Ökumene zwischen Ost und West

Interview mit dem Präsidenten des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Walter Kardinal Kasper
aus OWEP 4/2001  •  von  OWEP-Redaktion

Die Jahre 2000 und 2001 werden vermutlich nicht als Jahre in die Geschichtsbücher eingehen, in denen die Ökumene besondere Fortschritte gemacht hätte. Trotz mancher Rückschläge besteht jedoch, wenn man die Entwicklungen der letzten vierzig Jahre Revue passieren lässt, zu grundsätzlichem Pessimismus keine Veranlassung. Dies wird aus dem folgenden Gespräch deutlich.

OWEP: Der ökumenische Dialog zwischen Ost und West tritt seit der Wende in Mittel- und Osteuropa auf der Stelle. Waren die Brücken, die in den Jahren der kommunistischen Herrschaft zwischen den Kirchen aufgebaut worden waren, nicht tragfähig genug? Oder gab es andere Ursachen, welche manche alten Gräben wieder aufbrechen und neue haben entstehen lassen?

Kasper: Der ökumenische Dialog zwischen Ost und West hat auch nach der Wende in Mittel- und Osteuropa Fortschritte gemacht. Zu denken ist vor allem an die Besuche des Papstes in mehrheitlich orthodoxen Ländern wie Rumänien, Georgien, Griechenland, Ukraine, zuletzt in Armenien und im nächsten Jahr in Bulgarien, dazu die Begegnungen in Ägypten, im Sinaikloster, im Heiligen Land, in Syrien und in Kasachstan. Dazu kommen viele, vor der Wende nur sehr schwer mögliche formelle und informelle Kontakte auf universalkirchlicher wie auf lokalkirchlicher Ebene sowie der regelmäßige Austausch von Briefen.

Diese Besuche und der Austausch von Briefen sind mehr als diplomatische Höflichkeitserweise. Wir haben damit wichtige Ausdrucksformen der kirchlichen communio, wie sie in den ersten Jahrhunderten üblich waren, wieder aufgenommen. Die zwischen Ost und West schon jetzt bestehende fast volle communio kommt darin zum Ausdruck. Diese Feststellung trifft auch dann zu, wenn wir leider zugeben müssen, dass seit der Wende in Mittel- und Osteuropa manche alten Gräben wieder aufgebrochen sind. Die Ursachen sind vielfältig und lassen sich nicht auf einen einzigen Nenner bringen.

An erster Stelle möchte ich die an sich erfreuliche Tatsache anführen, dass die Kirchen in Mittel- und Osteuropa seit der Wende erstmals oder nach langer Zeit frei sind. Sie müssen sich nun in einer für sie weithin neuen Situation zurechtfinden und dabei angesichts neuer Herausforderungen ihre eigene Identität wahren. Dies führt leider auch zu Tendenzen der Abschirmung und zu einer manchmal fast fundamentalistisch anmutenden Abwehrhaltung gegenüber einer ökumenischen Öffnung. Während der Zeit der kommunistischen Unterdrückung wurden die ökumenischen Kontakte als Hilfe für das eigene kirchliche Leben und Überleben empfunden; heute werden sie dagegen oft als Bedrohung der eigenen Identität gesehen. Solche ängstliche „ökumeneunfreundliche” Identitätsvergewisserungen gibt es übrigens auch bei uns im Westen.

Ein zweiter wichtiger Grund für das veränderte ökumenische Klima ist die Rückkehr der durch Stalin 1946 verbotenen und brutal verfolgten griechisch-katholischen Kirchen in der Ukraine und in Rumänien aus dem Untergrund ins öffentliche Leben. Auch viele Gläubige, welche in ihrem Herzen katholisch geblieben waren, aber in der Zeit der Verfolgung in den orthodoxen Gemeinden Unterschlupf fanden, sind wieder zum katholischen Gemeindeleben zurückgekehrt.

Dieser geradezu eruptive, leider in einzelnen Fällen auch von Gewalt begleitete Prozess, wird bis heute von beiden Seiten fast diametral verschieden gesehen. Es geht dabei um mehr als um den Streit um Kircheneigentum. Für die orthodoxen Kirchen war dies ein Aderlass, der verständlicherweise weh tat, sie an ihrem Lebensnerv traf und von ihnen bis heute als Unrecht empfunden wird, auch wenn die Westukraine vor 1946 nie zum Bereich der russisch-orthodoxen Kirche gehörte. Auf der anderen Seite war die Bewegung keineswegs „vom Vatikan“ angezettelt, sondern eine spontane Bewegung „von unten“, Ausdruck tiefer religiöser Überzeugung von Menschen, welche für ihren Glauben zuvor Unsägliches gelitten hatten und die nun nach dem Ende der Unterdrückung ihr Menschenrecht auf Religionsfreiheit wahrnahmen und ihre orientalische Tradition wieder in voller Gemeinschaft mit Rom leben wollten. Jahrhunderte alte Wunden sind damit wieder aufgebrochen, und es wird vermutlich noch seine Zeit dauern, bis sie wieder verheilen.

OWEP: Den Katholiken wird von orthodoxer Seite immer wieder „Proselytismus“ (Abwerbung von Gläubigen) und „Uniatismus“ (Errichtung katholischer Kirchen des östlichen Ritus) vorgeworfen. Woran liegt es, dass diese Vorwürfe immer noch nicht entkräftet werden konnten und das ökumenische Gespräch nach wie vor belasten?

Kasper: Die Gemeinsame internationale theologische Kommission zwischen der katholischen Kirche und den orthodoxen Kirchen hat 1993 in Balamand (Libanon) ein Dokument zu diesen Fragen beschlossen, dem – im Unterschied zu einigen orthodoxen Kirchen – die katholische Seite zugestimmt hat. Darin wird nicht nur der Proselytismus verworfen (was längst durch das katholische Kirchenrecht geschehen ist), sondern auch vom Uniatismus gesagt, dass er heute und in Zukunft keine Methode mehr ist, um die Einheit der Kirche zu erreichen. Die Absage an den Uniatismus als einer Methode besagt freilich nicht, dass man den sogenannten unierten Kirchen das Lebensrecht abspricht; im Gegenteil, in dem genannten Dokument wird ausdrücklich festgehalten, dass sie ein Recht auf Existenz haben, um den seelsorgerlichen Dienst an ihren Gläubigen zu tun. Das Recht auf Religionsfreiheit muss uns heilig sein.

Der grundsätzliche katholische Standpunkt ist also klar. Er wird jedoch nicht von allen orthodoxen Kirchen geteilt. Dabei spielt – neben einzelnen Missgriffen, die es da und dort gibt – oft auch ein unterschiedliches Verständnis von Proselytismus mit. Manchmal gilt es den Orthodoxen bereits als Proselytismus, wenn die katholische Kirche durch ihre sozial-caritativen und pastoralen Aktivitäten und Einrichtungen anziehend wirkt, ohne dass sie damit in irgendeiner Weise beabsichtigt, anderen Kirchen „Schafe zu stehlen“. Man wird dieses Missverständnis und Misstrauen bei unseren Hilfsaktionen und -projekten – so gut es geht – in Rechnung stellen müssen. Andererseits sind in diesem Bereich auch unterschiedliche theologische, näherhin ekklesiologische Positionen im Spiel. Die katholische Kirche hat auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erklärt, dass der Heilige Geist auch außerhalb ihres sichtbaren Gefüges in den orthodoxen Kirchen und in den kirchlichen Gemeinschaften am Werk ist und dass den orthodoxen Kirchen eine wahre Eucharistie und ein vollgültiges Bischofsamt in apostolischer Sukzession zu eigen ist.

Nicht alle orthodoxen Theologen und Bischöfe teilen diesen ökumenisch offenen Standpunkt. Insbesondere bestreiten sie immer wieder, dass die mit Rom unierten östlichen Kirchen wirkliche Kirchen sind. Sie betrachten diese oft als Abtrünnige und als Verräter, welche unter der äußeren orientalischen Form „Lateiner“ geworden sind. So war bei der letzten Vollversammlung der Gemeinsamen Internationalen Theologischen Kommission in Baltimore im vergangenen Jahr noch keine Einigung über den theologischen und juridischen Status der mit Rom unierten Ostkirchen möglich.

Erfreulicherweise gibt es aber auch – etwa in Syrien – positive, Hoffnung machende Beispiele der Zusammenarbeit, der Freundschaft und der Brüderlichkeit zwischen den orthodoxen und den mit Rom in Gemeinschaft stehenden orientalischen Kirchen. In anderen Fällen wirken hingegen noch immer alte Vorurteile, eingefleischte Mentalitäten, tief sitzendes Misstrauen nach. Die „Reinigung des Gedächtnisses“ und das damit verbundene innere Umdenken sind ein langwieriger und schmerzlicher Prozess – auf allen Seiten.

OWEP: Im ökumenischen Dialog mit der Orthodoxie ist die Frage des päpstlichen Primats der entscheidende Kontroverspunkt. Was muss sich – wie es Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika „Ut unum sint“ formuliert hat – an der gegenwärtigen „Form der Primatsausübung“ ändern, damit dieses Hindernis beseitigt werden kann?

Kasper: Der Vorstoß des Papstes entspricht der neuen ökumenischen Situation, in der auch bei manchen getrennten Kirchen die Frage, manchmal sogar die Sehnsucht nach einem universalen Dienst der Einheit wach geworden ist. Der Vorstoß des Papstes war mutig, er zeigt den Ernst seines ökumenischen Engagements und gibt Anlass zu Hoffnung im Blick auf das neue Jahrtausend. Doch der Papst hat in der genannten Enzyklika auch bemerkt, er selbst werde diese Frage nicht mehr zum Abschluss bringen können. In der Tat, es ist international ein breiter ökumenischer Diskussionsprozess in Gang gekommen, aber eine abschließende Antwort ist noch nicht möglich. Eine solche Antwort ist auch deshalb noch nicht möglich, weil von orthodoxer Seite bisher – leider – keine offiziellen Stellungnahmen vorliegen. Als Grund für dieses offizielle Schweigen wird gelegentlich angeführt, die Diskussion über die Form der Primatsausübung setze voraus, dass man über die grundsätzlichere Frage der Existenz eines bleibenden, für die Kirche wesentlichen Petrusdienstes schon einig sei. Dies sei jedoch nicht der Fall. Das letztere gilt im übrigen auch für die protestantische Seite.

Es genügt also nicht, die eine oder andere Reform einzufordern, so wünschenswert sie sein mag. Man muss tiefer ansetzen und nach den biblischen Wurzeln des Petrusdienstes und nach der Art seiner im ersten Jahrtausend in Ost und West anerkannten Ausübungen fragen. Man muss weiter fragen, was diese Ost und West gemeinsame Tradition für die Interpretation und praktische Umsetzung der für uns verbindlichen Entscheidungen des Ersten und Zweiten Vatikanischen Konzils über den Jurisdiktionsprimat und die Unfehlbarkeit feierlicher päpstlicher Lehräußerungen bedeutet und wie man diese beiden Dogmen in einer neuen Sprache ausdrücken kann. Die Enzyklika gibt dafür einige weiterführende Hinweise.

Aus solchen Überlegungen ergibt sich, dass bei allem Festhalten an der Substanz je nach den geschichtlichen Situationen eine weit größere Variabilität und Flexibilität in der konkreten Verwirklichung besteht, als man bisher gewöhnlich angenommen hat. Man kann etwa mit Kardinal Ratzinger deutlicher unterscheiden zwischen den administrativen Aufgaben, welche der Bischof von Rom als Patriarch des Westens wahrnimmt, und seinem universalen Petrusdienst.

An der Selbstverwaltung der Ostkirchen und ihrer synodalen Praxis bräuchte sich vermutlich kaum etwas zu ändern. Schon heute sieht das – im Blick auf die künftige größere Einheit vorläufige – Recht der katholischen Ostkirchen für die Bischofsbestellung unterschiedliche Formen der Primatsausübung für Ost und West vor. Auf der anderen Seite würde die volle communio mit Rom den orthodoxen Kirchen etwas schenken, das sie gegenwärtig bei sich oft schmerzlich vermissen: größere Einheit untereinander und größere Unabhängigkeit von staatlicher Beeinflussung. Beides ist gerade in einer globalisierten und doch zutiefst zerrissenen Welt ein Geschenk und ein Segen, für den wir Katholiken dankbar sein sollten und den wir mit den getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften teilen möchten.

OWEP: Papst Johannes Paul II. hat in den letzten beiden Jahren mehrere Länder besucht, in denen die Bevölkerung mehrheitlich orthodox ist (Rumänien, Georgien, Griechenland, Ukraine). Welche Auswirkungen haben die Reisen des Papstes auf den ökumenischen Dialog mit den Orthodoxen Kirchen in diesen Ländern und darüber hinaus?

Kasper: Die Reisen des Papstes sind Pilgerreisen; sie haben einen pastoralen Charakter. Geistliche Früchte lassen sich nicht nach Art einer Erfolgsbilanz verbuchen. Manche Reisen haben geradezu einen prophetischen Charakter. Ihre Konsequenzen können erst in Zukunft voll ermessen werden.

Die Reisen machen eine fast überall gegebene Sehnsucht der Menschen nach Einheit deutlich. Die manchmal geäußerte Behauptung, „das Volk“ habe kein Verständnis für ökumenische Öffnung, erweist sich in Bezug auf die weit überwiegende Mehrheit als wirklichkeitsfremde Ausrede und als durchsichtiger Vorwand. Man denke nur an den spontanen Ruf der Menge in Rumänien „unitade“, „unitade“! Selbst in der Ukraine, wo die orthodoxe Hierarchie sich ablehnend verhielt, strömten orthodoxe Christen in großer Zahl herbei und machten eine große „Ökumene von unten“ sichtbar. Außerdem macht die direkte Begegnung mit dem Papst und seine von vielen als charismatisch empfundene Ausstrahlung einen Großteil der antikatholischen und antirömischen Vorurteile schlicht gegenstandslos. Dabei ist die offenkundige physische Schwäche des Papstes seine geistliche Stärke; sie gibt ihm zusätzliche Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. So hat etwa der nur eineinhalb Tage dauernde Besuch in Griechenland das dort zunächst keineswegs freundliche Klima grundlegend verändert und eine neue Basis für ökumenische Begegnungen geschaffen.

Schließlich muss man sich von der Vorstellung frei machen, die Ökumene werde vor allem in den offiziellen Dialogen von Experten vorangebracht. Dass diese notwendig und wichtig sind, ist nicht zu bezweifeln. Aber auch bei diesen Dialogen kommt es entscheidend auf die persönliche Begegnung und Freundschaft, das Glaubenszeugnis, den Austausch von gelebter Glaubenserfahrung und auf das gemeinsame Gebet an. Das alles geschieht bei den Reisen des Papstes sozusagen im Überfluss: in den persönlichen Begegnungen mit ihm wie in den dabei möglichen Begegnungen zwischen Bischöfen, Priestern, Ordensleuten und Gläubigen. Die Vorbereitung und Nachbereitung jeder dieser Reisen kommt – wenn man es militärisch ausdrücken darf – einer ökumenischen Generalmobilmachung der jeweiligen Ortskirche gleich. Am eindrucksvollsten und von – mit rein menschlichen Maßstäben nicht abzuschätzender – Fernwirkung sind die liturgischen Feiern. In ihnen kommt die geistliche Dimension der Ökumene, welche ihr Herzstück ist, zum Ausdruck.

OWEP: Der Dialog mit der Orthodoxen Kirche krankt oft an der gegenseitigen Fremdheit und dem daraus resultierenden Unverständnis für den jeweiligen Partner. Was könnte aus Ihrer Sicht am ehesten dazu beitragen, das gegenseitige Verständnis zu verbessern, um auf diese Weise den Dialog zwischen Ost und West nicht nur zu vertiefen, sondern auch als ein Anliegen in die Breite der Gemeinden zu tragen?

Kasper: Bei der Begegnung und dem Austausch mit der Dritten Welt haben sich konkrete Partnerschaften als hilfreich und fruchtbar erwiesen. Etwas Ähnliches kann ich mir auch für die Begegnung mit Osteuropa und mit den orthodoxen Kirchen denken. Für viele westliche Christen mag eine Reise nach Osteuropa nicht dieselbe „Romantik“ haben, wie es zumindest lange Zeit mit Afrika oder Lateinamerika der Fall war. Sie meinen dort nicht dieselbe „Zukunftsmusik“ für das eigene Christsein und Kirchesein hier bei uns zu vernehmen. Kurzum, ein Kontakt dorthin erscheint ihnen nicht in gleicher Weise attraktiv.

Gut, ernüchternde Erfahrungen macht man hier wie dort, und manche Zurückhaltung auf orthodoxer Seite kann man gut verstehen, wenn man weiß, wie besserwisserisch arrogant „Wessis“ oft auftreten und wie unsensibel manche Sekten nach der Wende dort eingefallen sind. Respekt vor einer altehrwürdigen religiösen Kultur und etwas geschichtliche Kenntnis sind das Mindeste, was man zu diesen Begegnungen mitbringen muss.

Doch interessant und anregend ist die orthodoxe Welt allemal. Man braucht sich nur einmal in die reiche Welt der Ikonen zu vertiefen oder einer orthodoxen Liturgie beizuwohnen, um zu erahnen, welche geistlichen Reichtümer da auf uns warten. Vollends bewegend wird es, wenn man sich konkret erzählen lässt, wie „es war“ in der Zeit der Verfolgung, wie man überleben und durchhalten konnte und wie bitter arm es heute zugeht, sobald man aus einer Großstadt wie Moskau heraus kommt. Umgekehrt werden viele orthodoxe Christen erstaunt sein, konkret zu erfahren, dass es bei uns nicht nur den liberalen, konsumistischen, säkularisierten, oberflächlichen, moralisch dekadenten Westen gibt, sondern dass dort auch gelebter Glaube, lebendige Gemeinden sowie Erfahrungen zu finden sind, wie man die westlichen Versuchungen als Herausforderungen verstehen und christlich bestehen kann.

Es gibt bereits viele solcher Partnerschaften zwischen Diözesen und Gemeinden. Wichtig sind auch Partnerschaften zwischen Klöstern, denn die orthodoxe Kirche ist eine monastisch geprägte Kirche. Ökumene kann man nicht nur „von oben“ „betreiben“, sie muss ebenso „von unten“ wachsen. Beide Bewegungen können einander ergänzen und befördern. Beide zusammen können momentane Durststrecken überwinden.