Die katholische Kirche im Leben des demokratischen Polens

aus OWEP 2/2000  •  von Jarosław Gowin

Jarosław Gowin ist Publizist und seit 1994 Chefredakteur der Krakauer Monatszeitschrift „Znak“.

Zwei Szenarien

Als im Sommer und Herbst 1989 – zuerst infolge der teildemokratischen Wahlen in Polen, später unter den Trümmern der Berliner Mauer – die kommunistische Utopie in Europa verlöschte, da blühte die römisch-katholische Kirche in Polen auf wie noch nie in ihrer Geschichte. Über 95% der Polen erklärten sich als gläubig (die erdrückende Mehrheit davon waren Katholiken). Jeden Sonntag füllten die Massen der Gläubigen dicht gedrängt die Gotteshäuser, die wie Pilze nach dem Regen in den 80er Jahren emporgewachsen waren, als nach Jahrzehnten der Verfolgung und Restriktion das kommunistische Regime seine Kirchenpolitik liberalisiert hatte. Die Hierarchie verband in geschickter Weise die Unterstützung für die Freiheitsbestrebungen der Polen mit dem Bemühen, die revolutionären Stimmungen zu mildern. Damit hatte sie sich in den Endjahren des Kommunismus eine fast unbezweifelbare Autorität in der Gesellschaft erworben. Systematisch wuchs die Zahl der Priesterberufe, und als ein (wegen der staatlichen Zensur) der Gesellschaft zuvor wenig bekannter polnischer Priester auf den Stuhl Petri gelangte, da sahen die Polen in ihm nicht nur das Oberhaupt der Kirche, sondern auch den Führer der Nation. Kurz gesagt, Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre war Polen das religiöseste Land der euroatlantischen Zivilisation. (Das bestätigten die Ergebnisse soziologischer Forschungen von Prof. P.M. Zulehner.) Diese Tatsache weckte bei einem Teil des Klerus und der Laien in den politischen Eliten die Hoffnung, das postkommunistische Polen werde zum Modell für das laizisierte Europa und zum Sauerteig der „Neu-Evangelisierung“, zu der Johannes Paul II. immer wieder aufrief.

Diejenigen, die mit solcher Hoffnung (und manchmal auch mit Triumphgefühl) in die Zukunft schauten, ignorierten jedoch die seit langem von (auch katholischen) Religionssoziologen formulierten Warnungen. Wissenschaftler, die sich den polnischen Katholizismus aufmerksamer ansahen, entdeckten unter seiner kristallenen Oberfläche viele Risse und Sprünge. Die aus der bäuerlich-volksnahen Frömmigkeit herrührende und mit dem Gefühl der nationalen Identität stark verbundene Religiosität der Polen war ebenso eine Massen- wie eine flache Erscheinung. Zwei Drittel der Katholiken konnte man als „unbewusste Häretiker“ bezeichnen, die nicht einmal die grundlegenden Glaubenswahrheiten kannten. Zwischen der rituellen Frömmigkeit und der täglichen Lebenspraxis gab es einen tiefen Abgrund; dramatischster Ausdruck dafür war die hohe Zahl der Abtreibungen. Die Polen nahmen sich nicht nur die Prinzipien der katholischen Sexual- oder Familienethik nicht zu Herzen, sondern ebenso wenig die Sozialethik der Kirche: was die Einstellung zur Arbeit, zum Eigentum oder zum Recht betrifft, so waren sie eher Schüler des realen Sozialismus als Erben der großen Tradition des christlichen Ethos. Die Kirche, die in den Zeiten des Kommunismus an eine „belagerte Festung“ erinnerte, eignete sich die Lehre des II. Vatikanischen Konzils mit Verspätung und selektiv an. Sie war nicht so sehr eine Gemeinschaft von Laien und Klerikern als eine mächtige, bürokratisierte und klerikalisierte Institution. In dieser Lage neigten viele äußere Beobachter (aber auch ein Teil der katholischen Eliten, die die Massenreligiosität der Polen kritisch beurteilten) zu folgender Annahme: mit der Rückkehr Polens in den Blutkreislauf der westlichen Zivilisation werde sich in der Heimat Johannes Pauls II. das aus dem Westen bekannte Szenario der Säkularisierung wiederholen und unter dem Einfluss des freien Marktes, der Demokratie, des weltanschaulichen Pluralismus bzw. der Massenkultur würden die Kirchen veröden.

In der babylonischen Gefangenschaft der Politik

Das Scheitern des Kommunismus beseitigte die jahrzehntelangen Barrieren, die Katholiken den Zugang zum öffentlichen Leben (besonders zur Politik) versperrten. Es war natürlich, dass es in einem Lande, in dem die Katholiken 95% der Bevölkerung darstellen und die Gläubigen ein halbes Jahrhundert entweder zur Kollaboration oder zum Schweigen verurteilt waren, nach Beseitigung der Beschränkungen von Menschen wimmelte, die ostentativ ihre Anhänglichkeit an die Kirche bekundeten. Am sichtbarsten geschah dies auf der politischen Bühne, auf der mehrere Dutzend katholische Gruppierungen auftauchten, von denen ein Teil sich radikal rechter Losungen bediente, wobei man vor Demagogie und aggressiver Rhetorik nicht zurückschreckte und auch die Idee eines „dritten Weges“ zwischen Demokratie und Totalitarismus ins Spiel brachte. In Reaktion auf diese Erscheinung begann ein Teil der öffentlichen Meinung (insbesondere bei der laizistischen Intelligenz) Befürchtungen zu hegen, man wolle Polen zum Konfessionsstaat machen.

Diese Ängste wurden durch das Verhalten der institutionellen Kirche potenziert. Aus der kommunistischen Zeit hatte ein großer Teil des Klerus die Gewohnheit mitgebracht, sich politisch zu engagieren (was seinerzeit gleichbedeutend war mit einer Verteidigung der grundlegenden Menschenrechte). Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Bedeutung politischer Aktivität im totalitären Staat und in einem demokratischen Staat machte man sich nicht rechtzeitig bewusst. Und so unternahmen die Bischöfe Anfang der 90er Jahre eine Reihe umstrittener Schritte: über die Köpfe der Gesellschaft hinweg übten sie Druck auf Vertreter der Staatsmacht aus, um für die Kirche gewisse Privilegien zu erlangen (z.B. „außer der Reihe“ Radiofrequenzen für katholische Rundfunkstationen zu erhalten oder eine Rückgabe von Kirchenvermögen durchzusetzen, bevor es ein Gesetz über die Reprivatisierung gab). Sie machten Druck, dass in Gesetzen über das Schulwesen und die Massenmedien die Pflicht zur Respektierung des christlichen Wertesystems festgeschrieben werde, sie unterstützten Parteien und rechte Kandidaten bei den schnell aufeinander folgenden Wahlen usw. Dabei missachteten sie die Warnungen katholischer Intellektueller, die Kirche könnte, wenn sie nach den „reichen Mitteln“ greife, das verlieren, was ihre wahre Stärke darstelle: Autorität und Glaubwürdigkeit. Die Richtigkeit dieser Warnungen sollte sich sehr schnell bestätigen: Meinungsumfragen ergaben, dass die Popularität der Kirche heftig abnahm und die kirchliche Institution allmählich als eine Art politische „Lobby“ angesehen wurde. So bewahrheitete sich die Voraussage des Nestors der katholischen Intelligenz in Polen, Stanisław Stommas, die Kirche werde in der „babylonischen Gefangenschaft“ der Politik versinken.

Der kalte Religionskrieg

Das Problem der politischen Aktivität der Kirche und der Grenzen religiöser Präsenz im öffentlichen Leben des demokratischen Staates polarisierte stark sowohl die Kirche selbst wie auch die ganze öffentliche Meinung. Innerhalb der Kirche kam es zum offenen Konflikt zwischen der Hierarchie und dem liberal eingestellten Teil der katholischen Intelligenz. Es lösten sich auch die in den 70er Jahren mit solcher Mühe geknüpften Bande der Zusammenarbeit zwischen Kirche und antikommunistisch eingestellter laizistischer Intelligenz.

Das unglückliche politische Engagement des Klerus resultierte aus einem Mangel an demokratischen Gewohnheiten und aus dem Missverständnis über das Wesen der Demokratie (aber auch aus der ungenügenden Aneignung der Soziallehre des Konzils). Doch die laizistischen Kreise und große Teile der weiteren öffentlichen Meinung, die nach der Zeit des Totalitarismus gegenüber allen Formen ideologischen Drucks empfindlich (ja überempfindlich) geworden waren, sahen die politische Aktivität der Kirche als bewusstes Streben nach Aufbau eines „katholischen Staates“. Jetzt gab es Vorwürfe an die Adresse der Kirche, sie sei „Feind der Freiheit“. Andererseits nahmen konservativ eingestellte kirchliche Kreise diese Vorwürfe als Fortsetzung des programmatischen Kampfes gegen das Christentum – der anfängliche Triumphalismus machte schnell einem Gefühl der Bedrohung Platz. Auf beiden Seiten der Barrikade kamen Extremisten zu Wort. Die Welle des Antiklerikalismus kollidierte mit der Welle des „politischen Katholizismus“ in solcher Schärfe, dass Kommentatoren die Lage in Polen als „kalten Religionskrieg“ zu bezeichnen begannen. Die Zukunft sollte zeigen, dass in dieser Bezeichnung sehr viel Übertreibung steckte, dass sie aber recht gut die Anfang der 90er Jahre herrschenden Stimmungen wiedergab.

Die weltanschaulichen Streitigkeiten jener Jahre verflochten sich mit dem Kampf um die Macht. Ein Teil der rechten Politiker instrumentalisierte die Autorität der Kirche zur Bekämpfung der liberalen Strömung im einstigen Lager der „Solidarność“, jener Strömung, die sich um die Regierung von Tadeusz Mazowiecki und Leszek Balcerowicz konzentrierte. In den Machtkampf schaltete sich jedoch sehr schnell ein dritter Bewerber ein: die Postkommunisten, die im „kalten Religionskrieg“ die Gelegenheit sahen, ihre Position wiederherzustellen. Sie nutzten die Unzufriedenheit der Polen im Zusammenhang mit den „Kosten“ der radikalen Wirtschaftsreform und gingen mit antiklerikalen Losungen hausieren (die ehemaligen kommunistischen Apparatschiks gingen so weit, die Rolle der katholischen Kirche im demokratischen Polen mit der Rolle der... kommunistischen Partei in der Zeit des realen Sozialismus zu vergleichen!), und so gewannen sie die Parlamentswahlen 1993 und zwei Jahre später auch die Präsidentschaftswahlen. Indem sie sich als Verfechter einer weltanschaulichen Neutralität des Staates darstellten, nutzten sie geschickt so strittige Fragen wie das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch oder das Konkordat, um ihr traditionelles Wahlvolk aus dem ehemaligen kommunistischen Apparat um antiklerikal eingestellte Bevölkerungskreise zu erweitern.

Die Rückkehr der Postkommunisten an die Macht stellte für die liberalen Kreise und für die Kirche einen moralischen Schock dar. Im Episkopat gewannen allmählich jene die Oberhand, die dafür eintraten, dass die Kirche sich aus dem politischen Kampf zurückzog und sich auf pastorale Aufgaben konzentrierte. Großen Einfluss auf die veränderte Einstellung der Kirche übte Johannes Paul II. aus. Obwohl er seine Enttäuschung über die Haltungen der Polen nicht verhehlte und sie streng ermahnte, nicht dem Bazillus des Konsumismus oder historischer Amnesie zu erliegen, bedeutete er zugleich den Bischöfen unmissverständlich, sie sollten sich von der Politik fern halten. Eine positive Entwicklung machten auch die katholischen Parteien durch, die nach einer Serie von Wahlniederlagen sich integrierten und eine gemäßigtere politische Linie einschlugen, wobei sie das Modell der freien Marktwirtschaft und eine prowestliche Richtung in der Außenpolitik akzeptierten. Als sie nach den gewonnenen Parlamentswahlen 1997 eine Regierungskoalition mit der liberalen Freiheits-Union (UW) schlossen, besiegelte dies das Ende des „kalten Religionskrieges“.

Schützengräben des Fundamentalismus

Die Konflikte vom Anfang der 90er Jahre hinterließen jedoch in der Kirche ein dauerhaftes Wundmal. Dies zeigte sich, als sich innerhalb der katholischen Gemeinschaft eine starke fundamentalistische Strömung herausbildete. Sie kristallisierte sich um den Sender Radio Maryja, den der charismatische Redemptoristenpater Rydzyk leitete. Dieser Typ eines volksnahen Predigers aus dem 19. Jahrhundert schaffte es, um sein Radio eine mehrere Millionen umfassende Hörerschar zu versammeln, die einerseits durch eine inbrünstige und sehr traditionelle Volksfrömmigkeit, andererseits durch die Überzeugung zusammengeschweißt wird, dass Freiheit und Demokratie sich als giftige Frucht erwiesen hätten. Wie alle Fundamentalisten in der Welt sehen die Anhänger P. Rydzyks die moderne Zivilisation als tödliche Bedrohung für die Religion an; nach ihrer Meinung fällt Polens Kirche einer erneuten totalitären Unterdrückung zum Opfer, die nicht mehr von kommunistischer, sondern von „freimaurerisch-liberaler“ Ideologie inspiriert ist.

Die katholischen Fundamentalisten begegnen dem Kapitalismus mit Unwillen, sie bezweifeln das Prinzip von der weltanschaulichen Neutralität des Staates und widersetzen sich der Integration Polens in die westlichen Strukturen (um die antiwestlichen, insbesondere antideutschen Stimmungen anzuheizen, verweisen sie bisweilen auf das „slawische“ Russland als natürlichen Verbündeten Polens). Mitte der 90er Jahre entwickelte sich die „Familie von Radio Maryja“, wie P. Rydzyk seine Bewegung nannte, so dynamisch, dass es schien, als könnte sie eine zentrale Stellung innerhalb der Kirche einnehmen; die Hörer des Senders bildeten eine disziplinierte Gruppe, die aufopferungsvoll karitative Hilfe z.B. für die Opfer der Überschwemmungskatastrophe leistete und ebenso eifrig Politiker unterstützte, die radikal populistische Losungen verkündeten. Die Politisierung der Religion sowie die Radikalität des politischen Programms von Radio Maryja stießen jedoch auf den Unwillen der kirchlichen Hierarchie, die nach schmerzhaften Erfahrungen vom Anfang des Jahrzehnts bemüht war, das Bild der Kirche als überpolitische geistige Autorität wiederherzustellen. Als P. Rydzyk zur Bestürzung der Bischöfe es ablehnte, sich ihren Weisungen unterzuordnen, begann man offen von der Gefahr eines Schismas zu sprechen. Die Lage wurde so ernst, dass sie den Papst selbst zur Intervention bewog. Seine deutliche Aufforderung, Radio Maryja solle sich dem Willen der Bischöfe unterordnen führte dazu, dass sich der fundamentalistische Einfluss verringerte. Auf der Landkarte des polnischen Katholizismus nehmen die Anhänger von Radio Maryja dennoch einen festen Platz ein.

Das Fiasko der Säkularisierung

Der Streit um das politische Engagement der Kirche und die damit zusammenhängenden wachsenden antiklerikalen Stimmungen schienen anzukündigen, dass sich das am Beginn des Artikels umrissene Szenario der Säkularisierung verwirklichen werde. Ergebnisse mannigfaltiger soziologischer Untersuchungen beweisen jedoch, dass nichts dergleichen geschah. Die Krise zu Beginn der 90er Jahre war eine Vertrauenskrise gegenüber der kirchlichen Institution, keine Krise des Glaubens. Besonders bemerkenswert sind Daten, die eines der bedeutendsten polnischen Meinungsforschungsinstitute lieferte: es analysierte die religiösen Einstellungen der Polen in den Jahren 1986-1999. In dieser Zeit wandelte sich in Polen fast alles: das politische, das wirtschaftliche System, die kulturellen Paradigmen... Als einzige Sphäre, die Veränderungen widerstand, erwies sich die Religion. Wie in kommunistischer Zeit deklarieren sich über 95% der Bevölkerung als Gläubige, die Hälfte praktiziert regelmäßig, die hohe Zahl der Priesterberufe und die Popularität vielfältiger traditioneller Frömmigkeitsformen (wie Wallfahrten) hält sich.

Daraus kann man zwei sehr wesentliche Schlüsse ziehen. Erstens, Säkularisierung (verstanden als Entfernung von der Kirche und Annahme einer areligiösen Weltanschauung) ist kein universaler Prozess, der unlösbar mit der modernen Zivilisation verbunden ist. Sie ist eher eine lokale Erscheinung, die hauptsächlich Westeuropa und einen Teil seiner ehemaligen Kolonien umfasst. Die Vitalität großer außerchristlicher Religionen wie auch die Vitalität des Christentums ist in solchen Ländern wie USA, Polen oder Irland nicht das Ergebnis einer zivilisatorischen „Verspätung“; im Gegenteil, sie kann Prozesse ankündigen, die in einigen Dutzend Jahren in Westeuropa auftauchen werden.

Zweitens zeigte sich, dass die traditionelle Volksfrömmigkeit der Polen viel dauerhafter ist, als zahlreiche ihrer Kritiker (unter ihnen der Verfasser) annahmen. Als Stärke des polnischen Katholizismus erwies sich seine Verwurzelung in der Tradition, in der Alltagskultur und in den Bräuchen. Der Glaube an die Existenz Gottes ist in Polen eine kulturelle Selbstverständlichkeit. Die Religiosität des Durchschnittspolen bleibt selektiv, inkonsequent, intellektuell unvertieft – und trotzdem sehr dauerhaft und unempfänglich für eine Erosion! Mit Sicherheit hat das Pontifikat Johannes Pauls II. großen Einfluss darauf, dass Polens Kirche aus dem Zusammenprall mit der Moderne nicht geschwächt hervorging. Doch darf man die Verdienste nicht schmälern, die sich die große Schar der wenig gebildeten, aber eifrigen und dem Dienst an Gott und an den Menschen ergebenen Dorfpfarrer, Ordensfrauen und –männer, schließlich die Bischöfe selbst erworben haben, die die moderne Welt so schwer verstehen. Mit ihrem in Zeiten der Verfolgung geprüften Glauben, der sich an ein paar grundlegende Wahrheiten hielt, verschmolzen sie unlösbar mit der Landschaft der polnischen Dörfer und Städte und überdauern dort in der Epoche des Internets und der Globalisierung...

Auf längere Sicht steht jedoch außer Zweifel: die Insel, die der Massenkatholizismus der Polen auf der religiösen Landkarte des modernen Europas bildet, wird den Wellen der Säkularisierung nur unter der Bedingung standhalten, dass sie – wie mit einem Wellenbrecher – mit einem Archipel vertiefter, konsequenter, von der Lehre des II. Vatikanischen Konzils inspirierter und vom Geist der Evangelisierung belebter Religiosität umgeben wird. Ein Signal dafür, dass eine solche Religiosität in Polen auftaucht, ist die schnelle Entwicklung neuer Bewegungen in der Kirche, die hauptsächlich Jugendliche und Intellektuelle um sich scharen, ferner vielfältige Initiativen mit dem Ziel, die kulturschöpferische Rolle von Pfarreien und Orden zu wecken.

Eine Renaissance öffentlicher Religion

Zweifellos wird Polen nicht – womit manche Kirchenleute (einschließlich, wie es scheint, Johannes Paul II.) nach dem Sturz des Kommunismus rechneten – zu einem Neuen Jerusalem, von dem aus die Re-Evangelisierung des Alten Kontinents beginnt. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Erfahrung des polnischen Katholizismus für die Gesellschaften und Kirchen des Westens nicht lehrreich sein kann. Besonders wichtig in dieser Hinsicht ist die Frage des Einflusses, den die Religion auf das öffentliche Leben hat. Die Verwicklung der institutionellen Kirche in den politischen Kampf am Anfang des zu Ende gehenden Jahrzehnts sowie das Auftauchen einer starken fundamentalistischen Strömung schienen die recht verbreitete Meinung zu bestätigen, dass die Religion (und insbesondere die ihrer Natur nach hierarchische römisch-katholische Kirche) eine Bedrohung für die Demokratie darstellen. Doch aus der Perspektive des ganzen Jahrzehnts sieht man deutlich, dass die Wirklichkeit ganz anders aussieht.

Erstens stützte die institutionelle Kirche, trotz anfänglichen Schwankens, den Prozess der Modernisierung Polens entschieden. In seinen Erklärungen rief der Episkopat mehrfach die Gesellschaft auf, die Mühen der wirtschaftlichen „Schocktherapie“ eines Balcerowicz geduldig zu ertragen, er bemühte sich Streiks zu verhindern, erinnerte daran, dass Steuernzahlen eine moralische Pflicht ist u.ä. Wider die berühmte These Max Webers erwuchs in Polen das kapitalistische Ethos aus dem Geist des Katholizismus. Die Kirche sprach sich auch entschieden und von Anfang an für eine Dezentralisierung des Staates und eine verstärkte regionale Selbstverwaltung aus, darin sah sie die Realisierung eines Hauptprinzips der katholischen Sozialethik, des Subsidiaritätsprinzips. Mit größeren Widerständen fand sie sich mit der liberalen demokratischen Ordnung ab; indem die Bischöfe jedoch die Pflicht des Staates unterstrichen, die Prinzipien des Naturrechts in Rechnung zu stellen, trugen sie zur Entfaltung der seriösen Debatte über die ethischen Fundamente der polnischen Demokratie bei. Mitte der 90er Jahre schließlich gab die (vom Papst dazu mobilisierte) kirchliche Hierarchie ihre eindeutige Unterstützung für die Bemühungen Polens, der EU beizutreten.

Eine noch wichtigere Evolution vollzog sich in den Einstellungen der katholischen Laien. Obwohl sie nach 50 Jahren totalitärer Unterdrückung in die demokratische Wirklichkeit geworfen wurden, ohne bürgerliches Engagement gewohnt zu sein, lernten sie sehr schnell, Verantwortung für das öffentliche Leben zu übernehmen. Die Verfasser des bereits angeführten Berichts über die Religiosität der Polen schrieben: „Es muss deutlich unterstrichen werden, dass das bürgerliche Engagement mit dem Niveau des Engagements für religiöses Praktizieren erheblich wächst. Je mehr die Polen mit der Kirche verbunden sind, je häufiger sie am religiösen Kult teilnehmen, umso bereitwilliger wirken sie im gesellschaftlichen Bereich... Man kann sagen, dass die Religiosität der Polen die bürgerlichen Haltungen, die aktive Teilhabe an den im Lande vor sich gehenden demokratischen Veränderungen deutlich begünstigt.“

Nach anderen Untersuchungen mindert religiöses Engagement die Unterstützung für extremistische Gruppierungen, eine Tatsache, die der Meinung über die fundamentalistische Färbung des polnischen Katholizismus widerstreitet.

Die zitierten Feststellungen der Soziologen zeigen: wir haben es in Polen mit einer Erscheinung zu tun, die sich seit fast 30 Jahren in verschiedenen Weltregionen beobachten lässt: mit einer Renaissance der öffentlichen Religion. Sie nimmt eine sehr unterschiedliche Gestalt an... Ein Zeichen dessen war die stark marxistisch eingefärbte südamerikanische Befreiungstheologie und die konservative Bewegung der „schweigenden Mehrheit“ in den Vereinigten Staaten, der islamische Terrorismus und die friedliche Revolution der „Solidarność“ in Polen... Die öffentliche Religion kann also eine fundamentalistische und demokratiefeindliche Gestalt annehmen, aber auch die Rolle eines ethischen Fundaments der Demokratie erfüllen.

Anscheinend kann sich dieser letzte Fall in Polen verwirklichen. Der polnische Katholizismus hat sich – bei seiner ganzen Differenzierung, mit den komplizierten Traditionen, aus denen er erwächst, bei allem Ballast der aus kommunistischer Zeit mitgebrachten schlechten Gewohnheiten und Traumata – als Bundesgenosse der Freiheit, der Demokratie und der Zivilgesellschaft erwiesen. Hunderte katholischer Bewegungen, Organisationen und Vereinigungen helfen ihren Mitgliedern nicht nur, den Weg zu Gott und innere Ordnung wieder zu finden, sondern sie stellen auch ein Übungsfeld für bürgerliches Engagement dar. In Tausenden Pfarreien entwickeln sich Zehntausende vielfältiger karitativer, erzieherischer, kultureller und selbstverwaltender Initiativen... Dieses immer dichtere Netz von Hilfsgruppen, Bibliotheken, Pfarrzeitungen, Kulturräumen für Jugendliche, von Chören etc. etc., das ist eine Prägeform der Zivilgesellschaft. An der Schwelle des 21. Jahrhunderts darf man die Hoffnung äußern, es werde in Polen gelingen, eine Zivilgesellschaft zu errichten, die aus christlichen Traditionen erwächst.

Aus dem Polnischen übersetzt von Wolfgang Grycz.