Erinnerung und die Perspektive der Opfer

aus OWEP 1/2002  •  von Thomas Hoppe

Prof. Dr. Thomas Hoppe lehrt Katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik an der Universität der Bundeswehr Hamburg.

Einer wachsenden Zahl von heute lebenden Menschen stellt sich die Frage nach angemessenen Formen des Erinnerns an eine Vergangenheit, die das Verhältnis zwischen den Deutschen und ihren östlichen Nachbarn belastet, gewissermaßen „von außen“, weil nicht mehr vor dem Hintergrund eigenen Erlebens. Diese Tatsache erweist sich als ambivalent: Sie wirkt sich einerseits entlastend aus, wo unmittelbare Teilhabe am Geschehen, die Verstrickung in Unrecht und Schuld hätte bedeuten können, nicht möglich war; sie schafft jene Distanz, aus der heraus das Beurteilen von Einzelereignissen im Rahmen größerer Zusammenhänge leichter fallen mag. Doch zugleich kommt solche Distanziertheit nur allzu oft auch einem Verlust von Wahrnehmungsfähigkeit gleich – zuerst einer Wahrnehmungsfähigkeit für das Leiden der Opfer, das in den meisten der Überlebenden bis heute fortdauert.

Gegenwärtigkeit des Vergangenen: Die Perspektive der Opfer

Dieses Leiden ist der Grund, warum für die Opfer mit der Aufgabe des Erinnerns eine deutlich andere Inanspruchnahme verbunden ist als für diejenigen, die aus verschiedensten Gründen solche Leiderfahrungen nicht teilen. Opfer sehen sich mit der Notwendigkeit konfrontiert, ihren unerträglichen Erinnerungen standzuhalten. Es ging dabei ja nicht um zeitweise Störungen persönlicher Beziehungen, die allmählich an Bedeutsamkeit abnehmen, jedenfalls bei einem durchschnittlichen Maß an Verständigungsbereitschaft überwindbar scheinen. Gemeint sind vielmehr solche extremen Erfahrungen von Erniedrigung und Unrecht, dass derjenige, der ihnen ausgesetzt ist, aus dem Kontext einer gemeinsamen Lebenswelt mit denen, von welchen er dies erfährt, gewissermaßen herausfällt: Ihm widerfährt nichts Geringeres als die Negation seines fundamentalen Anspruchs auf eine Anerkennung als Person, auf eine menschenwürdige Behandlung. Diese Negation kann unterschiedliche Formen annehmen. Besonders sinnfällig wird sie dort, wo Menschen an Leib und Leben physisch bedroht werden oder miterleben müssen, dass ihre Angehörigen einer derartigen Bedrohung zum Opfer fallen.

Die Folgen solcher Erfahrungen liegen nicht nur in der nachhaltigen Beschädigung von künftigen Lebenssituationen. Sie bestehen vielmehr auch in einem fundamentalen Verlust des „Weltvertrauens“, oft zugleich der elementaren Befähigung zu einem Vertrauensverhältnis zu Mitmenschen. Fast immer ist dieser Verlust an Vertrauensfähigkeit mit der Wahrnehmung verbunden, dass die Eigenart der persönlichen Erfahrung von niemandem erfasst werden kann, der nicht zumindest etwas Ähnliches erleiden musste. Situationen extremer Ohnmacht und völligen Ausgeliefertseins bringen eine Weltwahrnehmung mit sich, der nichts mehr als verlässlich gilt, insbesondere nicht das, was landläufig für ein Kennzeichen zivilisatorischer Normalität gehalten wird. Der Zerfall bisheriger Plausibilitäten, das Wissen darum, zu welchen Grausamkeiten menschliches Handeln imstande ist, verändert grundlegend den Blick auf die Abläufe in der Lebenswelt. So konstituiert sich eine „Opferperspektive“, die sich von derjenigen der Täter oder von Menschen, die weder in die eine noch in die andere Rolle gerieten, abgründig unterscheidet. Sie als Ressentiment oder Unversöhnlichkeit zu denunzieren, riskierte nicht nur, den Betroffenen im moralischen Sinn Unrecht zu tun, sondern bekäme auch deren Grundsituation und die sie verursachenden Faktoren nur unzureichend in den Blick.

Das Verhaftetsein in einer Opferperspektive ist besonders dann kaum aufzubrechen und zu überwinden, wenn die Opfer erfahren müssen, dass sich das Handeln der Täter für diese in zweifacher Weise auszahlt: Zunächst unmittelbar, denn sie werden auf die eine oder andere Weise für ihr Handeln belohnt; jedoch später nochmals, wenn sich herausstellt, dass eine angemessene Ahndung vielerlei Unrechts kaum möglich erscheint. Für die Opfer kann dann ihre Situation leicht wie die des Hasen erscheinen, der einen Wettlauf mit dem Igel versucht: Letzterer ist immer schon im Vorteil, da er rechtzeitig dafür Sorge trug, die Umstände geschickt zu seinen Gunsten zu arrangieren. Während die Täter längst wieder die Privilegien ihres bürgerlichen Lebens genießen, müssen viele der Opfer oft jahrzehntelang um eine minimale Anerkennung ihrer Leiden kämpfen. Etliches an Verbitterung wird aus dieser Wahrnehmung verständlich.

Vielleicht ihre tragischsten Züge gewinnt die Opfersituation dort, wo jemand Unrecht und Gewalt nicht nur erleiden musste, sondern es den Tätern gelang, ihn gegen seinen Willen in die faktische Mitwirkung bei ihrem Tun zu verstricken. Dieser Versuch, möglichst viele der Opfer in den Abgrund des Verbrechens hineinzuziehen, ist geradezu typisch für die modernen Formen von Makrokriminalität. Indem man einen Menschen vor die Wahl stellt, entweder ein großes oder ein noch größeres Verbrechen zu begehen, und die Alternative der Verweigerung nicht nur mit seinem Tod, sondern auch mit der Vergeltung an Dritten bedroht, setzt man ihn einer Zwangslage aus, der er sich kaum entziehen kann. Gerade bei moralisch sensiblen Menschen führt dies aber nicht zum geläufigen Mechanismus einer Selbstentschuldigung, im Gegenteil: Sie leiden oft bis an ihr Lebensende unter ihrer erzwungenen Beteiligung an Handlungen, denen andere zum Opfer fielen.

Auf Seiten derer, denen das Schicksal der Opfer erspart blieb, bedarf es zunächst und vor allem des Versuchs, sich an diese ihnen fremde Erfahrungswelt mühsam heranzutasten – im Wissen darum, dass sie ihnen trotz allen Mühens ein Stück weit verschlossen bleiben wird. Oft droht ein solcher Brückenschlag angesichts der Widerstände, die derjenige in sich spüren mag, der der Größe des damit aufgeworfenen Anspruchs gewahr wird, schließlich zu unterbleiben – mit schwerwiegenden Folgen: Wenn es jenen, die das Opfer-Sein nicht erfahren mussten, gelingt, in diesem „unzerstörten“ Teil der Welt zu verbleiben und sich in ihm einzurichten, dann wird belastete Vergangenheit alsbald „historisiert“, und dies im schlechtesten Sinn. Der Gegenwärtigkeit des Vergangenen, jener Wahrnehmung der Opfer, die ihre Existenz bis ins Alltägliche hinein durchprägt, ist man sich auf der anderen Seite immer weniger bewusst, vor allem vermag diese Vergangenheit kaum mehr Irritationen auszulösen. Selbst solchen Herausforderungen, in denen offensichtlich Grundfragen politischer Moral berührt sind, glaubt man dann schließlich durch politische Pragmatik hinreichend begegnen zu können.

Zugleich durchleben die Familien der Opfer das unausweichliche Dahinsterben der Zeugen einer in ihrer Dimension nur schwer vorstellbaren und mit den Mitteln der Sprache kaum erreichbaren Leidensgeschichte. Zuweilen sind es Empfindungen ohnmächtigen Zorns, viel häufiger solche unstillbarer Trauer, mit denen Sterbende und ihre Hinterbliebenen auf das Ausbleiben von Akten der Anerkennung ihres Leidens, womöglich des glaubhaften Bemühens um Aussöhnung reagieren. Vielfach wirkt zudem das geschehene Unheil über den Tod der unmittelbar zum Opfer Gewordenen hinaus weiter. In unterschiedlicher Ausprägung lassen sich bei den Nachkommen von einstmals Verfolgten Persönlichkeitsmerkmale und Verhaltensweisen feststellen, die das Schicksal ihrer Eltern reflektieren. Das Leben in einer Welt, die von derjenigen der Täter oder der vielen Unbeteiligten fundamental getrennt ist – charakteristisch für die soziale Situation wie für die Empfindungswelt vieler Opfer –, setzt sich fort in der Existenzweise der nachfolgenden Generation.

Suche nach Wahrheit und Begründung von Erinnerungsgemeinschaft

Wer angesichts dieser Ausgangslage nach einem angemessenen Umgang mit belasteter Vergangenheit sucht, wird zuerst danach fragen müssen, wie man sich dieser Vergangenheit so erinnern kann, dass erlebte und erlittene Geschichte nicht der nachträglichen Banalisierung oder gar der politischen Instrumentalisierung anheim fällt. Diese Frage weist sowohl einen individuell-persönlichen als auch einen gesellschaftlich-politischen Aspekt auf.

Individuelles Erinnern bedeutet für die Opfer zunächst und vor allem Trauerarbeit. Hierzu bedarf es nicht nur einer hinreichenden Zeitspanne; soll Trauerarbeit überhaupt möglich werden, so gilt es oft noch grundlegendes Wissen über Tatbestände zu gewinnen, die bisher im Dunkeln lagen. Solange nicht geklärt ist, was aus einem deportierten Angehörigen wurde, solange man nicht wenigstens erfahren konnte, wo die eigenen Toten begraben liegen, bleibt der Prozess solcher Trauerarbeit offen und unabgeschlossen. Diese Vorläufigkeit, die zu beenden nicht in der Macht der Trauernden liegt, steht als unübersteigbare Hürde jedem Versuch entgegen, die Vergangenheit auf irgendeine Weise „anzunehmen“, die Trauerarbeit wenigstens zu einem Abschluss „bis auf weiteres“ zu bringen. Sie verhindert damit auch, dass sich eine Perspektive auf Vergebung und Versöhnung hin eröffnen kann. Denn dies erfordert auf Seiten der Opfer eine Auseinandersetzung mit der eigenen Trauer, die so weit vorangeschritten ist, dass ein erneutes Zugehen auf die Täter ihre psychischen Möglichkeiten nicht mehr überfordert.

Eine zusätzliche Schwierigkeit für solchen Umgang mit der eigenen Trauer bedeutet es, dass der Brückenschlag, der auch das Leiden anderer in den Blick nimmt, häufig misslingt. Trauerarbeit führt zwar in die Auseinandersetzung mit der Wahrheit hinein, ist aber anfällig für Mythenbildungen, die auch schuldhaftes Handeln mancher Toter zu rehabilitieren scheinen. Damit geht es in Prozessen der Trauerarbeit nicht nur um ein individuelles Bewältigen-Können, sondern zugleich darum, einen authentischen Begriff von Erinnerung zu gewinnen. Er zielt darauf, „der Wahrheit, so gut man es vermag, ins Auge zu sehen – ohne Beschönigung und ohne Einseitigkeit“1.

An dieser Stelle berühren sich individuelles und gesellschaftlich-politisches Ringen um die Erinnerung – beides steht in der Gefahr, die Deutung jüngster Geschichte an unausgewiesenen, vorgängigen Optionen zu orientieren. Auf diese Weise kommen bestimmte, keineswegs nebensächliche Facetten dieser Geschichte unter Umständen gar nicht in den Blick oder werden jedenfalls unzutreffend gewichtet. Schon die Frage, welche Ereignisse, Umstände und Sachverhalte im Interesse einer authentischen Erinnerung für relevant zu halten sind, wird auch im Licht solcher Vorentscheidungen mitbeantwortet. Deswegen ist es überaus prekär, den Prozess einer sorgfältigen Aufklärung über die historische Wahrheit zeitlich hinauszuschieben: Nur die möglichst verzugslose Erforschung des Geschehenen und die sofortige Sicherstellung entsprechender Dokumente kann davor bewahren, dass sich von interessierter Seite mit einer selektiven Verwendung geschichtlicher Fakten Politik machen lässt.

Aufklärung über die historischen Fakten ist also auch dann notwendig, wenn sie nicht oder nicht unmittelbar im Dienste einer Strafverfolgung ehemaliger Täter steht. Und nur wenn sie sich differenzierend dieser Fakten vergewissert, leistet sie einen Beitrag dazu, dass nicht Kollektive mit Schuldvorwürfen überzogen werden, sondern die konkret Handelnden und Entscheidenden in den Blick genommen werden können. Wo man auf diese Weise Tätern und Opfern wenigstens näherungsweise gerecht zu werden versucht, werden gleichzeitig wesentliche Voraussetzungen für mögliche Prozesse der Aussöhnung geschaffen. Polens Ministerpräsident Jan Olszewski wies auf diesen Sachverhalt hin, als er im Dezember 1991 formulierte: „Wenn wir vergeben sollen, so wollen wir wissen, welche Schuld und wem wir vergeben.“2

Doch nicht nur die Erhellung tatsächlicher Abläufe und der Rolle konkreter Akteure in ihnen ist vonnöten. Eine Aufklärung über die historische Wahrheit, die diese lediglich rekonstruiert, sich aber im Interesse wissenschaftlicher Objektivität sowohl jegliche Wertung wie jeden Vergleich von vornherein verbietet, kann auch ungewollt zu einer fatalen „Historisierung“ des Geschehenen beitragen. Trotz aller Aufmerksamkeit für das Partikulare ist es doch unumgänglich, das Gemeinsame verschiedener Erscheinungsweisen systemisch bedingten Unrechts festzuhalten und jene Strukturen und Mechanismen aufzudecken, die immer neu zur Verstrickung in Schuld und zu extremen Erfahrungen von Leid und Unrecht führen. Wenn auf diesen Versuch verzichtet wird, bleibt es bestenfalls beim namenlosen Entsetzen angesichts der Opfer, die Krieg, Gewaltherrschaft und andere Formen von Machtmissbrauch forderten. Doch es dürfte kaum gelingen, gegen die Wiederholung des Geschehenen Dämme zu errichten. Das Einbringen einer Außenperspektive kann hier hilfreich sein, weil sich aus ihr heraus manche Analyse möglicherweise trennschärfer vornehmen lässt als durch die unter der Last jüngster Traumatisierungen leidenden Betroffenen selbst. Dies gilt insbesondere für Situationen, in denen sich diese Betroffenen nicht ohne weiteres in eine Gruppe der Täter und eine der Opfer unterscheiden lassen, sondern wo Mitverantwortung in komplexer Weise auf allen Seiten zu finden ist.

Über die Arbeit an der Vergewisserung über Fakten und ihre sachgemäße Interpretation hinaus bleibt so die Suche nach authentischem Erinnern eine kulturelle Herausforderung von überragender Bedeutung. Es geht darum, eine Erinnerungsgemeinschaft zu begründen, in der das von den Älteren leidvoll Erfahrene dem Vergessen entrissen und im Interesse an einer besseren Zukunft an die Jüngeren vermittelt werden kann. Durch öffentliche Ehrungen der Opfer, Gedenkstättenarbeit, historisch wie didaktisch mit Sorgfalt konzipierte Publikationen, Medienarbeit und überhaupt die Thematisierung dieser Problematik im Bereich von Erziehung und Bildung kann es gelingen, diese Formen kollektiver Erinnerung vor Selektivität und politischer Manipulation zu schützen. Wegen der Brisanz dessen, was es zu erinnern gilt, ist eine solche Erinnerungsgemeinschaft nicht vorstellbar als etwas Fertiges und Abgeschlossenes. Sie wird vielmehr von einer eigenen Dynamik im fortdauernden Ringen um einen angemessenen Umgang mit der Vergangenheit gekennzeichnet sein. Und doch lässt sich nur in ihrem Rahmen, in dem durch sie eröffneten Raum das Nichtakzeptieren dieser Vergangenheit durchhalten – lässt sich vermeiden, dass man schließlich in der einen oder anderen Weise vor ihr kapituliert.

Die Würde der Opfer wieder aufrichten

Im Bemühen um ein authentisches Erinnern, das den den Opfern geschuldeten Respekt und die Anerkennung ihrer Würde nicht vermissen lässt, erfährt man zugleich die schmerzlichen Grenzen jedes derartigen Versuchs. Ein beschädigtes Leben bleibt beschädigt; niemand kann die zu Tode Gequälten ins Leben zurückholen; es gibt Formen der Zerstörung sozialer Beziehungen und Lebenswelten, die irreversibel sind, so dass alle Anstrengungen zur „Bewältigung“ dessen, was erfahren wurde, an der Endgültigkeit der angerichteten Zerstörung scheitern. Manchmal gelingt es nur noch, das Geschehene mit den Mitteln der Kunst zur Darstellung zu bringen – in der Hoffnung, dass sich das, was sich nicht mehr diskursiv vermitteln lässt, dem Adressaten auf andere Weise erschließt.

Nur zögerlich lassen sich angesichts einer Wirklichkeit, die sich von außen vielleicht nur in dieser Weise der Präsentation angemessen erfassen lässt, Wörter wie „Wiedergutmachung“, „Entschädigung“ und „Rehabilitierung“ zur Bestimmung dessen verwenden, was um eines Mindestmaßes an Gerechtigkeit willen den Opfern geschuldet ist. Je später das Bemühen darum und je schwerwiegender die erlittenen Demütigungen, desto geringer sind die Möglichkeiten, den Opfern Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen. Ihre – wenn auch späte – Rehabilitierung und Leistungen materieller Wiedergutmachung können jedoch ein Weg sein, die Würde der Opfer ein Stück weit wieder aufzurichten, das erlittene Unrecht anzuerkennen und die Auswirkungen wenigstens zu lindern. Dem Versuch einer Wiedergutmachung kann daher hinsichtlich seiner kulturellen und gesellschaftlich-politischen Dimensionen sogar eine höhere Bedeutung zukommen als im Blick auf die unmittelbar materiellen Auswirkungen. Auch verschiedene Weisen des Bemühens um authentische Formen kollektiven Erinnerns lassen als solche Akte der Wiedergutmachung verstehen.

Darüber hinaus bedarf es eines länderübergreifenden Konsenses darüber, dass hinreichende Hilfsangebote für solche Menschen bereitgestellt werden müssen, die mit der Last ihrer Erinnerungen auch heute kaum leben können. Unter Traumatisierungen infolge erlittener Verfolgung, sowohl der eigenen Person wie von Nahestehenden aus dem Familien- und Freundeskreis, leiden weltweit Abermillionen von Menschen. Es geht nicht an, die persönlichkeitszerstörenden Folgen ihres individuellen Schicksals nur zu beklagen, die Betroffenen aber mit ihrer Situation allein zu lassen. Auch wenn es keinen risikofreien Weg aus erlittenen Traumatisierungen geben dürfte, so erscheint es als eine elementare Forderung der Gerechtigkeit, den Umfang der Hilfsangebote über das heutige Maß hinaus zu erweitern. In ihnen müssten sich „geschützte Räume“ eröffnen, die den Betroffenen dazu helfen, ihre inneren Schutzmauern, die oft notwendig wurden, um die Bitterkeit über erlittenes Leid ertragen zu können, allmählich und behutsam abzubauen. Oft werden erst dadurch das Zulassen der eigenen, lange verdrängten Trauer die Auseinandersetzung mit ihr und das Annehmen von Zuwendung und Trost ermöglicht. Hierbei geht es nicht um die illusionäre Absicht, die seelischen Wunden umfassend zu heilen; das Ziel ist überaus bescheiden. Die Betroffenen sollen einmal sagen können: „Ja, ich war ein Opfer, aber letztlich haben mich die Verfolger nicht besiegt. Es ist Vergangenheit, ich habe noch ein Leben danach.“3

Auch für Prozesse der Aussöhnung bedarf es solcher „geschützter Räume“, in denen das Risiko tragbar wird, sich darauf einzulassen – für Täter und Opfer. In ihnen wäre nicht sofort nach konkreten Versöhnungsschritten Ausschau zu halten, sondern es müsste zunächst darum gehen, den Opfern die Annahme ihres Schicksals etwas zu erleichtern. Viele von ihnen streben nicht unmittelbar nach Versöhnung mit den Tätern, sondern wollen zunächst zu sich selbst zurückfinden können. So dienten solche „geschützten Räume“ zuerst dem Versuch, die Opfer aus der Isolation zu befreien, in die sie nicht selten geraten sind. Dies könnte ihnen dazu helfen, mit der Zeit auch auf ehemalige Täter wieder zugehen zu können.

Einer der schwersten Wege zur Versöhnung ist es, Opfer, die auf unterschiedlichen Seiten standen, als Gewalt in ihr Leben einbrach, zu gemeinsamem Trauern zu bewegen. Deswegen steht insbesondere dieser Versuch, zu einer Aussöhnung zu gelangen, in der Gefahr einer Grenzüberschreitung; gerade hier darf man nichts erzwingen wollen und kann es vermutlich auch gar nicht. Die Legitimation, über einen solchen Weg nachzudenken, ergibt sich vielmehr nur von authentischen Berichten her, dass Begegnungen im Zeichen solcher gemeinsamer Trauerarbeit tatsächlich möglich sind – trotz ihres überaus schmerzvollen Charakters. Wenn aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten Vertriebene mit denen wirklich reden können, die heute – selbst aus ihrer ostpolnischen Heimat vertrieben – in den Häusern ihrer Kindheit wohnen, und wenn das beiderseits empfundene Leid endlich doch zur Sprache kommen kann, so verschwindet zumeist jeder etwa verborgene Wunsch, die Geschichte einen anderen Verlauf nehmen zu lassen, und obsiegt die gemeinsame Sorge, dass den Kindern dasselbe Los erspart bleiben möge.4 Es dürfte kaum möglich sein, die Bedeutung dieser Erfahrungen für Frieden und Versöhnung zu überschätzen.


Fußnoten:


  1. Bundespräsident Richard von Weizsäcker, Rede im Deutschen Bundestag am 8. Mai 1985 (Text u.a. in: http://www.nibis.ni.schule.de/~rs-leer/gesch/ge0047.htm). ↩︎

  2. Zit. nach: Sabine Grabowski, Vom „dicken Strich“ zur „Durchleuchtung“. Ansätze der Vergangenheitsbewältigung in Polen, in: Osteuropa 48 (1998), S. 1015-1023, hier S. 1017. ↩︎

  3. Aus einem Gespräch mit Norbert Gurris, damals Psychotherapeut im Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer, veröffentl. im 4. Tätigkeitsbericht der Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Sachsen-Anhalt, Magdeburg 1998, S. 108-114, hier S. 113. ↩︎

  4. Beispiele hierfür finden sich in einem Sammelband, der Ergebnis eines deutsch-polnischen Projekts ist, worin Bewohner der heutigen polnischen Westgebiete und Einwohner der vormaligen deutschen Ostgebiete einander die je eigenen Biographien erzählten: Hans-Jürgen Bömelburg/Renate Stössinger/Robert Traba (Hrsg.), Vertreibung aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern sich. Olsztyn, Osnabrück 2000. ↩︎