Beharrung, Auswanderung und nationale Bekenntnisse: Katholische Welten in Montenegro

aus OWEP 4/2018  •  von Konrad Clewing

Dr. Konrad Clewing ist seit 1997 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Münchner Südost-Institut, das er von 2006 bis zu seinem Aufgehen im Regensburger Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS) stellvertretend geleitet hat. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des südslawischen und albanischen Raums, in diesem Kontext Mitherausgeber mehrerer Grundlagenwerke über Südosteuropa (darunter 2011 eine Gesamtdarstellung im Pustet-Verlag, 2016 ein Lexikon und das laufende Projekts eines „Handbuchs zur Geschichte Südosteuropas“).

Zusammenfassung

Der Beitrag beschreibt vor dem Hintergrund der multiethnischen Geschichte Montenegros die traditionellen katholischen Zentren in den heutigen Landesgrenzen und ihr von Migration geprägtes Dasein. Die kulturelle Spannbreite reicht von einem montenegrinischen Anteil an der speziellen Tradition des nordalbanischen Gebirgskatholizismus bis zu der für den Tourismus des Landes zentralen mediterranen Region der Boka kotorska mit ihrem kroatisch geformten Katholizismus und reichem architektonischen Erbe.

Die ins Tal gewanderte Welt der nordalbanischen Berge

Wenn man von der Hauptstadt Podgorica aus ein kurzes Stück nach Südosten fährt, kommt man ziemlich genau auf der Brücke über das Flüsslein Cijevna (albanisch: Cem) in ein Gebiet, das bis zu den Balkankriegen noch osmanisch war. Durchquert man dort den städtebaulich jungen lokalen Hauptort Tuzi/Tuz mit seiner doppelten Prägung durch große neue islamische wie auch katholische Bauten und folgt noch einige Kilometer die Seitenstraße bis zum Ortsteil Sukuruć (albanisch Sukruq), gelangt man zu dem katholischen Geistlichen Zentrum „Sanctae Crucis“. Inmitten der ebenen ländlichen Umgebung ist dieses Zentrum verblüffend stattlich: Neben der dortigen Filialkirche und einem Bildungshaus steht ein größeres Gebäude, das vorschulische Betreuung für Kinder mit Behinderung bietet.1 Es steht für Angehörige aller Glaubensrichtungen offen und schließt mit seiner Spezialisierung eine pädagogische Lücke, die das staatliche Bildungswesen ansonsten weit offen lässt.

Die von Franziskanerpater Frano Dushaj seit ihrer Gründung 2008 geleitete Einrichtung erhält vom Staat nur wenig Unterstützung. Dennoch hat Pater Dushaj, der in der Anfangsphase erhebliche Hilfe aus Deutschland (auch von Renovabis) erhalten hat, noch große Pläne. Möglichst bald soll eine Volksschule hinzukommen. Aber auch heute schon macht der Häuserkomplex den Eindruck einer wichtigen pädagogischen Oase in einer von materiellen Schwierigkeiten ebenso wie von politischer Vernachlässigung geprägten montenegrinischen Randregion.

Bei ihrer Verwendung der albanischen Sprache machen die örtlichen Franziskaner (die zur albanischen Ordensprovinz zählen) und insbesondere Pater Dushaj keine Kompromisse. Sie sind darin auch viel konsequenter als die Weltgeistlichen im benachbarten Albanien, wo die katholische Kirche wie auch alle anderen Religionsgemeinschaften vom atheistischen kommunistischen Regime vor 1991 zerschmettert worden war. Denn die Franziskaner in Montenegro verwenden die von diesem Regime gezielt zerstörte nördliche Schriftvariante des Albanischen, die – angefangen mit dem ersten albanischen Buchdruck vom Jahre 1555 – von allen albanischen Schriftformen mit Abstand die älteste Tradition aufweist. Sie ist außer mit dem Katholizismus der nordalbanischen Stadt Shkodra vor allem mit der Welt der albanischen Hochlande verbunden, in denen sich zur Osmanenzeit der Katholizismus in seinem am meisten nach dem Süden auf dem Balkan vorgeschobenen Schwerpunkt hatte erhalten können. Ein Blick auf die noch auf montenegrinischem Territorium östlich von Tuzi und Sukuruć gelegene Berglandschaft hilft deshalb zu erklären, woher jene Traditionsverbundenheit der örtlichen Franziskaner stammt. Denn viel mehr als hier unten in der Ebene liegt dort oben die Herkunft der heutigen albanisch-katholischen Gemeinden der Region. Die heute nur noch von wenigen hundert Menschen bewohnten Bergdörfer sind für die meisten Gläubigen die ursprüngliche Heimat, während die früher allzu feuchte und von den Osmanen leichter beherrschbare Talebene nahe dem Skutari-See einst viel weniger bevölkert war als heute.

Noch mehr Menschen haben jene Berge in den letzten Jahrzehnten aber in noch andere Richtungen verlassen. Man findet sie und ihre Nachkommen als Goldschmiede, Bäcker und Konditoren bis hinauf nach Istrien längs der ganzen Adriaküste als eine Art albanisch-jugoslawisches Migrationserbe. In noch viel größerer Zahl sind sie aber seit etwa einem halben Jahrhundert in den USA zu finden, vor allem in New York und in Detroit. Jenseits des Atlantiks leben mittlerweile mehr katholische Albaner aus Montenegro als in Montenegro selbst. Sie haben sich dort so gut etabliert, dass sich wenige Jahrzehnte nach ihnen auch noch im nahen Albanien ab dem dortigen Regimewechsel halbe katholische Ortschaften der Grenzgegend auf den Weg gemacht haben, um ihren seit 1912 bzw. 1944 von ihnen abgetrennten montenegrinischen Vettern und Kusinen in ein neues amerikanisches Leben nachzufolgen, das so viel mehr Wohlstand zu bieten hat als die harte Existenz in der Abgeschiedenheit der albanisch-montenegrinischen Berge.

So gesehen ist es kaum erstaunlich, dass ein so kräftiges institutionelles Lebenszeichen des örtlichen Katholizismus wie in Sukuruć auch zu einem großen Teil nur dank Engagement von außerhalb möglich ist. Die migrationsbedingte gute Vernetzung mit der westlichen Welt – während orthodoxe Montenegriner seit dem 19. Jahrhundert eher in großer Zahl in Richtung Serbien abgewandert sind – ist für die Katholiken Montenegros insgesamt sowohl Segen als auch Belastung. Montenegro war in seiner neuzeitlichen Entstehung in seinen Grenzen bis 1878 ein rein orthodox geprägtes Staatswesen. Auf dem heutigen Gebietsstand dagegen war infolge der starken Abwanderung der jüngeren Zeit der Anteil der Katholiken seit Jahrhunderten nie so gering wie jetzt: Von den bei der letzten Volkszählung von 2011 insgesamt 620.020 Einwohnern stellten sie nur noch 3,4 Prozent (21.299 Menschen). Hierarchisch-institutionell ist der montenegrinische Katholizismus zweigeteilt: Der weitaus größte Teil des Landes fällt kirchlich mit dem Erzbistum Bar zusammen. Der wesentlich kleinere Teil ist das schon im späten 5. Jahrhundert erstmals in den Quellen erwähnte Bistum Kotor, das nicht zum Barer Erzbistum gehört, sondern zum kroatisch-dalmatinischen Erzbistum Split.

Die mediterrane kroatische Welt in der Bucht von Kotor

In der seit 1946 montenegrinischen Bucht von Kotor (Boka kotorska) betritt man auch in der Tat eine ganz andere katholische Welt als zuvor in Tuzi. Die Gegend war mit Ausnahme weniger vorübergehend osmanisch gewordener Teile bis 1797 durchgängig für Jahrhunderte venezianisches Gebiet. Dadurch ist sie ohne die für den Balkan sonst so typische osmanische Prägung geblieben. In der Boka existierte dabei in venezianischer Zeit für die örtlichen Christen beider Konfessionen ein staatskirchenpolitischer Rahmen, der dem Katholizismus absoluten Vorrang gab. Der orthodoxe Ritus war zwar geduldet, aber keine unabhängige orthodoxe Kirchenstruktur zugelassen. Auch die Sakralarchitektur der Städte und Ortschaften der „Boka kotorska“ spiegelt diesen Hintergrund wider. Die architekturhistorisch wichtigsten geistlichen Bauwerke sind nahezu alle entweder noch heute katholisch oder erst seit späterer Zeit in orthodoxer Nutzung. Da in der Boka kotorska nicht nur die ältesten mittelalterlichen Bauwerke, sondern auch noch der Großteil des frühneuzeitlichen Bauerbes von ganz Montenegro steht, hat auf diese etwas eigentümliche Weise das westkirchlich-katholische Erbe ein weit überproportionales Gewicht für das ganze Land.

Die heutigen katholischen Gemeinden der Boka können dieses Erbe aber nicht mehr alleine schultern. Rund 140 katholische Kirchenbauten existieren in der Diözese bzw. in den vier politischen Gemeinden, welche die Boka kotorska heute ausmachen (Kotor, Herceg Novi, Tivat und Budva). Pfarreien gibt es aber nur noch 26, und laut Volkszählung von 2011 zusammen nur noch 7.227 Katholiken. An der regionalen Gesamtbevölkerung von 87.714 macht ihr Anteil damit noch ganze 8,4 Prozent aus. Dass viele der touristisch nicht so im Zentrum stehenden Kirchenbauten in beklagenswertem Zustand sind, hat mit diesem schon älteren demographischen und soziopolitischen Bedeutungsverlust zu tun. 1871 hatten die Katholiken noch rund 27 Prozent der Regionalbevölkerung ausgemacht, zu venezianischer Zeit kamen zu Mitte des 18. Jahrhunderts nach einer (freilich statistisch nicht allzu sicheren) Erhebung sogar noch 7.289 Katholiken auf 10.113 Orthodoxe (das wären fast 42 Prozent). Die starke Verschiebung rührt zum einen Teil von langfristiger orthodoxer Zuwanderung her. Sie hat aber auch hier, wie in der Gegend von Podgorica, mit umfangreicher katholischer Abwanderung zu tun, die sich mindestens bis in das späte 19. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Das mehrheitliche und von der Kirche heute ganz klar gestützte Selbstverständnis der Katholiken der Boka ist kroatisch. Sich in das in seinem Dubrovniker Südzipfel quasi vor der Haustür gelegene Kroatien auf der Suche nach Ausbildung, wirtschaftlicher Zukunft und Familiengründung zu begeben, prägt zahlreiche individuelle Lebenswege.

Ein Hintergrund ist auch die Marginalisierung und zeitweilige Bedrängung in der Boka selbst. Zu sozialistischen Zeiten war religionspolitisch eine Abwendung von der Kirche erwünscht, nationalpolitisch eine Selbstdeklaration als jugoslawisch oder im Sinne der Regionszugehörigkeit anstatt als kroatisch. Der Tiefpunkt war bald nach dem Zerfall Jugoslawiens 1991/92 erreicht, als montenegrinische Verbände der jugoslawischen Volksarmee jenseits der Grenze bei Dubrovnik gegen die kroatischen Unabhängigkeitsbestrebungen zu Felde zogen. Sich damals in der Boka gleich neben diesem Kriegsschauplatz gegen allen Druck kroatisch-katholisch zu behaupten, erforderte viel Mut und Geschick. Erst seit dem klaren West- und Unabhängigkeitskurs von ganz Montenegro konstatieren katholische Vertreter in der Region ein neues Klima, in dem ein Bekenntnis der Minderheit als katholisch und kroatisch kaum noch Druck vonseiten der Behörden und der Mehrheit hervorruft.

Fragile Zone des Übergangs: der Katholizismus am Erzbischofssitz von Bar

Eine dritte katholisch mitgeprägte Teilregion Montenegros schließt sich entlang der Küste südlich der Boka bis an die albanische Grenze an. Zentrum ist der Metropolitansitz Bar. Kulturell handelt es sich um eine Übergangs- und Kontaktzone zwischen Orthodoxie und Katholizismus (sowie Islam) in religiöser und von slawischem und albanischem Bereich in sprachkultureller Hinsicht. Schon dass Bar 1089 vom Papst zum Erzbistum erhoben wurde, hatte mit seiner Platzierung an der Nahtstelle von Ost- und Westkirche und mit den entsprechenden kirchenpolitischen Interessen der Herrscherfamilie des damaligen Königtums Duklja (Zeta) zu tun. Der von dem Herrschaftsverständnis dieses Königtums herrührende Ehrentitel der erzbischöflichen Würde als „Primas von Serbien“ spiegelte diese strategische Lage noch bis tief in die Neuzeit wider, wobei als Ausdruck der gleichzeitigen Ausrichtung in späteren Jahrhunderten auch noch ein zweiter Ehrenrang als „Mitropolit von Albanien“ hinzukam. Als das Gebiet 1878 an Montenegro fiel, waren die örtlichen Katholiken ganz überwiegend Albaner. Ihre internationale kirchenpolitische Bedeutung nahm darauf aber wenig Bezug und wies in andere Richtung. 1886 handelte Montenegro (als erster orthodoxer Staat überhaupt) mit dem Vatikan ein Konkordat aus, und 1887 folgte auf Wunsch des montengrinischen Fürsten und nach Lobbyarbeit südslawisch orientierter ökumenefreundlicher Vertreter des kroatischen Katholizismus die päpstliche Erlaubnis, im Gottesdienst neben dem lateinischen auch den altslawischen Ritus zu verwenden.

Auf die allgemeine Förderung des slawischen Charakters der Institutionen der Kirche folgte im 20. Jahrhundert eine staatlich genauso wohlwollend betrachtete zunehmende Slawisierung auch der Katholiken zumindest in der unmittelbaren Gegend von Bar. Darin kann man den Kern eines genuin montenegrinischen Katholizismus sehen. Diese nationalkulturelle Orientierung war für die Betroffenen durchaus attraktiv – nicht zuletzt wegen der Ausbildungs- und Karrierewege, die sich auf diese Weise für die katholischen Familien von Bar in den kirchlichen Strukturen boten: Nicht weniger als drei langjährige Erzbischöfe kamen im 20. Jahrhundert aus der kleinen, teils immer noch zweisprachigen Gemeinschaft der oberhalb der heutigen Küstenstadt Bar gelegenen alten Stadt Bar (Stari Bar). Da die Diözese als Ganzes aber angesichts der rein albanischen Pfarreien in Richtung Ulcinj und der Diözesanzugehörigkeit auch der Region von Tuzi eine deutliche albanische Mehrheit aufweist, ist die vatikanische Ernennungspolitik in jüngerer Zeit eine andere als nach 1886. Der heutige Erzbischof Rrok Gjonleshaj ist wie schon sein unmittelbarer Amtsvorgänger ein aus dem Kosovo gebürtiger Albaner. Gegenüber albanischsprachigen Medien hat er betont, wieviel mehr praktische Bedeutung wegen der kulturellen Gemeinsamkeiten die gastweise Mitwirkung seiner Diözese bei der Albanischen Bischofskonferenz habe als die formaljuridische Vollmitgliedschaft in der sozusagen „exjugoslawischen“ Internationalen Bischofskonferenz der Heiligen Kyrill und Method. Ob dies in der Gemeindepraxis eine Art Re-Albanisierung der Katholiken von Bar und damit künftig eine noch klarere Zweiteilung der Katholiken Montenegros in kroatisch oder albanisch bedeutet, müsste eine konkrete Forschung erst noch zeigen.


Fußnote:


  1. Ausführliche Informationen und Bilder finden sich unter http://www.malteser.al/en/news/800-a-study-visit-in-the-center-sanctae-crucis-tuzi-montenegro.html (letzter Zugriff: 20.11.2018; Link mittlerweile inaktiv!). ↩︎