Die Erweiterung der Europäischen Union nach Osten – eine Herausforderung zur Integration des Ostens

aus OWEP 1/2001  •  von Johannes Oeldemann

Dr. Johannes Oeldemann ist Referent bei RENOVABIS und Redakteur dieser Zeitschrift.

Als 1989 die Berliner Mauer fiel und in den folgenden zwei Jahren sämtliche kommunistischen Regime in Mittel- und Osteuropa zusammenbrachen, war in ganz Europa die Hoffnung spürbar, dass nach Jahrzehnten des Kalten Krieges nun die künstliche Trennungslinie, die unseren Kontinent in eine West- und eine Osthälfte teilte, überwunden werden könnte. Manche Politiker schwärmten vom „Sieg des Westens“ über die totalitären Systeme des Ostens. Doch eine solche Auffassung bedeutet nicht mehr und nicht weniger als die Fortsetzung der Rhetorik des Kalten Krieges unter neuen Vorzeichen. Der Fall der Mauer war kein Sieg des Westens über den Osten, er war nicht das Ergebnis des geschickten Agierens der politischen Elite. Der Fall der Mauer war vielmehr ein Sieg der Menschen im Osten, die sich aus eigenem Antrieb von den ihnen auferlegten Fesseln befreiten.

Auch wenn sie nicht die treibenden Kräfte waren, so reagierten die Politikerinnen und Politiker doch recht schnell auf die gesellschaftlichen Aufbrüche in Mittel- und Osteuropa und unterstützen die neuen demokratischen Regierungen. In diesem Zusammenhang ist die vom Europäischen Rat in Kopenhagen 1993 gegebene Zusage zu sehen, dass die bislang mit der Europäischen Union (EU) assoziierten mittel- und osteuropäischen Länder Mitglieder der EU werden können, sobald sie in der Lage sind den mit einer Mitgliedschaft verbundenen Verpflichtungen nachzukommen.

Inzwischen sind die Verhandlungen der EU mit den Beitrittskandidaten in eine entscheidende Phase getreten. Gleichzeitig treten die Schwierigkeiten, die sich einerseits durch die geforderte Anpassung der wirtschaftlichen Strukturen in den Beitrittsländern an die EU-Standards ergeben und andererseits durch die nur schleppend vorankommende innere Reform der Europäischen Union bedingt sind, immer deutlicher zu Tage. Angesichts dieser Probleme stellt sich im Blick auf die Zielsetzung des gesamten Integrationsprozesses die Frage: Wächst Europa wirklich zusammen oder dehnt sich die (West)Europäische Union nur ein Stück weiter nach Osten aus? Geht es um die Erweiterung eines erfolgreichen Wirtschaftsraumes oder um die (Wieder)Vereinigung der durch die Kriege des 20. Jahrhunderts künstlich getrennten, aber historisch und kulturell zusammengehörenden Völker Europas? Die Gefahr, vor der der europäische Integrationsprozess gegenwärtig steht, ist die einer Erweiterung nach Osten ohne Integration des Ostens.

Dass diese Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen ist, zeigt ein kurzer Blick auf den Beginn des Erweiterungsprozesses. Was veranlasste die westeuropäischen Staats- und Regierungschefs 1993 in Kopenhagen zu dem Versprechen, dass „alle Länder Mittel- und Osteuropas, die dies wünschen, Mitglieder der Europäischen Union werden können“1? Im Rückblick lassen sich zwei grundlegende Motive ausmachen: Zum einen die Stützung der jungen Reformdemokratien, von denen man sich eine Stabilisierung der politischen Lage in unseren östlichen Nachbarstaaten erhoffte; zum anderen die Unterstützung der wirtschaftlichen Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa, um die prekäre Versorgungslage in vielen Ländern des kommunistischen Machtbereichs zu verbessern und so den Migrationsdruck auf Westeuropa zu verringern. Politische und wirtschaftliche Motive standen somit am Beginn des Erweiterungsprozesses, in den inzwischen zehn mittel- und osteuropäische Staaten (Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Bulgarien) sowie Malta, Zypern und die Türkei einbezogen sind.

Mit dieser Ausgangslage korrespondieren die Kriterien, die die Beitrittskandidaten erfüllen müssen. Auch hier handelt es sich durchweg um politische und wirtschaftliche Kriterien, wie der jüngste, im November 2000 publizierte Bericht der EU-Kommission über die Fortschritte der Bewerberländer auf dem Weg zum EU-Beitritt dokumentiert.2 Wenn man sich jedoch neben der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in Mittel- und Osteuropa auch die gesellschaftlichen Transformationsprozesse der vergangenen zehn Jahre vor Augen hält, stellt sich dem Leser dieses umfangreichen Dokuments die Frage, ob die im Bericht genannten und bei den Beitrittsverhandlungen thematisierten Kriterien wirklich der einzige Maßstab dafür sind, ob ein Land der Europäischen Union angehören kann und soll.

Warum wurde 13 europäischen und an Europa angrenzenden Staaten der Status eines Beitrittskandidaten gewährt? Und warum haben die übrigen, nochmals 13 europäischen Staaten (auf dem Balkan, in Osteuropa und – nicht zu vergessen – Norwegen und die Schweiz) nicht diesen Status? Gibt es hierfür objektive Kriterien oder ist die getroffene Auswahl mehr oder weniger willkürlich? Wenn es keine willkürliche Entscheidung ist, wer zu den Beitrittskandidaten gehört, dann legt sich die Vermutung nahe, dass es neben den in Kopenhagen benannten „offiziellen“ Kriterien (Achtung der Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Schutz der Minderheiten, funktionierende Marktwirtschaft, Fähigkeit zur Übernahme der mit der EU-Mitgliedschaft verbundenen Pflichten) noch andere, verborgene Kriterien gibt, die – bewusst oder unbewusst – den Erweiterungsprozess determinieren – und begrenzen.

Verborgene Kriterien im Erweiterungsprozess

Ein erstes, sicherlich bewusstes Kriterium ist das geographische Kriterium. So erfüllen zum Beispiel die USA und Kanada sicherlich die meisten, wenn auch nicht alle Kriterien (Beispiel: Abschaffung der Todesstrafe), die den EU-Beitrittskandidaten auferlegt werden. Dennoch denkt niemand in Amerika und in Europa an eine Integration dieser Staaten in die EU – aus geographischen Gründen und im Blick auf die weltwirtschaftliche Balance. Und was wäre, wenn zum Beispiel Südkorea oder, etwas näher liegend, Kasachstan oder Ägypten den Beitritt in die EU beantragen würden? Auch hier würde vermutlich schnell das geographische Kriterium ins Feld geführt. Dennoch ist dieses Kriterium kein ausschließliches, wie das Beispiel Türkei zeigt, die geographisch gesehen fast vollständig zum asiatischen Kontinent gehört. Gibt es also neben dem geographischen noch andere, unausgesprochene Kriterien, die den Erweiterungsprozess determinieren?

Im Blick auf die Geschichte unseres Kontinents legt sich das historische Kriterium nahe. Allerdings stellt sich hierbei das Problem, welcher Bezugspunkt in der Geschichte für die Bestimmung der heutigen Grenzen Europas gewählt werden soll. Kann es das Römische Reich sein, das sich damals mit der „Oikumene“, der ganzen bewohnten Erde identifizierte? Dies wäre zumindest ein Argument für die Einbeziehung der Türkei, deren Territorium zum Kernbereich des Römischen Reiches gehörte. Doch dieses umfasste auch die nordafrikanischen Länder, die aus geographischen und politischen Gründen in nächster Zeit wohl nicht zu den Beitrittskandidaten zählen werden. Auch andere Bezugspunkte in der Geschichte – die frühmittelalterlichen Reiche der Merowinger und Karolinger, die spätmittelalterlichen Herrschaftsbereiche der Frankenkönige im Westen und der Palaiologenkaiser im Osten, schließlich die Donaumonarchie und das Preußische Königreich in der Neuzeit – bieten keine eindeutigen Ansatzpunkte für eine Bestimmung der Länder, die zur Europäischen Union gehören können und sollen. Der Verlauf der Staatsgrenzen schwankt im Laufe der Geschichte so sehr, dass daraus keine eindeutigen Schlussfolgerungen für die heutigen Grenzen der EU gezogen werden können.

Es gibt jedoch ein drittes Kriterium, das eng mit der Geschichte der Völker Europas verbunden ist: das kulturelle Kriterium. Dass der europäische Kulturkreis und die mit ihm verbundenen Werte eine wesentliche Grundlage der Europäischen Union darstellen, ist inzwischen wohl unumstritten – selbst bei den meisten unserer eher pragmatisch denkenden Politikerinnen und Politikern. Der Bezug auf die gemeinsamen europäischen Werte findet sich sowohl in der Präambel der im Dezember 2000 auf dem EU-Gipfel in Nizza feierlich proklamierten „Charta der Grundrechte“3 als auch im Bericht der EU-Kommission über den Stand der Beitrittsverhandlungen. Die entscheidende Frage ist daher auch weniger, welche die gemeinsamen europäischen Werte sind – obwohl man auch hier sicher noch das eine oder andere Streitgespräch führen könnte –, als vielmehr, was die diese Werte normierende Grundlage der europäischen Kultur ist. Der in der Präambel der Grundrechtscharta gefundene Formelkompromiss, der den Bezug auf das „geistig-religiöse Erbe“ im deutschen Text und das „patrimoine spirituel“ im französischen Text gleichberechtigt nebeneinander stehen lässt, ist ein deutlicher Beleg für die große Unsicherheit und Unentschiedenheit in dieser Frage.

Das christliche Erbe Europas

Im Blick auf die Geschichte und die Haltung der Kirche gegenüber der Aufklärung wäre es sicherlich überheblich, die Geltung der universalen Menschenrechte als eine Errungenschaft des Christentums zu bezeichnen. Aber wären Humanismus und Aufklärung, die die Grundlage für das moderne Menschenrecht bilden, denkbar ohne ihre geistigen Wurzeln im Christentum? Lässt sich die Achtung der Menschrechte allein mit der Achtung der Freiheit des Anderen begründen? Oder bedarf sie nicht doch der Rückbindung an eine unveräußerliche Menschenwürde, die sich letztlich nur aus dem Gottesbezug des Menschen begründen lässt? Wenn der christliche Glaube – aufbauend auf seinen jüdischen Wurzeln – somit die Keimzelle der die Würde des Menschen zur Geltung bringenden europäischen Zivilisation ist, dann gehört das Christentum zu den wesentlichen und unverzichtbaren Grundlagen der europäischen Kultur.

Diese in der politischen Diskussion teilweise heftig umstrittene These (vgl. das simplifizierende Schlagwort „Europa als Christenclub“) steht in dem manchmal recht oberflächlich geführten Diskurs vor der Gefahr, ihrer Bedeutung entleert zu werden. Denn sowohl die Gegner als auch die Befürworter dieser These nehmen meist nur eine bestimmte historische Epoche der Kirchengeschichte in den Blick und zeichnen dann das Verhalten der Kirche – je nach Standpunkt – entweder in düsteren Farben oder stellen sie als leuchtendes Vorbild für die Gesellschaft dar. Diese Gefahr scheint vor allem dann gegeben, wenn das Christentum ohne genaueres Nachdenken mit dem abendländischen Christentum, das in vielerlei Hinsicht durch Papsttum und Reformation geprägt worden ist, identifiziert wird. Dabei wird oft übersehen, dass das byzantinische Christentum ebenso wie das römische zu den Grundpfeilern der europäischen Kultur gehört. Daher sind auch die mehrheitlich orthodoxen Länder Ost- und Südosteuropas ein genuiner Bestandteil Europas.

Die Bedeutung des christlichen Ostens

Sicherlich hat es eine Jahrhunderte lange Entfremdung zwischen Ost und West gegeben, die mit der Trennung des Römischen Reiches in eine Ost- und eine Westhälfte eingeleitet, durch die Spaltung zwischen den Patriarchaten von Rom und Konstantinopel vertieft und schließlich durch die Osmanische Herrschaft über weite Teile des ehemaligen Byzantinischen Reiches verfestigt wurde. Dennoch hätte es fatale Folgen, diese Entfremdung nun als ein Argument für den Ausschluss mehrheitlich orthodoxer Länder aus der Europäischen Union zu verwenden. Die von Huntington vertretene These eines „Clash of Civilizations“ würde dadurch eine nachträgliche Rechtfertigung erfahren, die ihr nicht zusteht. Die Tatsache, dass Griechenland bereits Mitglied der Europäischen Union ist und Rumänien und Bulgarien in die Beitrittsverhandlungen einbezogen sind, belegt, dass auf politischer Seite durchaus Bereitschaft vorhanden ist, die von der byzantinischen Kultur geprägten Länder in die Europäische Union zu integrieren.

Wenn dies so ist, stellt sich natürlich sofort die Frage, warum Serbien und Weißrussland, die Ukraine und Russland noch nicht zu den Beitrittskandidaten gehören. Es bedarf keiner großen Erläuterungen, dass im Blick auf Serbien und Weißrussland die politische Situation im Land für diese Tatsache verantwortlich war bzw. im Blick auf Weißrussland immer noch ist. Schwieriger ist die Situation schon im Blick auf die Ukraine und die westlich an sie grenzende Republik Moldova. Sicherlich entsprechen die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen dort noch nicht dem Maßstab der Europäischen Union. Aber steht die Ukraine wirklich so viel schlechter da als Rumänien oder Bulgarien? Wenn nicht, warum werden dann die positiven Signale aus Kiew im Blick auf eine Integration in die Europäische Union in Brüssel nicht in gleicher Weise aufgegriffen wie die entsprechenden Bestrebungen in Bukarest und Sofia? Letztlich dürfte die Rücksichtnahme auf das benachbarte Russland das entscheidende Kriterium sein. Und damit gilt es sich dem schwierigsten Fall zuzuwenden im Blick auf die Frage, wer zur Europäischen Union gehören kann und soll.

Kulturell und historisch betrachtet kann kein Zweifel daran bestehen, dass Russland zu Europa und zum europäischen Kulturkreis gehört. Auch wenn Europa geographisch am Ural endet, bedeutet dies nicht, dass der europäische Kulturkreis damit an seine Grenze stößt. Die neugotische Architektur der am Beginn des 20. Jahrhunderts erbauten Handelshäuser in Wladiwostok und Irkutsk sowie ein Blick auf die Programme der Konzerthäuser in sibirischen Großstädten, die sich kaum von den Programmen in Warschau oder Barcelona unterscheiden, belegen, dass Russland insgesamt vom europäischen Kulturkreis geprägt ist. Auch ein Blick auf die Geschichte belegt die engen Bindungen zwischen Russland und Europa – angefangen von der Hanse, die einen wichtigen Stützpunkt in Nowgorod hatte, über die an westlichen Vorbildern orientierten Reformen Peters des Großen bis hin zu den dynastischen Verbindungen zwischen den russischen Zaren und deutschen Fürstentümern. Auch der geistige Austausch zwischen Russland und dem Westen war immer sehr lebendig: Hegel und Schelling erfuhren in Russland eine mindestens ebenso intensive Rezeption wie in ihrem Heimatland und die Ideen Voltaires und Montesquieus beeinflussten Katharina II. sicherlich mehr als ihre russischen Berater.

Warum also gehört Russland nicht zu den potenziellen Beitrittskandidaten für die Europäische Union und wird auch in absehbarer Zeit nicht dazu gehören? Die Gründe sind vor allem politischer und wirtschaftlicher Natur: eine Integration Russlands in die europäischen Wirtschaftsstrukturen würde zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu einem Kollaps des bisherigen Systems führen und eine politische Integration würde gehörige Dissonanzen im Konzert der Weltmächte hervorrufen – abgesehen davon, dass nicht zu erwarten ist, dass die russische Führung sich einer wie auch immer gearteten europäischen Institution unterordnen wird.

Schlussfolgerungen

Aus diesen kurz gefassten Beobachtungen lassen sich folgende Schlussfolgerungen im Blick auf den Erweiterungsprozess der Europäischen Union ziehen:

  1. Die offiziellen politischen und wirtschaftlichen Kriterien sind nicht der einzige Maßstab bei der so genannten „Osterweiterung“ der Europäischen Union. Daneben gibt es verborgene Kriterien geographischer, historischer und vor allem kultureller Art, die bisher nicht öffentlich thematisiert werden, aber dennoch unbewusst die politischen Entscheidungsprozesse der Europäischen Union prägen.

  2. Es gibt eine Interdependenz zwischen den offiziellen Kriterien politischer und wirtschaftlicher Natur und den verborgenen Kriterien. Dies sollte auch im öffentlichen Diskurs thematisiert und analysiert werden, damit sich nicht unterschwellig der Verdacht herausbildet, dass es eine willkürliche Entscheidung ist, wer zu den Beitrittskandidaten der EU gehört.

  3. Die verborgenen Kriterien geographischer, historischer und kultureller Art lösen nicht nur Unmut auf Seiten der Länder aus, denen noch nicht der Status eines Beitrittskandidaten zuerkannt wurde. Sie haben darüber hinaus Auswirkungen auf das Misstrauen der Euro-Skeptiker in den Beitrittsländern wie auch den Mitgliedsländern der EU, die im europäischen Integrationsprozess eine Gefahr für die historische und kulturelle Identität ihres Volkes sehen.

  4. Um der Gefahr einer Überbetonung der nationalen Identität zu begegnen, muss der Erweiterungsprozess mit einer Vertiefung der Gemeinschaft verbunden werden, und zwar nicht in erster Linie im Blick auf die politischen Institutionen, sondern – und das ist mit Blick auf die Akzeptanz des europäischen Integrationsprozesses in der Bevölkerung viel dringlicher – hinsichtlich der sozialen und gesellschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen in Ost und West.

  5. Wenn die Ukraine, Weißrussland und Russland nicht nur mittel-, sondern auch langfristig von der Europäischen Union ausgeschlossen bleiben, besteht die Gefahr, dass der „eiserne Vorhang“ lediglich von Oder und Neiße weiter nach Osten an Bug und Dnjepr verschoben wird und dabei zu einem „silbernen Vorhang“ (Patriarch Aleksij von Moskau) mutiert, der die Wohlstandsgrenze zwischen den Mitgliedsstaaten der EU und ihren östlichen Nachbarn markiert. Der Erweiterungsprozess der EU darf daher die mehrheitlich orthodoxen Länder nicht außen vor lassen. Wenn die künftige Außengrenze der EU mit der Grenze zwischen dem westlich-abendländischen und dem östlich-byzantinischen Kulturkreis zusammenfällt, wird dies zu einer erheblichen Vertiefung der Gräben zwischen West und Ost führen.

  6. Es ist andererseits nicht zu leugnen, dass eine Integration der drei genannten Staaten in die europäischen Strukturen eine erhebliche Verflachung der europäischen Strukturen bedingen würde, die dem erklärten Ziel einer Vertiefung der Union entgegensteht. Wenn einige europäische Länder daher auch mittel- bis langfristig nicht Mitglieder der EU werden können, sollen und vielleicht auch wollen, bedeutet dies, dass die Europäische Union auch in Zukunft nicht mit Europa identifiziert werden darf. Die bevorstehende „Osterweiterung“ wird zwar dazu beitragen, dass die bisherigen westeuropäischen Strukturen der EU weitgehend europäisiert werden, dennoch wird es auch in Zukunft europäische Bürger geben, die nicht Bürger der Europäischen Union sind. Solange die Ukraine und Russland, aber auch Georgien und Armenien nicht Mitglieder der EU sind, wird diese nicht „vollständig“ sein in dem Sinne, dass sie eine wirkliche Union der europäischen Völker darstellt.

  7. Dies verdeutlicht, dass die europäischen Institutionen zwar ein wichtiger Transmissionsriemen zur Förderung des europäischen Integrationsprozesses sind, dass das Zusammenwachsen der Völker Europas und der Menschen in Europa jedoch letztlich nicht von oben verordnet und organisiert werden kann, sondern von unten wachsen muss. Die Entwicklung einer europäischen Zivilgesellschaft muss daher ein vorrangiges Ziel aller gesellschaftlichen Akteure sein. Die christlichen Kirchen in Europa können in dieser Hinsicht ein wichtiger Wegbereiter für ein echtes Zusammenwachsen der Menschen in Europa sein. Ihre Aufgabe ist es, dafür Sorge zu tragen, dass die Erweiterung nach Osten mit einer Integration des Ostens einhergeht.


Fußnoten:


  1. EU-Kommission, Generaldirektion Erweiterung (Hg.): Die EU-Erweiterung. Eine historische Gelegenheit, Brüssel 2000, S. 9. ↩︎

  2. EU-Kommission, Generaldirektion Erweiterung (Hg.): Strategiepapier 2000. Bericht über die Fortschritte jedes Bewerberlandes auf dem Weg zum Beitritt, Brüssel 2000. Im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/comm/enlargement/report_11_00/strat_de.pdf↩︎

  3. Der deutsche Text der „Charta der Grundrechte“ findet sich unter folgender Internet-Adresse: http://ue.eu.int/df/default.asp?lang=de↩︎