klarheit der Trennung zwischen Opfern und Tätern damit abnimmt. Die menschliche Neigung, die Welt vor allem durch das Prisma der eigenen Verwundung wahrzunehmen, kann auch dazu genutzt werden, der Frage nach der eigenen Schuld und Verantwortung sowie nach den Wunden der Anderen auszuweichen. Es kommt darauf an, genau hinzusehen und die Verletzungen und ihre Deutungen sowohl in ihrem Zusammenhang zu verstehen als auch unterscheiden zu lernen. Dies aber kann letztlich nur im empathischen Dialog geschehen.

In den Beiträgen von Manfred Deselaers und Luigj Mila kommt die Bedeutung der Orte des Gewaltgeschehens für die konkreten Begegnungen und Dialoge zum Ausdruck. Den Orten des Gewaltgeschehens wohnt oft ein besonderer Genius loci inne. An ihnen und in ihnen gewinnt das Unabgegoltene der Geschichte einen bisweilen verstörenden Grad an Konkretion, dem man sich nur schwer entziehen kann. Wenn es gelingt, sie in Gedenkstätten umzuwandeln oder sie zumindest angemessen zu würdigen, können sie zu wirksamen Zeichen der Gewaltüberwindung und des Respekts vor den Opfern werden. Gerade dem Umgang mit den Gräbern kommt große Bedeutung zu, sind sie doch wesentliche Orte des Trauerns und damit perspektivisch der Annahme und Verarbeitung. In der Regel sagt der Umgang einer Gesellschaft mit diesen Orten viel über ihren Umgang mit den durch sie symbolisierten Verletzungen aus. Es nimmt daher kaum Wunder, dass die Nutzung dieser Orte als Gedenkstätten auf vielfältige politische Widerstände stößt. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um diese Orte, die nebenbei bemerkt zumeist von zivilgesellschaftlichen und religiösen Akteuren angestoßen werden, werden nicht selten zu Katalysatoren für Wandlungsprozesse im gesellschaftlichen Bewusstsein. Denn mit den Orten konkretisieren sich die Fragen nach den Opfern und ihren Erfahrungen, den Tätern und ihren Gründen sowie nach den Ursachen des Geschehens. Die Orte des Geschehens können somit zu „gefährlichen Erinnerungen“ werden, die die Chronifizierung der Postkonfliktstabilisierungen empfindlich in Frage stellen. Gerade in den postkommunistischen Gesellschaften wie Albanien sind diese Entwicklungen heute gut zu beobachten. Das Ringen um den Aufbau einer Gedenkstätte im ehemaligen kommunistischen Arbeitslager Spac, wie von Luigj Mila angedeutet, ist zugleich eine Auseinandersetzung um die Werte des heutigen Zusammenlebens in Albanien. Ähnliche Geschichten ließen sich z. B. aus der Arbeit der Maximilian-Kolbe-Stiftung mit Blick auf das Massengrab in Tomasica bei Prijedor (Bosnien) oder die lange verschwiegenen Massengräber in Slowenien erzählen. Die produktiven Potenziale der Arbeit an und mit diesen Orten sind erheblich.

III.

In der Begegnung mit Menschen, Orten und Erfahrungen werden notwendigerweise zugleich die großen Fragen nach Wahrheit und Gerechtigkeit aufgerufen. Der Umgang mit diesen Fragen ist sowohl eine Voraussetzung für den redlichen Aufbau von Beziehungen als auch der Wiedergewinnung von gesellschaftlichen Vertrauen. Das Ringen um die Anerkennung des je eigenen Leidens sowie um die Wahrheit des Geschehenen ist immer auch eine Auseinandersetzung um die Deutung des Geschehenen und letztlich auch um politische und moralische Legitimität. Hinzu kommt, dass sich die „Wahrheit“ aus unterschiedlicher Perspektive verschieden ausnimmt. Dies trägt wesentlich zu den Schärfen dieser Auseinandersetzungen bei. Insbesondere unter Bedingungen von nicht vollzogenen Elitenwechseln ist das Ringen um die Aufklärung des Geschehens nicht selten eine Fortsetzung der vorherigen gewalttätigen Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln. Dabei tritt häufig, wie von Jasna Dragović-Soso beschrieben, ein Zielkonflikt zwischen dem Interesse an der Aufdeckung der Wahrheit und der strafrechtlichen Ahndung der Verbrechen auf. Das politische „Geschäftsmodell“ „Wahrheit gegen Amnestie“ kann kurzfristig den gesellschaftlichen Aufklärungsprozess voranbringen und erheblich zur Delegitimierung der alten Eliten beitragen. Aber solche Deals führen in der Regel zu neuen Verletzungen, wenn die aufgedeckten Geschehnisse und Verantwortlichkeiten folgenlos bleiben und wenn sie nicht von ernsthaftem Bemühen um die (Wieder)herstellung des Rechts und der Wiederaufrichtung der Würde der Opfer begleitet sind.

Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass es bei Versöhnungsprozessen nicht um ein einfaches „Dann-vertragen-wir-uns-wieder“ geht. Die Fragen, vor denen die Gesellschaften so wie die Personen stehen, sind ernster. Sie lauten: Wie lässt sich mit den Verwundungen und der Schuld leben? Lassen sich und wenn ja, wie lassen sich die Verletzungen heilen? Lässt sich die Schuld sühnen? Wie kann nach alldem ein gemeinsames Leben gelingen? Was sind die Grundlagen des Zusammenlebens? Wie müssen wir uns ändern?

Alle diese Fragen treiben ganz offensichtlich auch kirchliche Akteure um und inspirieren sie, wie nicht zuletzt in den Texten von Gerhard Albert, Dagmar Heller und Robert Żurek deutlich wird. Die kirchliche Praxis der vergangenen Jahrzehnte hat dabei klar gemacht, dass die Glaubwürdigkeit unseres kirchlichen Handelns wesentlich davon abhängt, dass wir unsere eigene Rolle in den Prozessen des Umgangs mit gewaltbelasteter Vergangenheit selbstkritisch in den Blick nehmen. Papst Johannes Paul II. hat dieser Einsicht mit dem Schuldbekenntnis für das Versagen in der Kirche im Jahr 2000 gegen vielfältige innerkirchliche Widerstände eindrucksvollen Ausdruck verliehen. Das Zeugnis der Kirche ruht ebenso auf der Liebe zur Wahrheit wie auf der Bereitschaft im Vertrauen auf die Gnade Gottes, sich Schuld und Versagen, dem eigenen wie dem der anderen, zu stellen und entsprechend zu handeln. Der Austausch der vielfältigen Erfahrungen zwischen den Ortskirchen kann wesentlich zur gegenseitigen Stärkung beitragen. Dabei sind wir gut beraten, wenn wir uns vor der gegenseitigen Belehrung hüten und eher einen Modus des Dialogs und Austausches anstreben, in dem jeder seine Fragen und Erfahrungen thematisiert. Die deutsch-polnische, europäisch ausgerichtete Maximilian-Kolbe-Stiftung führt seit 2010 jährlich einen europäischen Workshop zum Umgang mit der gewaltbelasteten Vergangenheit von Auschwitz in Oświęcim durch. Die Tatsache, dass Polen und Deutsche an diesem Ort gemeinsam arbeiten, ist ein ermutigendes und wirksames Zeichen z. B. für die Teilnehmenden aus dem ehemaligen Jugoslawien, dass trotz aller zeitgenössischen Widerstände Versöhnung eine reale Perspektive und keineswegs Illusion ist, die dazu dient, den harten Fakten auszuweichen.

Allerdings kommt es dabei darauf an, ein angemessenes Verständnis von Versöhnungsprozessen zu entwickeln. Letztlich handelt es sich um langwierige persönliche und gesellschaftliche Transformationsprozesse, in denen die Identitäten und Selbstverständnisse der Menschen und Gruppen und ihre Beziehungen zueinander verhandelt werden. In diesem Sinne ist die Kritik von Harutyun Grigoryan und Jasna Dragović-Soso an externen Akteuren zu lesen, die bisweilen das Gespür für die Identitätsrelevanz der Thematik für die Betroffenen vermissen lassen.

IV.

Die Wege zur Versöhnung beginnen mit dem Respekt vor dem Leiden der Opfer/Anderen. Dies hat vielfältige innere Voraussetzungen und kann tragfähig nicht an der eigenen Ausgangslage vorbei geschehen. Auch in den obigen Beiträgen ist es sehr deutlich geworden: Versöhnungsarbeit ist Konfliktarbeit. Sie führt nicht selten in schmerzhafte oder zumindest unbehagliche Situationen. Romantische Verschmelzungen, in denen für einen Augenblick Gewalt und Schuld aufgehoben zu sein scheinen, sind flüchtig und nicht selten trügerisch. Vorherrschend sind vielmehr die aus der Spiritualität des Ignatius von Loyola gut bekannten Mühen, die sich allerdings lohnen und erhebliches Sinnerleben ermöglichen. Versöhnungsarbeit braucht eine Grundhaltung der tätigen Geduld. Eine Geduld, die sich nicht an die Verhältnisse gewöhnt und sich mit ihnen abfindet, sondern mit Blick für die Tiefe der Aufgabe verlässlich und beharrlich das jeweils Mögliche tut. Bei massenhafter Gewalt bedarf die Versöhnungsarbeit einer Generationenperspektive, die einen Umgang jenseits persönlicher Schuld in den Blick nimmt. Langandauernde, generationenübergreifende Wirkungen von Unrecht und Gewalt sind sowohl biblisch als auch (sozial)psychologisch und systemisch gut belegt. Die Einbindung verschiedener Generationen kann erhebliche Potenziale freisetzen. Allerdings müssen insbesondere die Erlebnisgenerationen darauf achten, den folgenden Generationen nicht einfach die Last zu überlassen, der sie sich selbst nicht stellen wollen oder vermeintlich nicht können. Auch eine belehrende Haltung würde einem angemessenen intergenerationellen Dialog nicht gerecht. Angesichts der transgenerationellen Auswirkungen von Unrecht und Gewalt stehen die verschiedenen Generationen vor je eigenen Fragen. Es geht vielmehr um respektvollen Austausch, um die Tiefe der Auswirkungen gemeinsam zu erfassen und sich gegenseitig beim Umgang mit den Herausforderungen zu helfen. So viel ist klar: Nicht die Zeit heilt alle Wunden – Heilung braucht vielmehr Zeit. Nicht alles kann geheilt werden, aber es lässt sich lernen, mit den anwesenden Verletzungen zu leben. Und das ist viel mehr, als sich die Betroffenen zu Beginn des Prozesses in der Regel vorstellen können.


Fußnoten:


  1. Im Blick auf eine Aufarbeitung breiter Erfahrungen im Feld des Umgangs mit gewaltbelasteter Vergangenheit und gesellschaftlichen Versöhnungsprozessen siehe: Erinnerung, Wahrheit, Gerechtigkeit. Empfehlungen zum Umgang mit belasteter Vergangenheit. Eine Handreichung der Deutschen Kommission Justitia et Pax (Schriftenreihe Gerechtigkeit und Frieden, Nr. 102). Bonn 2004. Dieter Grande (Hrsg.): Ohne Erinnerung keine Versöhnung. Ansätze und Überlegungen zu einer Charta Memoriae. Dokumentation eines internationalen Workshops in der Gedenkstätte Buchenwald. Bonn 1999. Ders. (Hrsg.): Der deutsch-deutsche Umgang mit der SED-Vergangenheit. Perspektiven kirchlichen Handelns. Dokumentation eines Workshops in der Forschungs- und Gedenkstätte Normannenstraße in Berlin. Bonn 2001. ↩︎

  2. Zum vertieften Verständnis des dialektischen Charakters von Trauma und Kontext siehe auch Ignacio Martín Baró: Poder, Ideología y violencia. Madrid 2003 (Posthum veröffentlicht), S. 366 f. ↩︎

  3. Zit. Karl Jaspers: Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands. München/Berlin. 2. Aufl. 2016, S. 14 f. ↩︎