Georgien – ein „failing state“ im Südkaukasus zwölf Jahre nach Auflösung der Sowjetunion?

aus OWEP 4/2003  •  von Walter Kaufmann

Walter Kaufmann ist Osteuropahistoriker und Leiter des Regionalbüros Südkaukasus der Heinrich-Böll-Stiftung in Tbilisi/Georgien.

Zwölf Jahre nach Ende der Sowjetunion und (Wieder-)Erlangung der Unabhängigkeit sehen viele Georgier ihr Land an einem historischen Tiefpunkt angekommen. Die Bevölkerungszahl ist seit 1989 um ein Viertel geschrumpft. Viele, meist jüngere Menschen sahen sich gezwungen, zum Arbeiten oder für eine gute Ausbildung nach Russland, in die USA oder nach Westeuropa zu emigrieren. Das Land steckt in einer dramatischen sozialen und wirtschaftlichen Krise – in vielen Landesteilen sind das Bildungssystem und die Gesundheitsversorgung ebenso wie die Versorgung mit Wasser und Strom auf den Stand von Entwicklungsländern gefallen. Große Landesteile sind dem Einfluss der Zentralregierung entzogen, nicht nur die nach Sezessionskriegen de facto abgespaltenen autonomen Republiken Abchasien und Südossetien, sondern auch andere Landesteile wie Adscharien, die unter der Kontrolle geradezu autokratisch agierender Landesfürsten stehen. Im Westen wird das krisengeschüttelte Land deshalb schon des öfteren als ein Beispiel für die Theorie der „failing states“ angeführt. Zu Recht?

Statt einer eindeutigen Antwort sollen im Folgenden einige Aspekte der Krise genauer beschrieben und zugleich Ansätze für potentielle oder bereits sichtbare positive Veränderungen aufgezeigt werden.

Einführung

Krisenzeiten sind für das historische Gedächtnis der Georgier eher die Regel denn die Ausnahme: Das Land, kulturell und politisch über Jahrhunderte Schnittpunkt von Einflüssen und Interessen seiner größeren Nachbarn im Südosten (Persien), Südwesten (Türkei) und Norden (Russland), hat nicht viel Erfahrung mit dem Aufbau und der Verwaltung eines eigenen Staatswesens sammeln können. Bis heute rekurriert die nationale Symbolik und Geschichtsschreibung fast ausschließlich auf die kurze Blütezeit eines unabhängigen georgischen Königreiches unter David dem Erbauer und später seiner Urenkelin, der Königin Tamara, im 12. und 13. Jahrhundert. Nach dessen Niedergang blieb das Land in verschiedene Fürstentümer mit wechselnden Oberherrschaften aufgeteilt, obwohl sich die Georgier, vor allem dank der Zugehörigkeit zur unikalen kartwelischen Sprachgruppe und zur Orthodoxie, das Bewusstsein einer kulturellen Zusammengehörigkeit bewahren konnten.

Erst die schrittweise Annexion des Landes durch das russische Imperium ab 1801 erbrachte die Zusammenführung des heutigen georgischen Territoriums. Der Zusammenbruch des Zarenreiches führte 1919 zur Bildung der ersten unabhängigen Republik Georgien, an deren institutionelle Aufbauleistungen heute kaum mehr erinnert wird. Sie hielt sich knapp drei Jahre, ehe sie als letzte der südkaukasischen Republiken in der üblichen Mischung aus inszeniertem Arbeiteraufstand im Innern und militärischer Eroberung durch die Rote Armee von außen sowjetisiert wurde. Die erzwungene Zugehörigkeit zur Sowjetunion brachte Georgien eine Teilmodernisierung mit z. T. dramatischen Folgen. Die Repressionen unter den Georgiern Stalin und Berija trugen in Georgien vielfach den Charakter persönlicher Abrechnungen mit früheren Gegnern und Kampfgefährten. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren kam es zu massenhaften ethnischen Vertreibungen, denen u. a. Schwarzmeergriechen, Deutsche und Mescheten (unter osmanischem Einfluss islamisierte Georgier) zum Opfer fielen. Dass Stalin von vielen noch heute ohne Bezugnahme auf seine tatsächlichen Taten als „großer Sohn Georgiens“ verehrt wird, macht den Mangel an positiv besetzten politischen Akteuren in der modernen georgischen Geschichte und den Grad an politischer Indifferenz unter großen Teilen der Bevölkerung deutlich.

Die Industrialisierung des Landes im 20. Jahrhundert schuf keine regionalen Produktionskreisläufe, sondern war im Gegenteil auf deren maximale Verflechtung mit anderen Standorten innerhalb der Sowjetunion ausgerichtet. Nach der Auflösung der Sowjetunion und dem Zusammenbruch ihres binnenwirtschaftlichen Systems waren die meist veralteten Industrieanlagen wertlos.

Nationalitätenpolitik in der multiethnischen Sowjetrepublik Georgien (1989 waren nur ca. 70 % der Bewohner Georgier) erfolgte – jenseits der gewaltsamen Exzesse in den vierziger Jahren – per Verwaltungsakt aus Moskau: Um- und Ansiedlungsaktionen von Bevölkerungsgruppen sowie willkürliche Auf- oder Abwertung national-territorialer Autonomien, wie etwa die Schaffung der Sowjetrepublik Abchasien, ihre spätere Abwertung zur Autonomen Republik und ihre Eingliederung in die Sowjetrepublik Georgien entsprangen meist zentralistischem Kalkül im Sinne des „divide et impera“. Unter dem zentralistischen Druck wuchs unter den verschiedenen ethnischen Bevölkerungsgruppen keine Kultur und Praxis des politisch ausgehandelten Interessenausgleichs, sondern eher ein eifersüchtiges Wachen darüber, nicht von Moskau gegenüber den jeweils „anderen“ benachteiligt zu werden.

Das gravierendste Hindernis, den heutigen georgischen Staat zu konsolidieren, ist jedoch die zur Sowjetzeit in grundsätzlicher Opposition zum Staat entstandene, auf die traditionelle patriarchale Sozialordnung gestützte „Nischengesellschaft“. Soziale Versorgung, Klärung zivilrechtlicher und sogar strafrechtlicher Auseinandersetzungen und Ressourcenverteilung übernahm ein dichtgewobenes Netz aus Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen mit eigenen, klar festgelegten Hierarchien. Den als parasitären Fremdkörper empfundenen Staat nach Möglichkeit in den Dienst der eigenen sozialen Netzwerke zu stellen, galt vielen als ehrenvolle Pflicht.

Es waren also schwere Hypotheken, mit denen Georgien 1990/1991 auf einer Welle nationaler Begeisterung seine Unabhängigkeit erlangte. Und wie kaum ein anderer aus der Sowjetunion hervorgegangener Staat erlitt das Land einen fatalen Fehlstart. Mit der Wahl des politisch unerfahrenen, jedoch charismatischen Ex-Dissidenten und Schriftstellers Swiad Gamsachurdia zum Präsidenten verfiel Georgien einer radikal-nationalistischen, autoritären und erratischen Politik, die innerhalb eines Jahres zum Krieg um die Autonome Republik Südossetien und schließlich zum Bürgerkrieg und zur Vertreibung des Präsidenten führte. Gamsachurdias Selbststilisierung als nationaler Befreier und seine Politik der Schaffung eines monoethnischen Georgiens („Georgien den Georgiern“) bestärkten die Autonomiebestrebungen unter der nichtgeorgischen Bevölkerung in den autonomen Republiken Südossetien und Abchasien. Durch ungeschickte, aggressive Politik von Seiten der georgischen Regierung und Einmarsch paramilitärischer georgischer Truppen eskalierten in der Folge beide Konflikte zu offenen Sezessionskriegen – Südossetien vor, Abchasien nach dem gewaltsamen Sturz Gamsachurdias zur Jahreswende 1992 und der Rückkehr Schewardnadses im März 1992. Beide Kriege wurden von georgischer Seite verloren, in beiden Kriegen wurde die Gegenseite von nordkaukasischen Kämpfern und inoffiziellen russischen Verbänden unterstützt. Seit 1992 (Südossetien) bzw. 1994 (Abchasien) sind die Konflikte „eingefroren“ und international überwacht. Nominell weiterhin zu Georgien gehörig, haben sich beide Regionen in ihrer auf russische Unterstützung angewiesenen de-facto-Unabhängigkeit eingerichtet.

Die durch Schewardnadse eingeleitete Phase der Stabilisierung nach den chaotischen ersten Jahren der Unabhängkeit wurde möglich um den Preis der Rückkehr zu sowjetgeorgischen Regierungsmethoden und damit zu den alten Eliten. Bis auf seine Jahre als sowjetischer Außenminister, in denen er als Mitglied des Politbüros weiterhin erheblichen Einfluss auf die Politik in seiner Heimat nahm, und eine kurze Zeit ohne politische Funktion Anfang der neunziger Jahre regiert Schewardnadse das Land seit 1972, als er zum georgischen Parteichef aufstieg.

Innenpolitische Situation 2003

Die innenpolitische Entwicklung in Georgien ist gekennzeichnet durch kalkulierte Korruption als Herrschaftssystem. Entgegen der gebräuchlichen Annahme vom schwachen, zerfallenden Staat muss in Georgien von einem zugleich abwesenden und allgegenwärtigen Staat gesprochen werden.

Einerseits zieht sich der Staat aus zentralen Aufgaben wie der zivilen Regelung von Interessenkonflikten, der Gewährleistung von Sicherheit und Rechtssicherheit, des Aufbaus und der Erhaltung von Infrastruktur, der Organisation von Bildung und sozialer Absicherung zurück. Tatsächlich ist das Staatsbudget dramatisch unterfinanziert, da nach Schätzungen nicht einmal die Hälfte der eigentlich fälligen Steuern gezahlt werden. Der Gestus des schwachen Staates wird daher auch von georgischen Funktionsträgern gegenüber westlichen Kritikern immer wieder hervorgekehrt. Andererseits sind Angehörige der staatlichen Exekutive in alle Bereiche parasitärer Abschöpfungsmöglichkeiten verwickelt. Kein Unternehmen, kein Restaurant, kein Kiosk kann in Georgien bestehen, ohne nicht in Form von stillen Beteiligungen, Sonderabgaben und Schmiergeldern die Ansprüche verschiedener „Autoritäten“ zu bedienen.1

Vor diesem Hintergrund mag es überraschend klingen, dass sich der Großteil der politischen Klasse Georgiens – das Lager des Präsidenten wie das der national-demokratischen Opposition – einmütig und entschieden zur politischen und kulturellen Westausrichtung des Landes bekennt und das Ziel vorgibt, Georgien in einigen Jahren als gefestigte rechtsstaatliche Demokratie mit marktwirtschaftlichem System in die NATO und sogar die EU zu integrieren. Doch gründet diese Orientierung durchaus auf rationalen Erwägungen und sollte von der Europäischen Union (EU) als Chance begriffen werden, auf die weitere Entwicklung des Landes positiv Einfluss zu nehmen.

Der entscheidende Faktor für die Westorientierung Georgiens ist geopolitischer Natur. Im Bestreben, sich gegenüber dem politisch, wirtschaftlich und militärisch übermächtigen Nachbarn im Norden zu behaupten, ist das Land auf starke Verbündete im Westen angewiesen. Dort findet es Unterstützung vor allem auf Seiten der USA, die sich politisch, finanziell und zunehmend auch militärisch in Georgien und Aserbaidschan engagieren, zum einen, um die Ausbeutung und den Export kaspischen Öls durch den Südkaukasus2 abzusichern, zum anderen, um die an die Türkei und den Iran anschließende Region nicht allein russischem Einfluss zu überlassen. In der Hoffnung auf wirtschaftliche und militärische Unterstützung ist Georgien den USA gegenüber sogar zum teilweisen Souveränitätsverzicht3 bereit. Von Russland dagegen wird es in einen täglichen Kleinkrieg um russische Militärbasen, um den Status von Abchasien und Südossetien oder um die Sicherheitslage in dem an Russland angrenzenden Pankisi-Tal gezwungen. Diese Auseinandersetzung mit dem „alten großen Bruder“ mit Hilfe des „neuen großen Bruders“ lässt das Land wie ein letztes Schlachtfeld des Kalten Krieges erscheinen. Es wird nicht zuletzt auf die Initiative der EU ankommen, ob es langfristig gelingt, statt der anachronistischen Ost-West-Konfrontation ein regionales kooperatives Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands und der Türkei zu entwickeln, das die Sicherheit und Unabhängigkeit Georgiens garantiert.

Obwohl der größte Arbeits- und Absatzmarkt für Georgier in Russland liegt, ist der Westen auch wirtschaftlich durch umfassende Hilfsleistungen an Georgien unersetzbar geworden. Von den USA und der EU werden Maßnahmen zur Modernisierung der Infrastruktur, der Energieversorgung und verschiedene Demokratisierungs- und Rechtserziehungsprogramme finanziert. Programme auf intergouvernementaler Ebene müssen sich vielfach den Vorwurf gefallen lassen, der Korruption Auftrieb zu verschaffen. Zugleich sind jedoch viele positive Entwicklungen der letzten Jahre im Rechtssektor und im zivilgesellschaftlichen Bereich durch westliche Unterstützung erheblich vorangebracht worden. Politisch hat die Westorientierung des Landes zu Teilreformen geführt, die nicht selten auf westlichen Druck gegen Widerstand in den eigenen Reihen durchgesetzt wurden. Ein Beispiel dafür sind verschiedene Gesetzesänderungen im Zusammenhang mit der Aufnahme Georgiens in den Europarat im Jahre 1999.4 Zum Teil handelt es sich aber auch nur um Scheinreformen: Die Transparenz von Macht- und Besitzverhältnissen, die Unabhängigkeit der Gerichte und die tatsächliche Gleichheit aller vor dem Gesetz, ein effektives Steuersystem und ein einschneidender Abbau von Bürokratie auf allen Ebenen scheitern bislang am fehlenden Willen der Verantwortlichen. Zu den wichtigsten Reformerfolgen zählt die Einführung eines modernen Straf- und Zivilrechts, wobei der Graben zwischen verfasstem Recht und Rechtswirklichkeit noch nicht überwunden ist. Die Menschenrechtssituation hat sich in den letzten Jahren leicht verbessert; eine Ombudsfrau für Menschenrechte wurde vom Parlament gewählt, die ihrer Funktion unabhängig und mit großem Engagement nachkommt.

In dieser Situation wird den am 02.11.2003 anstehenden Parlamentswahlen besondere Bedeutung beigemessen. Sie gelten als wichtiger Vorlauf für die 2005 stattfindenden Präsidentschaftswahlen, bei denen der Nachfolger für den nicht mehr antretenden Eduard Schewardnadse bestimmt werden muss. Da die Aussichten des Schewardnadse und die Regierung stützenden Wahlbündnisses nicht gut stehen, gilt die Wahl als Testfall, ob Georgien schon reif ist für einen friedlichen, durch Wahlen herbeigeführten Macht- und Elitenwechsel.

Dem Regierungslager stehen hauptsächlich zwei Konkurrenten gegenüber: Zum einen die aus Schewardnadses Bürgerunion ausgescherten sogenannten liberalen Reformer um den früheren Justizminister Michail Saakaschwili und den früheren Parlamentspräsidenten Zurab Schwania, zum anderen die sogenannten „Labouristen“ des populistischen Rechtsanwalts Schalva Natelaschwili, der mit seinen illusionären Versprechungen kostenloser Strom- und Wasserlieferungen derzeit die höchsten Zustimmungsraten erzielt. In der öffentlichen Auseinandersetzung wird jedoch nicht um verschiedene politische Optionen gestritten, das Land aus der Krise zu führen, sondern allein um Personen und deren Bereitschaft, mit dem „System Schewardnadse“ aufzuräumen.

Wie schlecht es um einen demokratischen Grundkonsens unter den politischen Lagern Georgiens bestellt ist, haben die monatelangen Auseinandersetzungen um die Prozedur für die Parlamentswahlen deutlich gemacht: Nachdem frühere Wahlen von internationalen Beobachtern wegen vieler Verstöße gegen demokratische Grundregeln kritisiert worden waren, galt die Verabschiedung eines neuen Wahlgesetzes als dringend erforderlich. Der parlamentarisch und außerparlamentarisch ausgetragene Streit um das neue Wahlgesetz bezog sich jedoch nicht auf prozedurale Fragen, sondern allein auf die Zusammensetzung der zentralen Wahlkommission. Offenbar gehen alle Beteiligten davon aus, dass sich niemand an die gesetzlichen Regelungen halten und eine faire Auszählung des Ergebnisses gewährleisten werde. Die eigentlich entscheidende Frage für tatsächlich repräsentative Wahlen, nämlich die dringend notwendige Neuaufstellung der Wählerlisten, wurde über viele Monate verschleppt. In dem Moment, in dem Schewardnadse schon vom Verzicht auf ein neues Wahlgesetz und von der Durchführung der Wahlen nach dem alten, diskreditierten Gesetz sprach, kam der frühere US-Außenminister James Baker für eineinhalb Tage nach Tbilisi, um einen Brief von Präsident Bush zu überbringen und den zerstrittenen Lagern eine amerikanische Empfehlung zur Wahlprozedur auszusprechen. Zwei Gespräche Bakers – eines mit der Opposition, eines mit Schewardnadse – reichten aus, um alle Streitfragen zu klären. Der Besuch des „Onkels aus Amerika“ demonstrierte auch für georgische Kommentatoren die Verbindung von Liebedienerei gegenüber den USA mit der Unfähigkeit georgischer Politiker, im Interesse des Landes persönliche Ambitionen zurückzustellen und aus eigener Verantwortung zu Kompromisslösungen zu kommen.5

In starkem Kontrast zu diesem recht düsteren Bild der politischen Landschaft steht eine sehr aktive professionelle Szene von Nichtregierungsorganisationen, die sich im Verbund mit einigen Journalisten, einem unabhängigen Fernsehkanal, einer liberalen Tageszeitung und einigen Politikern erheblichen politischen Einfluss erarbeitet hat. Ihr wichtigster Hebel ist die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Botschaften (Europarat, amerikanische und EU-Botschaften, Stiftungen), über die sich Druck auf die an einem guten Image im Westen interessierte Regierung Schewardnadse ausüben lässt. In diesen Nichtregierungsorganisationen, einigen Medien und in den Vertretungen internationaler Organisationen und Stiftungen arbeitet eine gut ausgebildete, motivierte junge Generation von Georgiern an Projekten zur Durchsetzung von Rechtsreformen, zum Kampf gegen Korruption, zur Verteidigung von Religionsfreiheit, zur Schaffung alternativer Bildungsangebote und einer kritischen Öffentlichkeit. Eine besonders wichtige Vorreiterrolle übernehmen nichtstaatliche Initiativen im zwischengesellschaftlichen Dialogprozess mit Abchasien und Südossetien. Im Verhältnis zu Abchasien hat der mit Hilfe westlicher Unterstützer seit Jahren geführte intensive Dialog auf nichtoffizieller Ebene für ein konstruktives Klima gesorgt, in dem gemeinsame Publikations- und Bildungsprojekte möglich geworden sind und Politikvorschläge für die Verantwortlichen erarbeitet werden.

Kirche

Zu einer die Gesellschaft spaltenden Kraft wird in zunehmendem Ausmaß die orthodoxe Kirche. Der religiösen Indifferenz der Mehrheit der Bevölkerung steht auf Seiten der Orthodoxie ein religiöser Fundamentalismus gegenüber, der durch die besondere Stellung der Kirche in Georgien zur Gefahr für das Ansehen Georgiens im Ausland geworden ist.

Die Georgische Orthodoxe Kirche beansprucht den Status einer Nationalkirche. Im gleichen Satz des georgischen Verfassungsartikels, in dem die Religionsfreiheit und die Trennung der Kirche vom Staat festgeschrieben wird, wird die „besondere Rolle der orthodoxen Kirche in der Geschichte Georgiens“ unterstrichen. Wie der Staat sich der Kirche zur symbolischen Umrahmung nahezu aller öffentlichen Handlungen von der Einweihung eines öffentlichen Gebäudes bis zur Eröffnung einer Ölpipeline-Baustelle bedient, so beansprucht die Kirche vom Staat politische Mitsprache und wirtschaftliche Privilegien in umfassendem Sinne. Kirchenpolitik verläuft dabei sehr intransparent. Versuche, allgemeine Daten über Größe von Gemeinden, Biographien von Bischöfen usw. zu erhalten, werden von der Kirche abgeblockt. Besonders verschlossen gibt sich die Kirche in Bezug auf ihren Besitz an Gebäuden und Territorien.

Nachdem Patriarch Ilija II. den Austritt seiner Kirche aus dem Weltkirchenrat verkündet und in einer Predigt öffentlich seine Reue zum Ausdruck gebracht hatte, an dieser „ökumenischen Versammlung“ mitgewirkt zu haben, hat sich der Antiökumenismus und Fundamentalismus innerhalb der Georgischen Orthodoxie radikalisiert.6 Für Schlagzeilen und empörte Reaktionen westlicher Botschaften sorgen dabei besonders die Aktionen des exkommunizierten Priesters Basil Mkalawischwili, der mit breitem Widerhall in den Medien Überfälle auf Zeugen Jehovas, Pfingstgemeinden und auch auf ökumenische Versammlungen von Protestanten und Katholiken organisiert. Bislang hat die orthodoxe Kirche jede öffentliche Distanzierung vermieden und verweigert sich dem Gespräch mit den von den Angriffen bedrohten Gemeinden. So wird die kritische öffentliche Auseinandersetzung mit der Politik der orthodoxen Kirche und dem um sich greifenden nationalistisch-orthodoxen Fundamentalismus für Journalisten und Nichtregierungsorganisationen zunehmend gefährlich.

Ausblick

Trotz der sehr kritischen Beschreibung der innenpolitischen Situation Georgiens, die zum größeren Teil auf Analysen und Einschätzungen georgischer Intellektueller und zum geringeren Teil auf eigenen Beobachtungen des Verfassers beruht, lassen sich positive Ansätze für eine Entwicklung zum Besseren ableiten, die von außen gezielt unterstützt werden sollten. Sie können hier zum Abschluss nur kurz angedeutet werden.

In der Auseinandersetzung mit dem religiösen Extremismus einer einflussreichen Minderheit ist es für demokratische, liberale Kreise und deren westliche Unterstützer sehr wichtig, religiöse Fragen und Wertedebatten nicht zu scheuen und konservativen Kräften der orthodoxen Kirche allein zu überlassen. Wie die Erfahrung einiger georgischer Organisationen zeigt, stoßen Diskussionsangebote zu theologischen, kirchenpolitischen und interkonfessionellen Themen auf großes Interesse unter jüngeren Menschen, die der fremdenfeindlichen Rhetorik religiöser Eiferer überdrüssig sind.

Das Wahljahr 2003 bietet trotz des unschönen Vorwahlkampfes Chancen für eine Veränderung der innenpolitischen Kräfteverhältnisse und eine Teilerneuerung der politischen Elite. Nach der Parlamentswahl wird es darauf ankommen, auf konkrete Sachthemen ausgerichtete Reformkoalitionen zwischen Parlamentariern unterschiedlicher Fraktionen und wichtigen Nichtregierungsorganisationen zu bilden. Nur konkrete politische Erfolge können die Aussichten für eine/n reformorientierte/n Präsidentschaftskandidat/in bei den Wahlen 2005 verbessern.

Der außenpolitischen Westorientierung Georgiens sollte von der EU mit Angeboten zur Kooperation und Aufnahme in Integrationsformen jenseits der Mitgliedschaft begegnet werden. Allerdings sollte projektbezogener, langfristiger Zusammenarbeit mit gemeinsamer, nachhaltiger Implementierung der Vorzug vor reinen Finanzierungszusagen gegeben werden, die zudem an strikte, überprüfbare Auflagen geknüpft sein müssen. Wenn sich die EU aktiv für die wechselhaften politischen Entwicklungen im Südkaukasus interessiert, sich konsequent an ihren eigenen Normen und Werten orientiert und für ein kooperatives Sicherheitssystem im Kaukasus einsetzt, kann aus der geopolitischen Westorientierung Georgiens eines Tages eine innenpolitische Werteorientierung werden.


Fußnoten:


  1. Vgl. die lesenswerte Analyse von Barbara Christophe, Das kaukasische Trugbild, in: Der Überblick. Zeitschrift für Ökumenische Begegnung und int. Zusammenarbeit, 4/2000. – Immer wieder wird auch von Schmuggelgeschäften, Entführungen, Drogen- und Waffenhandel berichtet, die unter dem Schutz oder der direkten Beteiligung höchster Funktionsträger in Behörden und Ministerien abgewickelt werden. ↩︎

  2. Seit Herbst 2002 befindet sich die vor allem von britischen und amerikanischen Ölkonzernen finanzierte Ölpipeline von Baku über Tbilisi zum türkischen Mittelmeerhafen Ceyhan (BTC) im Bau. Sie galt gegenüber anderen Projekten eigentlich als unrentabel, wurde aber aus politischen Gründen von den USA favorisiert. ↩︎

  3. Am 21.03.2003 ratifizierte das georgische Parlament mit großer Mehrheit den so genannten Vertrag zur Verteidigungskooperation mit den USA. Das Dokument gibt amerikanischen Militärs und ihren Angehörigen das Recht, ohne Pass und Visum nach Georgien einzureisen, auf dem gesamten Territorium des Landes Waffen zu tragen, sich überall frei zu bewegen und volle diplomatische Immunität zu genießen. Amerikanische Flug- und Fahrzeuge dürfen georgischen Luftraum und georgisches Territorium ohne Gebühr und ohne Kontrollen benutzen. ↩︎

  4. Der Beitritt Georgiens zum Europarat führte zu einer Reihe wichtiger Gesetzesänderungen, wie etwa der Überführung der Zuständigkeit für Gefängnisse vom Innen- in das Justizministerium. Allerdings wurden einige der Neuregelungen nach erfolgtem Beitritt wieder rückgängig. ↩︎

  5. Im August 2003 zogen die Regierungsfraktionen ihre Zustimmung zu einer paritätischen Besetzung der zentralen Wahlkommission wieder zurück. ↩︎

  6. Auch die für September 2003 vorgesehene Unterzeichung eines Konkordats zwischen Georgien und dem Hl. Stuhl scheiterte am Widerstand der Georgischen Orthodoxen Kirche. ↩︎