Wenn wir hassen, verlieren wir, wenn wir lieben, werden wir reich

Das Leben der Zigeunerin Philomena Franz (Porträt)
aus OWEP 1/2002  •  von Michael Albus

Der Ort, in dem Philomena Franz heute in Deutschland wohnt, heißt Hoffnungsthal, in der Nähe von Köln.

Wenn Frau Franz spricht, schauen ihre dunklen Augen oft an mir vorbei. Aber manchmal durchdringen sie mich. Dann muss ich daran denken, in welche deutsche Augen sie schon geschaut haben. Als sie nach Auschwitz transportiert wurde, war ich gerade ein Jahr alt. Ich denke: Haltet mich für entschuldigt! Und doch spüre ich eine dunkle Last auf mir liegen.

Mal spricht sie ganz leise, fast erstirbt ihre Stimme, dann wird sie wieder laut und deutlich. Einmal schreit sie fast. Aber sie ist ohne Hass. Man muss es wiederholen, weil man es fast nicht begreifen kann: Sie ist ohne Hass. Bei ihr hat die Liebe den Tod besiegt.

Geboren ist sie am 21. Juli 1922. In Deutschland. Im „Oberland“. Das ist die Gegend um Meßkirch, Sigmaringen herum. Altes Zigeunerland. Eine sanfte Landschaft, mit Hügeln, Tälern und Wäldern, hinter denen sich auch heute noch verschlafene Dörfer verstecken.

Glückliche Kindheit

Als Kind führte Philomena Franz mit ihrer großen Familie ein richtiges Zigeunerleben. Mit allem Drum und Dran. Mit Pferden und Wohnwagen. Man reiste meist im oberen Donautal umher.

Die Franzens waren keine armen Leute. Sie hatten einen Küchenwagen, einen Schlafwagen und einen Salonwagen. Und zehn, zwölf, ja manchmal fünfzehn Pferde.

„Am schönsten war es auf dem Pferdemarkt“, erzählt sie. „Dort war es bunt und herrlich. Da waren auch die jüdischen Viehhändler und die Bauern. Es wurde gefeilscht und gehandelt. Man traf sich mit anderen Sinti. Die Bürger haben uns dort nicht ,Zigeuner‘ nachgerufen.“

Philomena Franz hatte noch acht Geschwister: Theresia, Luise, Fritz, Albert, Johann, Georg, Harry und Ruth. Überlebt hat nur ein Bruder, der deutscher Soldat war.

Und die anderen?

„Die sind alle vergast worden.“

Nasen messen, Zwangsarbeit

Die schöne Kindheit dauerte nicht lange.

„Das fing sofort 1933 an. Sehr bald hat man uns verkündet, dass wir keine Arier sind und dass wir uns nicht mit Deutschblütigen mischen dürfen. Sonst kämen wir ins Lager. Sie haben uns die Nasen gemessen, die Stärke der Haare, die Hautfarbe vermerkt. Den Gang haben sie auch festgestellt, damit man einen Sinti schon gleich am Gang erkennt. Dann hat man uns die Pässe abgenommen. Die Bevölkerung wusste das schon. Aber nicht alle waren gleich abgeneigt. Es gab auch in dieser Zeit einige wirkliche Menschen, die das erkannt haben, die aber machtlos waren.“

Philomena Franz wurde in Bad Cannstatt bei Stuttgart, wo jedes Jahr auch heute noch ein großes, fröhliches Volksfest stattfindet, zur Zwangsarbeit verpflichtet.

Dann, eines Tages, erschienen die Täter.

„Ich bin frühmorgens weggegangen. Wir mussten um sechs Uhr anfangen in der Fabrik. Ich stand gerade am Fenster, habe ein wenig Luft geschnappt. Da sehe ich unten die Männer. Ein Schock. Ich wusste in diesem Augenblick: Die holen dich jetzt. Handschuhe aus, Kopftuch ab. Dann stieg ich in das Auto ein. Ich hatte noch meine Arbeitskleider an. Mehr tot war ich als lebendig. Es ist sehr schwer, die Gefühle zu beschreiben. Es war so grausam, so maßlos traurig ...“

Acht Tage lang war Philomena Franz in einem Gefängnis in Stuttgart. Einen Kontakt mit daheim gab es nicht mehr. Nie mehr. Die junge Frau war jäh aus der Welt herausgerissen worden. Vogelfrei.

Viehtransport

Vom Bad Cannstatter Viehverladebahnhof ging es dann ab nach Auschwitz. Wie bei einem richtigen Viehtransport stand der Name „Auschwitz“ mit Kreide auf den Waggons.

Etappenweise verlief die Fahrt bis Dresden. Philomena Franz weiß heute nicht mehr, wie viele Stationen es wirklich waren. Jeden Tag starben einige oder wurden von den Aufsehern einfach erschlagen.

„Ich war nun in dem Waggon. Ab und zu kam ein kleiner Lichtstrahl durch die Ritzen. Und dann hörte ich immerzu dieses Rattern und Sausen. Ich schloss die Augen ...“

Der Aufpasser

Im Viehwaggon saß auch ein Aufpasser. Auf einem Stuhl, relativ bequem. Er aß, trank Bohnenkaffee, rauchte seine Zigaretten. Die Gefangenen konnten nur ohnmächtig zuschauen, wie er mächtig dasaß.

„Da hab' ich mir gedacht: Lieber Gott, was hast du bloß geschaffen, irgend etwas ist da falsch gelaufen. Ich habe wirklich gedacht, dass unserem Herrgott ein Fehler unterlaufen sein muss. Dass er solche Menschen geschaffen hat.“

Ab und zu wurde der Transport angehalten. Meist an abgelegenen Plätzen oder auf Nebengleisen. Menschen liefen vorbei. Sie haben es gesehen, was da geschah. Sie konnten das Wort „Auschwitz“ lesen, Philomena Franz kann es bezeugen: „Die sind vorbei gegangen, die haben es gesehen, haben die SS-Leute angelächelt, haben gegrinst, ,Heil Hitler‘ gegrüßt. Und das war für die gar nichts. Dass man auch nur eine kleine Regung gesehen hätte, nichts dergleichen!“

Gegen das Vergessen

Auch heute noch und immer bleibt Auschwitz eine Möglichkeit des Menschen. Auschwitz ist in uns. Was muss noch geschehen, damit wir das begreifen?

Was da geschah, das war kein einmaliger Unfall der Geschichte, kein politischer Zufall.

Bald sind die Mörder ausgestorben. Aber noch leben einige unter uns. Das Ganze ist ja nicht nur ein Streit der Professoren. Es ist auch ein Streit bei vielen Bürgern. Während die Älteren streiten, beginnen die Jungen immer mehr zu vergessen.

Deshalb geht Philomena Franz in die Schulen, in Säle, auf Lesungen. Sie klagt nicht, sie erinnert:

„Ich bin übrig geblieben aus der Hölle. Ich habe noch eine Pflicht zu erfüllen. Ich möchte noch so viel vermitteln, wie ich kann. Ich habe eine Verantwortung dafür, weil ich in die Abgründe der menschlichen Seele geschaut habe. Gott hat nur gewollt, dass ich überlebt habe, damit ich es vermitteln kann.“

Dunkle, abgründige Nacht des Leidens und der Schmerzen

Es war 1943, als sie nach Auschwitz transportiert wurde. Sie war eigentlich kein Mensch mehr. Sie war eine Nummer, ihr Name war ausgelöscht. Sie hieß Häftling Z (wie Zigeuner) 10550. Aber Auschwitz war noch nicht ihre letzte Station. Danach war sie noch in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Oranienburg.

Sie hat dort fast alles erlebt, was man in einem deutschen Konzentrationslager erleben musste: verschiedene Arten der Folter, Dunkelhaft, Scheinhinrichtung. Sie versuchte auch zu flüchten. Der Versuch misslang. Alles noch viel schlimmer.

Der Hundekuchen. Eine von vielen Geschichten

Wie andere Häftlinge auch, so musste Philomena Franz in einem Steinbruch große Steine schleppen in der Nähe eines Lagers. Oft musste sie zusehen, wie dort von den Aufsehern einfach ein Mensch mir nichts dir nichts erschlagen wurde. Einfach so. Es war der alltägliche und allnächtliche Tod. Und zu allem kam noch der quälende Hunger hinzu.

„Ich erinnere mich an eine Szene, die vergesse ich nie in meinem Leben. Da war bei einer Steingrube eine Baracke mit Hunderten von deutschen Schäferhunden. Und an dieser Baracke stand eine große Tonne mit Hundekuchen. Eines Tages war der Deckel, der darauf lag, ein wenig verschoben. Man konnte die Hundekuchen gut sehen. Da hat sich der Hunger wieder geregt. Wenn wir vorbei marschierten, schauten wir mit sehnsüchtigen Blicken dorthin. Wenn man nur ein wenig zur Seite gelangt hätte, dann hätte man ein Stück nehmen können. Aber wir waren auch hier machtlos. Denn oben standen ja schon die Posten mit ihren Maschinengewehren bereit.

Es waren aber auch Kinder da, die noch keinen Verstand hatten, die die Gefährlichkeit dieser Situation nicht abschätzen konnten. Da geschah es: Eines der Kinder sprang aus der Reihe. Ich wollte es noch zurückhalten. Aber es war zu spät. Das Kind schnappte da hinein. Der Posten schoss sofort von oben herunter, und das Kind fiel von den Schüssen zerfetzt hin. Vieles kann ich fast nicht mehr erzählen. Es nimmt mich zu sehr her.“

Ein Ende, ein Anfang

Kurz vor Kriegsende 1945 gelang Philomena Franz dann doch noch die Flucht. Mit viel Glück. In der Nähe von Wittenberge an der Elbe. Sie fand bei einem guten Menschen Zuflucht für ein paar Tage.

„Ein paar Schüsse hat man gehört. Und dann kamen Soldaten und haben an die Tür geklopft. Ich habe einfach die Tür aufgemacht ... Die Russen haben ja auch wahnsinnig viele Menschen verloren. Ich habe das gesehen. Ich weiß, wie viele Leute auch von denen verschleppt worden sind. Und genauso behandelt worden waren wie ich. Dann kam der Russe herein, schaute vorsichtig ... Ich zeige ihm die Nummer 10550 auf meinem Arm. Und er nimmt mich richtig in die Arme, weint wie ein Schlosshund. Ich habe auch geweint. Er hat mich an sich gedrückt. Schließlich kamen die anderen Soldaten alle hinterher. Ich konnte ein paar Brocken Russisch, weil ich ja in den Lagern mit vielen Russinnen zusammen war.“

Frau Franz blieb noch 14 Tage an diesem Ort. Der Krieg war zu Ende. Der russische Kommandant gab ihr die notwendigen Papiere mit der Bemerkung, dass ja jetzt wohl ein neues Leben für sie beginne.

Für sie war es aber nicht der Augenblick des Glücks.

„Ja, dann stand ich da. Da kam mir zuerst einmal die Frage ins Bewusstsein: Wo sind meine Leute? Wer lebt noch? Lebt meine Mutter noch? Lebt mein Vater noch? Jetzt bin ich allein. Wildfremd stand ich da. Ich habe mich verloren gefühlt.“

Die Russen haben sie gut gepflegt und wieder auf die Beine gebracht. Aber, was heißt da: auf die Beine gebracht?

Philomena Franz war nur noch ein Schatten ihrer selbst. Dürr und ohne Haare. Als die schlimmste Schwäche überwunden war, brachten sie die russischen Soldaten über die Elbe zu den Amerikanern.

Von dort gelangte sie dann über verschiedene Stationen nach Bamberg. Aber eigentlich reiste sie nur durch ein zerstörtes Land, um nach ihren Angehörigen zu suchen, nach den vielen Mitgliedern ihrer großen Familie.

Wer weiß, wie eng, wie tief gerade in einer Zigeunerfamilie der Zusammenhalt ist, der kann den Schmerz von Philomena Franz ein wenig ermessen, als sie nach und nach erfuhr, dass fast alle umgekommen waren.

Frau Franz hat dann nach allem, was geschehen war, noch die Kraft und die Liebe gehabt, zu heiraten und fünf Kindern das Leben zu schenken. Ihre Namen: Romani, Roska, Peter, Rinaldi, Toska. Jetzt hat sie schon große Enkel. Ihr Mann starb früh.

Wer versöhnen will, muss erinnern

Philomena Franz wird nicht müde, die Erinnerung zu pflegen. Sie weiß gut zu unterscheiden. Pauschale Urteile gibt es bei ihr nicht. Erinnerung ist für sie der Boden, auf dem Versöhnung wachsen kann. Sie wird nicht müde, obwohl gerade sie Gründe genug hätte, müde zu sein.

Immer wieder sagt sie den Satz: „Wenn wir hassen, verlieren wir, wenn wir lieben, werden wir reich.“

Im vergangenen Jahr wurde Philomena Franz mit dem Preis der Europäischen Bewegung „Frauen Europas – Deutschland 2001“ ausgezeichnet. Späte Ehrung.

2002 wird Philomena Franz 80 Jahre alt.