Das Zeitalter der Katastrophen – Weißrussland im 20. Jahrhundert

aus OWEP 2/2004  •  von Petra Rentrop

Petra Rentrop ist Osteuropa-Historikerin und arbeitet als Referentin für die Geschichtswerkstatt Minsk beim Internationalen Bildungs- und Begegnungswerk Dortmund.

Weißrussland (Belarus), seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ein unabhängiger Staat, blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Als Übergangslandschaft zwischen Ost und West ist die von Weißrussen, Polen, Juden, Russen und Litauern besiedelte Region im Laufe der Jahrhunderte fast immer in größere Herrschaftsverbände, Reiche und Staaten eingebunden gewesen. Hervorgegangen aus der Kiewer Rus, gehörten die heute weißrussischen Territorien seit dem Spätmittelalter zum Großfürstentum Litauen, zur polnischen Adelsrepublik Rzeczpospolita, zum russischen Zarenreich und schließlich zur Sowjetunion. Damit ist Weißrussland stets auch Gegenstand kultureller wie politischer Vereinnahmungen und Konfrontationen äußerer Mächte gewesen – mit oftmals dramatischen Konsequenzen für die dort lebenden Menschen. Zu einem regelrechten „Zeitalter der Katastrophen“ wurde das 20. Jahrhundert, als Weißrussland zum Schauplatz zweier Weltkriege, des stalinistischen „Großen Terrors“ und schließlich der Havarie des Reaktors von Tschernobyl wurde. Der folgende Beitrag nimmt die Katastrophen der jüngeren weißrussischen Geschichte sowie ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des Landes und die Bewusstseinslage seiner Bevölkerung in den Blick.

Erster Weltkrieg, Bürgerkrieg und sowjetisch-polnischer Krieg

Mit dem Ersten Weltkrieg wurden die weißrussischen Gebiete erstmals im 20. Jahrhundert zum Kriegsschauplatz mit entsprechenden Verwüstungen. Noch unter deutschem Protektorat wurde im März 1918 die formal unabhängige „Weißrussische Volksrepublik“ (BNR) ins Leben gerufen, die jedoch nur eine Episode blieb. Mit der Proklamation der „Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ (BSSR) im Januar 1919 begann das sowjetische Zeitalter in Weißrussland. Für die folgenden zwei Jahre war die Region von den Kämpfen des Bürgerkrieges und des sowjetisch-polnischen Krieges betroffen. Erst der Friedensvertrag von Riga im März 1921 brachte für Weißrussland eine vorläufige Konsolidierung der politischen Lage. Jedoch wurde hier eine faktische Zweiteilung der weißrussischen Territorien beschlossen, die bis 1939 Bestand haben sollte: Der westliche Teil wurde dem wiedererstandenen polnischen Staat angegliedert, während der östliche Teil Sowjetrussland zufiel.

Unter polnischer und frühsowjetischer Herrschaft

Aufgrund der Aufteilung der weißrussischen Territorien war deren Bevölkerung bis 1939 gänzlich unterschiedlichen Herrschaftsinteressen und kulturellen Einflüssen ausgesetzt. In den polnischen Kresy Wschodnie, zu denen das westliche Weißrussland gehörte, führten etwa die Weißrussen weitgehend das Leben einer unterdrückten Minderheit. Spätestens seit Mitte der zwanziger Jahre verfolgte die polnische Regierung gegenüber den Kresy eine rigide Polonisierungspolitik, in der sich auch das gespannte Verhältnis zwischen dem politischen Zentrum und der nordöstlichen Grenzregion widerspiegelte: Die Kresy galten der Führung in Warschau aufgrund ihrer Nähe zur UdSSR als Gefahrenzone für die nationale Sicherheit. Zu dieser Einschätzung trug zudem die positive Haltung vieler Weißrussen gegenüber dem sowjetischen Weißrussland bei. Tatsächlich verlief die politische und kulturelle Entwicklung in der BSSR für die indigene Bevölkerung zunächst um einiges positiver als im ostpolnischen Grenzland. Gründe hierfür waren die wirtschaftlichen Wiederaufbauerfolge der „Neuen Ökonomischen Politik (NEP)“, aber auch die Errungenschaften der frühsowjetischen Nationalitätenpolitik: Diese förderte nicht nur die Einbindung nichtrussischer Eliten in den Partei- und Staatsapparat, sondern war auch von einer vergleichsweise liberalen Sprach- und Kulturpolitik flankiert. Infolge gezielter staatlicher Förderung erfuhr das weißrussische Presse-, Bildungs- und Kulturwesen eine zuvor nie gekannte Blüte. Mit vier Staatssprachen (Weißrussisch, Russisch, Polnisch, Jiddisch) wurde in der frühen BSSR jedoch auch der ethnischen Vielfalt der Republik Rechnung getragen.

Stalinistischer Terror

Die „goldenen zwanziger Jahre“ des sowjetischen Weißrussland fanden jedoch mit dem Aufstieg Stalins ein abruptes Ende. Stalin vertrat die Auffassung, dass die Förderung nationaler Elemente in den nichtrussischen Republiken die Einheit des Sowjetstaates untergrabe. So wurde auch die BSSR zwischen 1929 und 1930 von einer ersten Repressionswelle gegen die nationale Intelligenz erfasst. Bis zum Ende der dreißiger Jahre blieben nur wenige Persönlichkeiten der weißrussischen intellektuellen Elite von den Stalinschen Säuberungen verschont. Neben Dichtern, Schriftstellern, Künstlern, Musikern und anderen Personen des kulturellen Lebens waren hiervon vor allem auch Mitglieder der Kommunistischen Partei Weißrusslands (KPB) betroffen. Diese verlor während des „Großen Terrors“ vierzig Prozent ihrer Mitglieder, darunter fast alle führenden Funktionsträger. Der Prozess der national-kulturellen Entfaltung wurde mit der Liquidierung der weißrussischen Intelligenz endgültig zunichte gemacht.

Die stalinistischen Gewaltakte richteten sich jedoch nicht nur gegen die Intelligenz, sondern auch gegen die mehrheitlich weißrussische ländliche Bevölkerung. Im Zuge der 1930 einsetzenden Kollektivierung der Landwirtschaft leitete die sowjetische Zentrale repressive Maßnahmen gegen das Großbauerntum, die „Kulaken“, ein. In Weißrussland traf die „Entkulakisierung“ jedoch vor allem die Gruppe der so genannten Mittelbauern, die sich während der Phase der „Neuen Ökonomischen Politik“ hatte konsolidieren können. In den dreißiger Jahren wurden etwa 34.000 „Kulakenhöfe“ enteignet; ihre Besitzer wurden entweder wegen „feindlicher Aktivitäten“ getötet oder in entfernte Regionen der Sowjetunion verschleppt. Die Etablierung des Kolchossystems und die Durchsetzung einer ebenso zentralistischen wie hierarchischen Arbeitsorganisation zerstörte zudem das Hofleben als Zentrale der bäuerlichen Wirtschaft. Zugleich hielten Vetternwirtschaft und Korruption ins weißrussische Dorf Einzug; das traditionelle Prinzip der dörflichen Solidarität wurde gründlich ausgelöscht.

Das Inferno des Zweiten Weltkrieges

Vom stalinistischen Terror wurden schließlich auch die westlichen Gebiete Weißrusslands ergriffen, die 1939 infolge des Hitler-Stalin-Paktes von der Sowjetunion annektiert und in den Bestand der BSSR überführt worden waren. Zwar blieb hier eine Massenkollektivierung weitgehend aus. Die Sowjetisierung äußerte sich vielmehr in Terroraktionen und Deportationswellen, von der zunächst vor allem die polnische Einwohnerschaft und später nahezu alle Bevölkerungsgruppen erfasst wurden: Zwischen 1939 und 1941 wurden insgesamt 900.000 Menschen aus West-Weißrussland als unzuverlässig eingestuft und in die östlichen Gebiete der Sowjetunion verbracht.

In dieser Situation brach eine neue Katastrophe über Weißrussland herein: Infolge des nationalsozialistischen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geriet die Region bis 1944 unter deutsche Besatzungsherrschaft. Keine andere Sowjetrepublik war dem NS-Vernichtungsfeldzug in dem Maße ausgesetzt wie Weißrussland. Zu den ersten Opfern der Besatzungsmacht zählte die jüdische Bevölkerung, die in der antisemitischen NS-Ideologie als Urheber des sowjetischen Systems und als potenzieller Widersacher galt: Von den 820.000 weißrussischen Juden wurden 650.000 bis 700.000 in Mordaktionen und Konzentrationslagern umgebracht. Die nichtjüdische Zivilbevölkerung war zunächst einer brutalen Ausbeutungspolitik ausgesetzt, die sich unter anderem in der Verschleppung von 380.000 Menschen ins Deutsche Reich äußerte. Ab 1942 setzten jedoch offene Vernichtungskampagnen vor allem gegen die weißrussischen Dörfer ein. Verbände von SS, Polizei und Wehrmacht verwüsteten in „Großunternehmungen“ ganze Landstriche, indem sie die dortigen Dörfer niederbrannten und ihre Einwohnerschaft ermordeten. Oftmals wurden die Dorfbewohner in eine Scheune getrieben und bei lebendigem Leibe verbrannt. Diese Aktionen waren Bestandteil einer mörderischen Pazifizierungsstrategie und wurden mit dem Kampf gegen das regionale Partisanentum begründet. Tatsächlich war Weißrussland während des Zweiten Weltkrieges ein Zentrum der Partisanenbewegung in Europa. Von einem einheitlichen Widerstand gegen die deutschen Besatzer konnte allerdings keine Rede sein; vielmehr waren in den Wäldern und Sümpfen der Region prosowjetische, weißrussisch-nationale, jüdische und polnische Einheiten aktiv, die sich gerade in der letzten Kriegsphase häufig auch untereinander bekämpften.

Insgesamt forderten der Krieg und die deutsche Okkupation in Weißrussland neueren Schätzungen zufolge an die drei Millionen Opfer; das Land verlor damit nahezu ein Drittel seiner Einwohnerschaft. Das durch den stalinistischen Terror ohnehin erschütterte soziale Gefüge der BSSR-Gesellschaft und ihre geistige und kulturelle Infrastruktur wurden zwischen 1941 und 1944 vollständig zerstört. So wurden im Krieg die Restbestände traditioneller weißrussischer Lebenszusammenhänge auf dem Lande zerschlagen. Mit der Ermordung der Juden verschwand eine Bevölkerungsgruppe, die das Leben insbesondere in den Städten der Region über Jahrhunderte mit bestimmt hatte. Durch die hohen Verluste auch unter der nichtjüdischen Einwohnerschaft waren letztlich in fast jeder Familie der Region Opfer zu beklagen. Die Überlebenden, die die Ermordung ihrer Verwandten und Freunde sowie die Zerstörung ihres sozialen Umfeldes häufig miterleben mussten, erlitten Traumata, die kaum zu bewältigen waren. Der Krieg hinterließ auch immense materielle Schäden. Im Rahmen der Kampfhandlungen, der „Partisanenbekämpfung“ und der Politik der „verbrannten Erde“ beim deutschen Rückzug waren 209 Städte und 9.200 Dörfer verwüstet worden, weite Teile der weißrussischen Industrie und der Infrastruktur waren zerstört. Sowjetischen Angaben zufolge belief sich der materielle Schaden des Krieges auf vierzig jährlich produzierte Nationaleinkommen aus der Vorkriegszeit.

Die Nachkriegszeit

Das weißrussische Martyrium fand jedoch auch nach dem Krieg noch kein Ende. Unter dem Generalverdacht der Kollaboration wurde die überlebende weißrussische intellektuelle und politische Elite zwischen 1947 und 1950 erneut tief greifenden Säuberungen unterzogen, die an die Repressionen der dreißiger Jahre erinnerten. Einzig die Gruppe der prosowjetischen Partisanen blieb hiervon unberührt. Das prosowjetische Partisanentum war es auch, das in der Nachkriegszeit zum zentralen Bezugspunkt kollektiver Identitätsbildung in Weißrussland wurde. Eingebettet in die gesamtsowjetische Deutung des Krieges als Heldengeschichte wurde in der BSSR unter Rückgriff auf das Partisanenthema der Mythos eines einheitlichen weißrussischen Volkswiderstandes gegen die deutschen Besatzer geschmiedet. Auf diesem Wege gelang es den politischen Eliten in Minsk und Moskau, eine (quasi-)nationale weißrussische Identität im Rahmen der sowjetischen zu konstruieren.

Sowjetisch-weißrussische Identitätsbildung wurde jedoch auch durch die immensen Wiederaufbauleistungen mit Mitteln aus Moskau befördert. Nachdem die dringendsten Probleme der Wohnraumbeschaffung, Gesundheitsfürsorge und Wiederherstellung der Infrastruktur behoben worden waren, setzte in Weißrussland eine forcierte Industrialisierung ein: Binnen weniger Jahrzehnte wurde in dem ehemaligen Agrarland eine leistungsfähige Fahrzeug-, Maschinen- und Rüstungsindustrie aufgebaut. Mit der Modernisierung waren umfassende Wanderungsbewegungen vom Lande in die Stadt verbunden, sodass die Städte der Republik erstmals einen weißrussischen Charakter erhielten. Aufgrund von Russifizierungskampagnen der sowjetischen Zentrale verschwand jedoch zugleich die weißrussische Sprache weit gehend aus dem öffentlichen Leben. Auf diesem Wege verwandelte sich Weißrussland in eine sowjetische Vorzeigerepublik, deren Bewohner in einem verhältnismäßigen Wohlstand lebten.

In dieser Situation wurde die weißrussische Bevölkerung am 26. April 1986 von der Reaktorkatastrophe im ukrainischen Tschernobyl getroffen: Rund siebzig Prozent des radioaktiven Fallouts gingen allein auf Weißrussland nieder; zwanzig Prozent seines Territoriums – insbesondere die Gebiete um Gomel und Mogilew – mit 2,2 Millionen Einwohnern wurden kontaminiert. Aufgrund der verharmlosenden Informationspolitik der sowjetischen Regierung kamen die tatsächlichen Folgen des Reaktorunglückes mit erheblicher Verspätung ans Licht. Erst 1989 wurden umfangreiche Maßnahmen zur Dekontaminierung der verstrahlten Gebiete und zur Evakuierung der betroffenen Bevölkerung eingeleitet.

Die Aufdeckung der Auswirkungen von Tschernobyl führten zusammen mit der Entdeckung stalinistischer Massengräber im Wald von Kuropaty bei Minsk sowie dem existenzgefährdenden Zustand der weißrussischen Sprache in den ausgehenden achtziger Jahren zur Formierung einer nationalen Bewegung in Weißrussland. Gleichwohl blieb deren Breitenwirkung und politischer Einfluss – etwa verglichen mit den Nationalbewegungen im benachbarten Baltikum – verhältnismäßig gering. Die Proklamation der Unabhängigkeit Weißrusslands im August 1991 verdankte sich infolgedessen vor allem den äußeren politischen Umständen des gescheiterten Putsches in Moskau und weniger den nationalen Emanzipationsbestrebungen der Bevölkerung.

Ausblick

Die Phase des nationalen Aufbruchs blieb in Weißrussland letztlich eine Episode. Zwar strebte die neue weißrussische Führung um Stanislaw Schuschkewitsch in den frühen neunziger Jahren danach, der jungen Republik Belarus ein eigenständiges, vor allem nicht-russisches Profil zu verleihen. Ergriffen wurden vor allem Maßnahmen zur Wiederbelebung der weißrussischen Sprache; ebenso wurde im Entwurf einer eigenständigen Nationalgeschichte nach historischer Legitimation für den neuen Staat gesucht. Mit der Wahl von Alexander Lukaschenko zum weißrussischen Präsidenten im Juni 1994 wurde dieser Nationalisierungsprozess jedoch zum Erliegen gebracht. Lukaschenko betreibt seither eine entschiedene Resowjetisierungspolitik, die von der Bevölkerung mehrheitlich getragen zu werden scheint. Der hierin zum Ausdruck kommende Mangel an nationalem Bewusstsein ist auch mit der destruktiven Entwicklung Weißrusslands insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Verbindung zu bringen. Durch die Zweiteilung nach dem Ersten Weltkrieg, Stalinismus und Krieg wurde der zögerliche weißrussische Nationsbildungsprozess der Jahrhundertwende, der lediglich in der Rumpf-BSSR der zwanziger Jahre kurz bewusst gefördert worden war, nicht nur vollständig zum Erliegen gebracht, sondern in einer Phase abgebrochen, bevor er breitere Bevölkerungsschichten hatte erfassen können. Infolge der Vernichtung der nationalen Elite und der Deportationen im Stalinismus, der Zerstörung des traditionellen Dorflebens, des Genozids an den weißrussischen Juden, der ungeheuren Verluste unter der nicht-jüdischen Bevölkerung sowie der Zerstörung unzähliger Städte und Dörfer während der NS-Besatzungszeit wurde das demographische und kulturelle Gesicht Weißrusslands zudem völlig entstellt. Mit dem Wiederaufbau in der Nachkriegszeit entstand ein gänzlich verändertes Weißrussland, dessen geistige und personale Verbindungslinien zur Vergangenheit weitgehend gekappt waren. Statt dessen fungierten Partisanenmythos und sowjetische Aufbauleistungen als integrative und identitätsstiftende Momente für die weißrussischen Nachkriegsgesellschaft. Die extremen Brüche des 20. Jahrhunderts wirken damit bis heute nach und tragen zur erstaunlichen Nachhaltigkeit sowjetisch geprägter Identitätsmuster bei.


Literaturhinweise:

  • Beyrau, Dietrich / Lindner, Rainer (Hrsg.): Handbuch der Geschichte Weißrußlands. Göttingen 2001.
  • Chiari, Bernhard: Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrußland 1941-1944. Düsseldorf 1998.
  • Gerlach, Christian: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrussland 1941 bis 1944. Hamburg 1999.